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Nisa Luminy
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Verfasst am: 22 Okt 2024 13:04 Titel: |
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Zu schnell.
Sie waren zu schnell!
Sie waren zu früh, viel vieeeeel zu früh!
>>Nein<< , flüsterte die schleichende Erkenntnis auf ekelerregend Art und Weise beinahe liebevoll, >> du bist nur einfach zu langsam und viel, vieeeeel zu spät.<<
>>Wer sich auf dich verlässt, wird verlassen.<<
Sie merkte, wie sie zu schluchzen begann, unkontrolliert und hässlich, mit laufender Nase, grunzenden Schluckaufgeräuschen, halbblind und strauchelnd. Dennoch trieben sie die Beine weiter voran, regten zu immer neuen Schritten an und sorgten für das matschignasse „Pitter-patter“ ihrer Schritte in den feuchten Gassen Siebenwachts.
Längst waren sie an die Ecken gekommen, die sie nicht mehr wie ihre Hosentasche kannte und die Kutsche, welche einen der ihr kostbarsten Menschen mit sich gerissen hatten, war den verschwommenen Blicken längst entschwunden.
Die Kutsche, die ihr Nika genommen hatte.
Sie hatte doch geschworen, dass sie auf ihn achtgeben und ihn beschützen würde.
>> Wahnsinnig witzig! Du bist eine graue, kleine Maus. Du kannst niemanden beschützen, nicht einmal dich selbst. Nein, dazu braucht es Menschen wie Nika, die sich auch noch mit deiner Schwäche befassen müssen. >>
Das… war leider wahr.
Nachdem Fiete weniger und weniger im Rattennest selbst zugegen sein konnte, hatte er sie irgendwann beiseite genommen und mit leiser, doch eindringlicher Stimme ans Herz gelegt, sich gerade in Nikas Nähe auszusuchen, sich an ihn zu halten und auch ihn zu beobachten. Zwar konnte sie seiner Bitte oder gar Anweisung nicht widersprechen und sie wusste um die brüderliche Freundschaft zwischen den beiden aber trotz alledem weckte die Aussage Staunen und auch Furcht in ihr. Fiete und Tink waren ihre Anker gewesen, ihre Schutzschilder. Doch der Eine war dem Rattennest entwachsen und sie konnte es mehr als nur nachvollziehen, dass er sich aus seiner neuen Freiheit heraus nicht mehr in diese widerliche Abhängigkeit, diesen schmutzigen Käfig, begeben wollte und Tink… Tink war ein Opfer des Käfighandels geworden. Tink war verkauft. Fort.
Somit war es verständlich, dass Fiete ihr riet einem neuen, so hell strahlenden und starken, ungebrochenen Stern wie Nika zu folgen, doch brannte just dieser gefährlich heiß und drohte jene, die ihm zu nahe kamen, mit sich zu reißen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern hatte Tink den Gerüchten um die Wechselbalg Nika Legende nicht geglaubt, doch ihre Warnung war nicht minder eindringlich.
„Nika spielt mit dem Feuer, Maus. Halt dich fern von ihm, so fern wie nur möglich.“
„Wie meinst n das?“, hatte sie genuschelt und von der lieben Freundin einen langen, ernsten Blick erhalten. Die Antwort wiederum war mehr als nur vage und ungenau.
„Das wirst du sehr bald selber herausfinden.“
Und Recht sollte sie behalten.
Mit Fietes Abstinenz und dem Verschwinden mehr und mehr Kinder aus dem Rattennest schien Nikas Feuer gleitender und ungebändigter zu flammen. Nie hatte sie jemanden so gefürchtet und bewundert zugleich. Er bot ihnen allen die Stirn, offen und sogar dann noch mit einem spöttisch-grimmigem Lächeln, wenn er am Boden lag, Blut spuckte und die bulligen Schergen Onkelchens ihm gegen den Magen traten.
