Jeder ist willkommen!

[Alev Wikrah]

(16)

"Das große Theater von Oklahoma ruft euch!
Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer!
Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns!
Jeder ist willkommen!
Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann!"
Amerika, Franz Kafka


Es war ein freundlicher Sommertag. Alev saß mit gekreuzten Beinen auf dem äußersten Pfahl der Holzbuhne, schnippte Kieselsteine ins Meer und blinzelte in die Mittagssonne. Seit einer Weile beobachtete sie ein Schiff, das Kurs auf die Bucht, an deren Ufern das Dorf lag, genommen hatte. Mit einer schwachen Brise in den Segeln näherte es sich allmählich dem Hafen und hatte inzwischen auch die Aufmerksamkeit des wachhabenden Thyren für sich gewonnen.

Ein Segelschiff und noch dazu ein Segelschiff, das unter einer unbekannten Flagge segelte, war kein alltägliches Ereignis und so war es nicht weiter verwunderlich, dass sich die Clanner am Hafen versammelt hatten, als es endlich angelegte. Um nichts zu verpassen, war Alev über die Pfähle zurück an Land balanciert und versuchte nun einen Platz mit freier Sicht auf das Schiff und seine Besatzung für sich klarzumachen. Vergebens, denn was in jedem Rudel galt, galt auch hier: Der Reihe nach.

Die Welpe beobachtete also von den hinteren Reihen wie das Schiff mit dem Anleger vertäut und die Besatzung vom Jarl und den Obersten des Clans begrüßt wurde. Es dauerte nicht lange, da trug die Mittagsbrise ein heiteres Lachen über den Steg ins Dorf und unter allgemeinen Schulterklopfen verließen die Thyren mit den Besuchern den Hafen in Richtung der Großen Halle.

Es waren Menschen von Gerimor, Händler aus Lichtenthal und sie brachten mit ihren Waren auch Neuigkeiten auf die abgelegene Thyreninsel.

*
Als am Abend ein Großteil der Ware gelöscht und neue Waren an Bord des Schiffes verschnürt waren, entfachten die Thyren ein großes Feuer. Alev nagte an einer Keule, trank Metmilch mit extra Honig, lauschte den Geschichten und hörte von Namen, die ihren inzwischen verblassten Erinnerungen neue Konturen verliehen. Ihr wurde schwer ums Herz. Das Rudel, dem sie einst vertraut hatte, Thyren aus Fleisch und Blut - ihre Freunde - waren zu Gestalten in Geschichten geworden. Sie tauchten wie Gespenster in ihren Träumen auf, wie auch sie noch in den Träumen der Thyren von Wulfgard spukte - es war ein freundlicher Spuk, den niemand zu fürchten brauchte.

*
Alev war am Feuer eingeschlafen und erwachte mit den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages. Das Schiff mit den Händlern aus Gerimor schaukelte am fernen Horizont über die ruhige See zurück in die Heimat und trug auch die Gedanken des Thyrenmädchens einen Augenblick lang mit sich nach Wulfgard, ehe der Anblick eines Aushanges, den die Händler an das Anschlagbrett des Dorfes genagelt hatten, ihre Aufmerksamkeit für sich gewann.

Beworben wurde ein Theaterstück, jeder sei willkommen.

Da packen sie zwei Pranken und ein Thyre hob das Mädchen über seinen Kopf und setzte sie auf seine Schultern.

"Worum geht’s in de Theaterstyk?"

"Kennst dey nuad de Palaver vom bösen Jarl Lavthor, de Verräter? Sey besiegt worden von em Thyrenmädchen und sey Freunde."

"Können wey hin?"

"Ney, sey zu weit weg!"



"Ich bin heute aufgewacht und habe deinen Namen in den Sand geschrieben. Seit ich dich kenne, habe ich das an jedem Strand getan, an dem ich war, aber das war heute das letzte Mal." Wild, Cheryl Strayed


Zuletzt bearbeitet von Alev Wikrah am 05 Mai 2024 08:09, insgesamt 2-mal bearbeitet

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