Der Reif des Toten

[Cora Codaira]

Der Reif des Toten

.. eigentlich kannte sie dieses Tunnelsystem gut. Hier, wo sich diese Wesen aus der Urzeit der Schöpfung verkrochen, Trolle und Zweiköpfe. Tumb waren sie, gelegentlich ein wenig verschlagen, doch so schwerfällig, dass sie sich mit ihrem schnellen, präzisen Bogen kaum vor ihnen fürchten musste.
Hier, im vorderen Teil der Tunnel fühlte sie sich sicher. Ein paar wohl gezielte Pfeilschüssen hatten die zwei, drei dickbäuchigen Kerle vertrieben und aus der Ferne hörte man noch ihre ungelenken Schritte und ihr Gegrunze.
Tiefer in das Tunnelsystem traute sie sich nur ungern alleine vor. In letzter Zeit waren neue Wesen in den Tunneln aufgetaucht. Kleine, flinke Wesen, fähig allerlei dunkler Magie, die einem dazu noch aus dem Hinterhalt auflauerten – Alatar gewann an Macht auf dieser Welt. Doch wenn man auf sich selbst und seine Fähigkeiten vertrautet, dann soll er doch an Macht gewinnen, dachte Cora trotzig.

Erst einmal eine kleine Rast einlegen, beschloss Cora. Zwei Fackeln zusammengelegt, ergaben schon ein kleines Lagerfeuer – ein paar Schluck Wasser und etwas gebratenes Fleisch, dann würde sie aufbrechen in die Tiefen der Tunnel.
Es war still jetzt, das Grunzen der Dickbäuchigen war verstummt, das Feuer knisterte ganze leise. Plötzlich – Cora zuckte auf – ein seltsam schleifendes Geräusch! „Da! Schon wieder!“
Cora nahm eine der Fackeln, stand auf und leuchtete umher. Das Licht fiel auf das feuchte Mauerwerk der Tunnelwände, ein wenig Unrat und in einiger Entfernung die schon leicht nach Verwesung riechenden Überreste eines weniger Glücklichen. Die Beine waren ihm irgendwie abhanden gekommen und auf dem Torso klaffte eine große blutige Wunde, Fliegen schwärmten darin… kein schöner Anblick, doch Cora hatte schon schlimmeres gesehen. Der Tod auf dem Schlachtfeld war niemals schön!

Da!.. Da! Da war wieder! Und jetzt sah sie es auch – ihre Augen öffneten weit sich in ungläubigem Entsetzen: der Torso!....er kroch auf sie zu! Die Fliegen stoben von ihm auf und der Verwesungsgeruch nahm deutlich zu.
Cora sprang zurück!

Doch ihre Neugierde obsiegte. Hoch die Fackel über den Kopf haltend bewegte sie sich einen kleinen Schritt auf den verstümmelten Leichnam zu. Wieder rutsche er ein paar Zentimeter auf sie zu, eine schmierig-glänzende Spur auf dem Höhlenboden hinterlassend.
„Da!.. Was war denn das?“ deutlich sah man ein silbriges Aufblitzen aus einer der Augenhöhlen.
„Du bist tot, tot, tot!“, Cora schrie auf… und ließ die erhobene Fackel auf den Torso niedersausen. „TOT, TOT, TOT!“.. immer wieder und wieder schlug sie zu voller Ekel.
Einige der vermoderten Kleidungsreste fingen Feuer. Bäumte sich der Torso etwa auf? Bald stand der ganze Leichnam in Flammen. Rauch stieg auf und trieb Cora zurück, der beißende Geruch verbrannten Fleisches verbreitete sich.

Plötzlich – „kling“ – vernahm Cora ein leises metallenes Geräusch – etwas kullerte vor ihre Füße. Nach unten leuchtend, nahm sie einen kleinen silbrig schimmernden Reif wahr. Unschlüssig bücke sie sich und hob den, noch fast heißen Reif mit zwei Finger hoch. Den Reif hin und her drehend, erschien im flackernden Licht der Fackel ein feines Muster auf der Oberfläche des Reifes, gleich den Richtungen des Windes – eine Windrose?
„mmmh“., murmelte Cora und steckte schließlich den Reif in die Tasche. Was immer das sein mochte, vielleicht war es ja verflucht, oder vergiftete, dieser Reif des Toten, sie würde es von einem dieser Zauberknacker untersuchen lassen ….