„Nur nicht das hübsche Gesicht!“
Tantchens seltsame Ausrufe und scharfschnappende, grotesk fehl am Platz wirkende Instruktionen ließen sie zudem schaudern, denn obwohl sie sich damals noch nicht sicher beantworten konnte, woher diese verdrehte Fürsorge kam, so wusste selbst das kleine Mädchen, dass der Ort, welcher jene Triebe der Rattennestherrin gebar, ein sehr düsterer war.
Kurzum – ja, Nika brannte, verbrannte und hielt sich dennoch nicht von den Flammen fern. Er war zudem ein Einzelgänger, getrieben von Motiven, die keiner zu kennen schien und niemand wagte zu hinterfragen. Was also veranlasste Fiete gerade ihn als neue Bezugsperson, als Vertrauten unter all den Ratten zu benennen? Obwohl sie bald realisierte, dass Fiete auch Nika etwas im Bezug auf sie gesagt haben musste, fühlte sie dann und wann seine Blicke doch mit einem Hauch weniger Gleichmut und gab es manchmal sogar ein knappes Nicken, so dauerte es Monate, bis sie herausfand, worauf Fietes Vertrauen zum Jüngeren fußte und wie weit Versprechen in diesem Bund gingen.
Er, der nach wie vor kaum ein Wort mit ihr wechselte und sie nie länger als zwei, drei Lidschläge in den Blick nahm, bewahrte sie in den folgenden Jahren mehrfach vor grässlichen Schicksalen. Andere Kinder verschwanden. Verkauft, getauscht, verschachert, verschollen. Sie hingegen nicht, sie blieb die unberührte Maus im Nest der Ratten und der einzige Unterschied zu all diesen Kindern war… Nika.
Mit der Realisation dieser Kausalität, welche erst nach weiteren Monaten erfolgte, entstand der Wunsch, dieses unbezahlbare Geschenk doch irgendwie zu abzugelten. Doch wie? Nika zeigte deutlich, dass er auf Schmuseinheiten und Schmeicheleien der Rattennestbewohner verzichten konnte und sie wusste, dass er sie nonchalant abschütteln würde, wenn sie ihn mit dieser Frage belästigen würde. Es blieb nur ein einziger Weg und der war einer Maus durchaus würdig. Sie begann ihm zu folgen, so leise und grau wie möglich und beobachtete das, was sie sah, in der Hoffnung ihre Chance bald ergreifen zu können. Zu ihrem Erstaunen ließ er es zu.
Es dauerte nicht lange, da ließ er sie wissen, dass er um die Maus in seinem Schatten wusste – ohne sie direkt anzusprechen oder zu ermahnen. Kleine Gesten, kurze Blicke, ein kurzes Zucken im Mundwinkel. Alles zur Freude zu Maus. Zu ihrem Bedauern hingegen war er sehr wohl in der Lage sie flink abzuschütteln, wenn er sie gerade absolut nicht in seiner Nähe oder auf seiner Fährte wollte. Manchmal wiederum wirkte es fast so, als spiele er ein Spielchen mit ihr, fordere sie heraus oder stellte sie auf die Probe, um ihre Fähigkeiten ein bisschen zu ergründen. Die Jahreszeiten zogen weiter durchs Land, ertränkten Siebenwacht im Regen, nur um es kurz darauf in sommerlicher Hitze regelrecht zu backen. Abgelöst wurde dies wieder von Regensturzbächen, bis zuletzt der Frost alles in seine eisigen Klauen packte und der belebte Moloch aus vielerlei Gründen wieder leiser wurde. Doch mitten in der Zeit des stillen Sterbens zog er sie eines Abends beiseite und bot ihr den allerersten Auftrag an. Ein Botengang nur, rasch, diskret, keine Fragen und weitere sollten folgen. Nika schien zufrieden mit ihrer Arbeit, bald wechselten sich die Aufgaben sogar ab. Nie waren sie groß, nie epochal oder offen gefährlich, doch konnte sie ihm Arbeit abnehmen und so, zumindest in gewisser Weise, ihr Versprechen halten. Das einzige Mal, dass sie tatsächlich nahe war, den Schwur wirklich zu erfüllen war, als ihr kleiner Dolch seitlich in Tantchens Hüfte drang und für genug Durcheinander sorgte, um sowohl unerkannt wieder zu entfliehen, als auch Nika aus ihren gierigen Klauen zu befreien – diesmal…
Aber offenbar hatte sie sich auf dieser vermeintlichen Heldentat ausgeruht, war nachlässig geworden und jetzt, wo er sie am meisten brauchte, da hatte sie ihn im Stich gelassen. Die Schritte wurden langsamer, die Kutschenradspuren hatten sich längst mit anderen vermischt und die Richtung war nicht mehr ausmachbar.
