Der weite Weg zurück

[Harold Radbruch]

Alles dreht sich. Der alte Mann erwacht aus seinem Rausch.
Die Wellen schlagen hoch, höher als Häuser und alles wankt und schwankt. Sein Herz beginnt die Pochen, dass er den Puls noch im Hals spürt. "Was, wo bin ich?" Einige Sekunden vergehen, da sagt ihm der Milizrekrut Bajards Pyk "Freihafen Bajard".

Der Blick des alten Mannes klart auf. Er ist nicht auf seinem Schiff. Das Schwanken und Drehen hatte einen anderen Ursprung: Die Schnapsflasche, welche er umklammerte, als er auf der Bank am Lagerfeuer eingeschlafen war. Für einen Moment überkam ihn eine tiefe Trauer, doch vermochte der Alte sie nicht zu zeigen. Er war nicht auf seinem Schiff. Er war in Bajard. Und er war kein Käpt'n mehr. Ständig stellte er sich als Käpt'n Radbruch vor, doch was ist ein Kapitän ohne sein Schiff? Nichts. Und bis heute konnte er den Verlust nicht verkraften.

Den Weg zur Herberge, zu seinem Bett, bekam er gar nicht mehr so richtig mit, auch wenn die kalten Beine bereits schmerzten. Der Blick zur Schnapsflasche und die runzelige Hand umgreift sie fest. Feucht die seine Augen, wird auch der Boden. Die Flasche entleert sich und Harold pfeffert sie ins Gebüsch. "Ich brauch' dich nich'! schnauft der alte wütend. Die Schritte tragen ihn hoch in sein Zimmer, wo er nach einiger Zeit auch schon einschläft, während das Zimmer sich dreht.

Der nächste Morgen war nicht weniger verkatert als die anderen, doch diesmal begann er nicht mit dem Griff zur Flasche, sondern zum Rasiermesser. Der Alte wusste nicht, ob er es wirklich tun wollte und seine Hand war wegen des jahrelangen Suffs zittrig, doch vorsichtig setzte er die Klinge an und lies sie über die Haut gleiten, als er den Bart abrasierte. Er musste etwas ganz dringend ändern, wenn er aus diesem Loch entkommen wollte. Die Barthaare rieseln zu Boden, und kurz darauf Locken seines ungewaschenen Kopfhaares. Das Wasser der Waschschüssel färbte sich langsam dunkler, als er sich darin wusch. Doch nach einiger Zeit erkannte er sich im Spiegelbild des Beschlagenen Fensters kaum wieder: Ein anderer Mann. Der Anfang des weiten Weges zurück in ein lebenswertes Leben.

Von einer Wäscheleine klaute er sich im Morgengrauen noch saubere Kleidung, dieses letzte Gaunerei musste sein.
Nach einiger Zeit wird das Zimmer des Mannes in der Bajarder Taverne leerstehen. Würde sich jemand nach dem Käpt'n bei der Wirtin erkundigen, dann erzählte Sie Ihnen, der alte Mann hätte bei der Werft in Adoran angeheuert und dort einige Wochen gearbeitet, sich verdient gemacht. Sie hätte es selbst kaum geglaubt, aber er hat seine gesamte Zeche beglichen, also wird es wohl stimmen. Danach sei er mit einem der Schiffe auf See gefahren, nicht als Käpt'n aber als Küper. Sogar das letzte Bier, welches auf's Haus gehen sollte hat er abgelehnt und gemeint, vielleicht würde er eines Tages als Käpt'n wieder in Bajard anlegen, wenn die See es gut mit ihm meine. Ob das letzte Seemannsgarn ist wisse sie nicht, aber er habe für Costa und Pyk einen Brief liegen gelassen.