Nur ein Mensch - Heulen im Mondschein.

[Shaja]

Das unglaubliche Heulen des Rudels trieb eine Gänsehaut auf Shajas Arme. Es brach sich an den nahen Bergen und sie konnte nicht ahnen wie weit man es hören würde. Vieleicht bis Clansland, vieleicht weiter.

Sie spürte wie ihr Puls schneller schlug. Die Urtümlichkeit, die Kraft ihrer Gefährten war von solch einer berauschenden Gegenwart, dass sie für diesen Moment die vergangenen Monate in den Reihen des Clans praktisch vergessen hatte.

Shaja hatte sich eine Auszeit gegönnt. Lange war sie mit Dingen beschäftigt gewesen, die sie früher nicht gekümmert hätten. Alles was sie für das Zusammenleben mit den Wölfen hatte wissen müssen, war vorhanden, und nie hatte sie geglaubt etwas ändern oder perfektionieren zu müssen.

Der Hirsch der am Vormittag nach ihrem Bogenschuß schlichtweg auf der Stelle zusammenbrach, noch bevor die Tiere die Hatz eröffnen konnten, hatte ihr deutlich gezeigt, daß sich etwas geändert hatte.
Früher hatte sie solche Dinge einfach verkürzt, die Jagd eingeleitet oder beendet, aber das Rudel hatte Anteil daran und sicher meist die Hauptarbeit erledigt.
Aber ein Schuß aus dieser Entfernung und mit solcher Präzision ? Der Hirsch hatte keine Ahnung gehabt was ihm die nächsten Sekunden bringen würden, bevor er kraftlos das Zeitliche segnete.
Einwandfreier Blattschuss.

Die Wölfe hatten nicht das Gefühl gehabt, etwas erlegt zu haben. Als wäre er Aas umschlichen sie den Kadaver. Shaja beschloss sich zurückzuhalten. Sie würde nur noch im Notfall zu ihrer Fernwaffe greifen.

Aber nun, hier im Halbdunkel, unter dem halb wolkenverhangenen Mondschein, war das vergessen. Sie waren eins, wie früher, und alle Müdigkeit war dahin.
Diese unbändige Rastlosigkeit hatte sie zurückerobert und sie würde mit den Tieren ziehen, ihr Lager teilen, toben, jagen, die Tage vergessen, sich einfach dem Treiben hingeben.

Und das alles ohne zu sprechen. Welch Gnade nur man selbst sein zu müssen, ohne Missverständnisse, Schönfärbereien, Lügen, falsche Rücksicht, Erwartungshaltungen, Zwänge, Kränkungen.
All die Dinge, die Menschen zu dem machten, was sie waren.

Auch wenn Shaja es gern leugnete oder verdrängte. Sie war eine von Ihnen. Ihnen, diesen Menschen.

"Menschen", das waren in Shajas Kopf immer die Anderen gewesen.

Aber sie spürte den Ruf der Natur, fühlte sich hingezogen zu dem ein oder anderen Mann, den sie in letzter Zeit kennengelernt hatte.
Sie hatte mit dem seltsamen Wust von Gewohnheit, Neigung und Gefühl zu kämpfen. Zuviele Vorstellungen, Vorurteile, Regeln. Der Mischmasch aus ihrer Welt und der der Menschen. Der Suche nach einer Ordnung, die sie begreifen konnte.

Kaum einer, der sie wirklich verstand, der ihre Art zu leben mit ihr teilen würde. Der sich ein Bild von ihrem Denken machen konnte, der sich wirklich mit Wölfen auskannte und es nicht nur glaubte.
Abweisend mußte sie auf viele wirken, schroff, hart, sonderbar, oftmals naiv und zu zutraulich, befremdlich.
Sie hatte gelernt, dass eine Rudelführerin nicht unbedingt den Vorstellungen der Menschen von einer Frau entsprach.

Und obwohl dieser wunderbare Abend, fernab in der Wildnis, alles barg, was ihr Herz höher schlagen lies, verdrängte sie mit dieser Sucht, dem ewigen Schrei nach Leben, etwas wichtiges.
Sie verdrängte die fern scheinende Idee einer Angst. Einer Angst vor Einsamkeit, die sie vieleicht überhaupt erst seit den letzten Monaten realisieren konnte.