Verloren, verkauft, verraten, verschwunden.
Derjenige, der sie noch nicht verlassen, der ihr noch nicht genommen worden war.
Nika…
Sie wusste nicht, wie lange sie an der Brücke gesessen und in den gefrorenen Schlick darunter gestarrt hatte. Stunden sicherlich. Vielleicht ein halber Tag? Fietes Geschenke, die warme Wolle, der zu große aber kuschelige Mantel, neue Stiefel waren ihre Rettung und sorgten dafür, dass sie in jener Nacht zumindest der Tod nicht fand.
Dafür eine andere Person, welche sich so lautlos näherte, dass das Mädchen erst zusammenzuckte, als die Gestalt sich bereits neben ihr in die Hocke begab und ebenfalls, so schien es, auf das Wasser blickte, ehe sie zu sprechen begann.
Maus erkannte die Stimme, doch wagte sie nicht den Kopf zu drehen, um die rasch gesprochenen, kurzen Phrasen zu verstehen, sich nicht vom ersten Tageslicht abzulenken zu lassen, denn der Inhalt der Worte raubten ihr den Atem und rissen ihre Augen weit auf.
Als sie Rückfragen stellen wollte, war die Sprecherin… war Cia bereits mit dem Morgengrauen verschwunden, hinfortgeschwemmt vom blutroten Sonnenaufgang.
Geduld war nicht ihre Stärke, schon gar nicht in dieser Situation und doch war genau das die Tugend, an welche Cia immer und immer wieder in den schnellen, gewisperten Anweisungen ermahnt hatte. Mit jedem ihrer Worte hatte sie Recht behalten, Treue bewiesen, Halt gegeben aber nun, wo sie ihn dank Cias Hilfe und dem Beistand der einzigen Person, der sie hinsichtlich Nika vertraute halbwegs in Sicherheit gebracht hatte, da quollen Zweifel auf, ob es zu viel Geduld, zu viel Zeit und Ruhe gewesen war.
>> Viiieeeeel zu spät.<<
„Dreck… Maus, 's sieht verdammt nochmal nich' gut aus.“
Nans Gesicht war bei Nikas Anblick fast so fahl, wie die aschgraue Haut des vermeintlich Geretteten. So oft hatten sie ihn beide schon mit gebrochenen Lippen, Platzwunden, Blut an den Lippen oder gar im Wundfieber erlebt, doch diesmal waren es viele Wunden, grausig viel verlorenes Blut und dann der Bruch.
„Dreck…“, murmelte Nan erneut und auch sein Blick haftete an dem Knochen, der als weißer, spitzer Splitter aus dem blutigen Fetzen mitten im schlanken Bein ragte.
Die Mäuseohren bekamen nur am Rande mit, dass Nan davon sprach noch jemanden zu holen. Eine ganz bestimmte Person, da diese Verletzungen und die Folgen seine Heilkunst um ein Vielfaches überschritten. Er zögerte und sprach dann doch nicht aus, was in diesem Zögern lag: Nan wollte nicht gehen, Nika nicht zurücklassen, weil er nicht wusste, ob er sich in den nächsten Momenten von ihm verabschieden musste.
Er entschied sich und setzte auf diesen Kontakt, griff nach dem letzten Hoffnungsschimmer und ließ sie in der Dunkelheit zurück.
Zum ersten Mal schloss sie den Jungen vorsichtig in die Arme und als sie merkte, dass selbst sein Atem nicht mehr fiebrig rasch, sondern kurz, leise und kaum mehr spürbar ging, war die Verzweiflung wieder ihr einziger Geselle.
>>Viiieeeeel zu spät.<<
_________________ "Lieber eine graue Maus, als ein bunter Hund." |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 05 Nov 2024 01:25 Titel: |
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Wie man dem Kompass der Totenlichter folgt
Ein Wispern, flüsternde Blätter im Sommerwind, tanzend im goldenen Licht. Es gab kein Gefühl und
dennoch war mein Herz gefüllt. Nicht mit Erinnerung, nur mit Sein. Das Mosaik des sich im Wirbel
drehenden und zitternden Laubdachs zauberte stetig wandelnde Muster vor das helle Blau des Himmels.
"Cheol." Süßer Schmerz überspülte mich bei jenem Klang, doch war es kein Leid. Es war jene Grenze,
wenn Sehnsucht und ihre Erfüllung aufeinandertrafen, wenn das Herz einen Schlag aussetzt, jener
seltene, alles einnehmende Augenblick. Er dehnte sich zu einer Spanne ohne Zeit. Ich wandte den
Kopf beiseite. Ihre Silhouette schimmerte gegen das flirrende Gold, gewann nur allmählich an Form
als gönne sie meinem Herzen die nötige Zeit nicht zu zerspringen.
"Mein Liebstes, du bist zu nah." Der Klang ihrer Stimme rührte in mir ein so unerträgliches Vermissen,
dass mir brennende Tränen in die Augen stiegen. Ich wusste nicht, warum. Ich war sicher bei ihr. Es gab
keine Erinnerung und keine Vergangenheit hier. Sanft strich sie mir über die Haare, umfing mich liebevoll
und mildernd. Der Duft von Pfirsichen haftete ihrem Sein an wie eine Aura aus Licht.
Ihre Stimme war leise, flüsternd wie das Rauschen der Blätter über uns. "Wenn du möchtest, kannst
du bei mir bleiben, Nika. Ich vermisse dich und doch schmerzt es mich dich so nahe an der Grenze bei
mir zu haben." Ich sah zu ihr auf. Der Anblick der Tränen auf ihren Wangen zerriss und heilte mich zugleich.
Mutter.
"Es würde mich auch schmerzen dich gehen zu sehen und doch wünsche ich mir nichts sehnlicher als das.
Ich wünsche dir die Welt, die ganze Welt, Cheol."
Ich fühlte wie ihre Liebe sich um mich legte wie ein wärmender Mantel. Weit entfernt, unendlich weit war
eine Zeit gewesen, in der ich unter diesem Mantel gelebt hatte. Die vage Erinnerung an ein Gefühl echote
durch meinen Geist und ließ eine leidvolle Vakanz in meinem Inneren zurück. Bruchstücke ohne Bedeutung
in jenem Allsein in ihren Armen. Segen und Balsam, ihr Duft.
Es war die Ewigkeit. Alles existierte zugleich und zu keiner Zeit. Das Licht, die tanzenden Schatten, ihre
Präsenz. Der Duft von Pfirsichen. Die ganze Welt.
Das goldene Licht verlor an Farbe. Die Blätter tanzten im Grau und stürzten in die Schwärze. Übelkeit überkam
mich, als der Geruch von Blut und Erbrochenem in meine Nase stieg. Es war düster um mich, in den Schatten
schimmerte der Duft von Pfirsichen... "Die ganze Welt", raunte die Dunkelheit.
Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln herab, als Nika erwachte. Das Atmen schmerzte. Halb sitzend, halb liegend neben ihm schlief Maus, den Kopf auf seine Lagerstatt gebettet. Der Blick durch die Kammer offenbarte wenig. Nika versuchte seinen Geist zu sammeln, doch traten nur wenige Bilder aus dem Nebel seiner Erinnerung hervor. Lediglich ein Augenblick war klar in seinen Geist gemeißelt und dehnte sich zur einzigen Wahrheit seines Gedächtnisses. Versprich es mir, Nika, bitte! Du musst es versprechen!
Für mehrere Wochenläufe war Nika ans Bett gefesselt. Seine Verletzungen waren so schwer gewesen, dass es für den Heiler an ein Wunder grenzte, dass er überhaupt überlebt hatte. Neben schlimmen Prellungen, häufig in Verbindung mit aufgeplatzter Haut, hatte er mehrere gebrochene Rippen, eine ausgekugelte Schulter, einen gebrochenen Unterarm, mehrere große Schürf- und Kratzwunden, eine Platzwunde am Kopf, einen offenen Bruch am Unterschenkel, sodass seine Knochen durch die Haut herausgestakt waren, als er gefunden worden war, und all dies in Verbindung mit Nachwirkungen eines betäubenden Gifts, das seine Atmung zu hemmen schien. Der Jugendliche hatte zwei Wochenläufe im tiefsten Schlaf verbracht, bevor er zum ersten Mal zu Bewusstsein gekommen war. Erst zu jenem Zeitpunkt konnte man überhaupt hoffen, dass er überleben würde.
Nika wusste nicht wie und unter welchen Umständen er gefunden worden war, doch schienen Maus und Nan damit in Verbindung zu stehen. Für eine geraume Zeit verblieb er in der Kammer einer Heilstube, zumindest wirkte es wie eine. Onkel kam hin und wieder und fragte ihn nach den Geschehnissen ohne eine Antwort zu erhalten. Tante erkundigte sich, nervös und besorgt. Nika schwieg. Nach einem Mond wurde er von der Heilstube ins Nest verlegt. Er erhielt eine eigene, kleine Kammer. Tante besuchte ihn täglich und las ihm vor. Nika wünschte sich sie würde ihren Mund halten und ihn in Ruhe lassen. Ab und an suchte Sole ihn auf und betrachtete ihn abwägend wie einen Gaul auf dem Pferdemarkt. Seltener schlich sich Maus in seine Kammer und erzählte ihm Nichtigkeiten, etwa vom Wetter oder was es zu essen gegeben hatte (zu der Jahreszeit meistens Weizeneintopf). Doch die meiste Zeit schlief er.
Wie sein Körper gänzlich zerschlagen worden war, war auch sein Inneres zerschunden. Nichts schien sein Ich mehr schützen zu können, alles war zersplittert und gebrochen. Nika spürte, dass sein Verstand an einem gefährlichen Abgrund entlang balancierte. Es fehlte nur ein kleiner Schubs, um ihn über die Kante zu befördern. Fallen war leicht. Jener Sturz würde all sein Bewusstsein dem wilden Hund zum Fraß vorwerfen. Nichts stände mehr zwischen ihm und dem blendend weißen Fleck; – der Wahn würde ihn packen und zerfleischen, befeuert von Wut, gegeißelt von Hunger. Und er würde darin toben und wüten, beißen und schlingen bis sein Inneres völlig ausgebrannt wäre, bis alles keine Bedeutung mehr oder bis man seinen Körper zerschlagen hätte. Der Gedanke an jenes hemmungs- und rücksichtslose, jenes gänzlich selbstvergessene Rasen und Toben, jene Selbstzerstörung erfüllte sein ganzes Sein mit aufgeregter Euphorie, bevor der Schrecken darüber sein Bewusstsein abkühlte.
Der letzte Mond des Jahres war angebrochen. Wie immer in jenen Tagen des Jahres fühlte Nika sich elend und war unausstehlich, hinzukommend zu seinem Geisteszustand und den noch immer nicht gänzlich verheilten Verletzungen und den Schmerzen, die damit einher gingen. Erträglicher machten es ihm die besonders stark wirkenden betäubenden Arzneien und der Alkohol. Bedauerlicherweise war der Nachschub an teurem, aus Aschenfeld importiertem Kornbrand, eine Gabe von Sanna, versiegt, nachdem er sie vor einigen Tagen angeschrien, beschimpft und mit ihrem Buch beworfen hatte. Seither war sie nicht wieder aufgetaucht. Es blieb noch der Kehlenschlitzer, von dem Nan zufällig einige Kisten in jener Kammer eingelagert hatte. Er nahm großzügig von allem, um den Schmerz abzufedern. Immer, wenn sein Geist am Abgrund schlingerte, erhöhte er die Dosis. Die Betäubung wirkte eine gewisse Zeit. Nika fürchtete die Stunde, wenn nichts mehr blieb.
Es war eine jener seltenen Zeitspannen, in denen Nika nur in einem leicht wattigen Gefühl gebettet, doch sein Geist wach war. Noch spürte er die Schwerkraft des Wahns nicht an sich zerren, wenngleich er den Sog erwartete. Von seiner Lagerstatt aus konnte Nika die tanzenden Schneeflocken vor dem Fenster seiner Kammer beobachten. Er hasste den Schnee.
Seine Erinnerungen an jene zwei Tage und Nächte vor beinahe sechs Wochenläufen waren nur in Teilen zurückgekehrt. Mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, was wirklich passiert und was sein Kopf in Krankheit, Wahn und Schmerz ergänzt oder ausgelöscht hatte. Unwillkürlich schoss ihm ein Ausspruch von Onkel durch den Kopf: Es ist nicht wichtig, wer du bist. Entscheidend ist nur, was die anderen dir glauben zu sein. Er wusste, dass die Wahrheit in jenen Worten lag. Was blieb von einem König ohne Insignien, ohne Gefolgschaft, Zeichen oder Erkennen? Gewiss wäre er noch wer er gewesen war und zugleich wäre er dies nicht. Eine Dirne mit einer geschickten Zunge, einem Wortschatz aus Gold und genug Skrupellosigkeit konnte eine Gräfin zu Fall zu bringen. Letztlich war das Wer nicht entscheidend, nur das Wie. Wie wichtig war also das Was? Nika schloss die Augen. Verschiedene Aussagen und Erinnerungen, gleich ob real oder erdacht, begannen sich in seinem Kopf zu überlagern, ein Flickwerk aus Gedanken. In einem Mosaik aus Stimmfarben formten sie sich allmählich zu einer Landkarte, zu einem Wegweiser und Kompass, zu einem Wunsch und Begehren.
Es ist nicht wichtig, was passiert ist. Entscheidend ist nur, was du aus dem machst, was du erhalten
hast. Du bekamst mehr als ein Geschenk, es waren die größten Opfer. Mehr Tote zu ehren. Tote, denen
du schuldest zu leben. Als du selbst, eines Tages.
Es ist keine Schwäche in stiller, vermeintlicher Gefügigkeit verborgen zu bleiben bis man mit geschonter
Kraft an die Oberfläche bricht und all dem mit einem Schlag ein Ende setzt. Es hat keine Bedeutung, ob sie
das wirklich gesagt hatte, erheblich ist nur, dass du es jetzt weißt.
Ich will mein Leben. Ich will alles. Ich will... die ganze Welt.
Als Nika die Augen wieder öffnete, hatte sich etwas von ihm gelöst. Fortan würde er die Opfer an sich selbst auch selbst bestimmen. Der Abgrund war noch da, der Rand nicht fern. Der wilde Hund bellte. Kontrolle brachte ihn zum Schweigen. Nika wurde bewusst, dass er fortan jene Kontrolle nie wieder aufgeben durfte. Alles war zu nah in seinem Inneren und alles, was in ihm lauerte, würde ihn und alles um ihn herum verschlingen, wenn es je die Möglichkeit bekam.
An jenem Abend verzichtete er auf die Medikamente und den Alkohol. Er brauchte einen klaren Kopf, um mit Sole zu sprechen. Entscheidend war nur, was Onkel ihm glaubte zu sein. |
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