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Der lange Weg zurück
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Muireall Laval





 Beitrag Verfasst am: 01 Mai 2020 23:09    Titel: Der lange Weg zurück
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Kapitel 1: Türme
(Lenzing 262)

Von dem, was du erkennen und messen willst, mußt du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit.
Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben.


Friedrich Nietzsche

*


Überwältigendes, weites Nichts lag vor dem Bug des Schiffes. Die Frühjahrsstürme hatten das Meer um Duthaich aufgewühlt, Gischtkronen tanzten über die trüben Wellen, verbanden sich mit einem stählernen Himmel und rasch dahinziehenden Wolken. Es war ein Bild von grauer Kälte, ohne Form oder Kontur. Noch folgten einzelne Möwen dem Dreimaster nach Westen, in der Hoffnung auf die Fangüberreste eines Fischerbootes, doch würden sie alsbald umkehren und zu den Küsten zurückkehren, wenn sie erkannten, dass weder Futter, noch sichere Ruhestätte von dem Schiff zu erwarten war. Stattdessen spaltete das Menschwerk weiter das Wasser und drängte in jene verheißungslose und graue Leere.


Muireall Lavals Blick wandte sich von den letzten, hoffnungsvollen Möwen ab, als sie sich vom Fahrtwasser lösten und umdrehten. Zum Teil wünschte sie sich ihnen folgen zu können, zurück zu ihrer Tochter Niamh, zu ihrem Mann, die sie auf der Insel ihrer Geburt bei ihrer kleinen Schwester zurückgelassen hatte; – Caoimhe.

In all den Jahren des Widerstreits mit ihrer Familie, mit Adhamh van Lilienhayn, in all den Jahren, in denen ihr verblendeter Vater ihr seine Schergen nachgesandt hatte ob der vermeintlichen Kränkung am Familiennamen, war Caoimhe die Einzige gewesen, der sie stets vollständig vertrauen konnte. Ihre kleine, kränkliche Schwester, die kunstvolle Heilerin und geistreiche Alchemistin, die belesene und gelehrte Ärztin, wertlos und schwach in den Augen ihres gemeinsamen Vaters. Adhamh hatte seine ureigene Form der Wahrnehmung. Die beiden älteren Geschwister, Doryan und Muireall, waren im Kindesalter in seinen Augen stark gewesen, körperlich nicht missgestaltet oder mit Mangeln behaftet und waren dennoch nacheinander in Ungnade höchster Erwartungen gefallen. Der älteste Sohn versagte im Kampf gegen seine kleine Schwester und wandte sich den geistigen Lehren zu, jene hochgestiegene Schwester entsagte später dem Familiennamen für einen dahergelaufenen Seefahrer und dies vor der Erhebung zum Ahad, eine Trophäe, mit der sich der Name Lilienhayn nicht mehr würde schmücken können. Hinzu kam ein schwach und krank geborenes Mädchen, kaum imstande einen Dolch zu halten, geschweige denn ein Schwert. Gewiss berichtete man Adhamh van Lilienhayn von der Intelligenz und der Auffassungsgabe seiner Jüngsten, doch hatte er für jene stets nur Geringschätzung und im besten Fall Gleichgültigkeit übrig. Aus eben jenem Grund mied Caoimhe den unmittelbaren Einfluss von Gut Lilienhayn seit sie vor vielen Jahresläufen aus dem Gefolge ihrer Schwester Muireall von Gerimor in ihre Heimat zurückgekehrt war. Es gestaltete sich gewiss schwierig, da der Verwalter von Eilean Duthaich die Insel penibel kontrollierte und überwachte. Wenig geschah dort, wovon Adhamh van Lilienhayn nichts wusste. Dennoch hatte sich der jüngste Spross der Familie dem unmittelbaren Zugriff dauerhaft entzogen und lebte und werkte weiterhin in ihrer rauen Heimat.

Muireall musste schmunzeln. Wie konnte ihr Vater nur an dem Wert und dem offensichtlichen Verstand ihrer Schwester zweifeln, wenn jene sich ihm in seinem Verwaltungsgebiet seit vielen Jahren entzog? Vermutlich aus demselben Grund, warum Adhamh van Lilienhayn selbst niemals weiter im Gefüge des Reichs aufgestiegen war, warum er seine Kinder gequält und geschunden hatte, warum er sie weggeprügelt und bedroht hatte, warum er sie hatte foltern lassen. – Schwäche. Caoimhes Verstand war dem Handeln ihres Vaters voraus, Jeans Schläue war dem seiner Schergen weit überlegen. Trotz des nahen, dräuenden Schattens von Lilienhayn war ihre Familie sicher auf Eilean Duthaich, der schroffen und windumtosten Insel ihrer Geburt.


Langsam wandte Muireall den Blick zurück. Nur ein dunkelgrauer, schattenhafter Strich am Horizont erinnerte noch an das entfernte Land. Jean. Nur sein Name war wie eine glühende Nadel in ihrem Herzen und weckte zugleich ihre Sehnsucht wie ihr Leid.

"Jean, wir haben in den vergangenen Monden so oft darüber gesprochen. Und dann wieder geschwiegen und dann habe ich wieder versucht dir zu sagen, was mich quält. Manchmal hast du etwas dazu gesagt, manchmal geschwiegen, bisweilen gelobt meine Worte ernst zu nehmen und etwas zu ändern. Geschehen ist aber nicht viel." Jean sah sie mit jenem ernsten und stillen Blick an, den er stets hatte in solchen Gesprächen. Noch lag darin nicht die abwehrende Abschottung. "Mon cœur, du weißt, dass ich dir immer loyal war und bin. Ich bin eben ich, ich kann meine Absichten nicht besser ausdrücken als durch mein Handeln." Muireall zog die Brauen zusammen. "Mag sein! Aber dein Handeln sagt mir nichts, nichts! Es ist so als hätte irgendeine Macht in den Körper meines Mannes einen leeren und desinteressierten Geist gepflanzt. Wer bist du? Da ist nicht mehr das Feuer von früher, da ist keine Inspiration, keine Leidenschaft für dein Umfeld. Bin ich Schuld?" Unwillkürlich legte sie sich die Hand auf den Bauch. "Bin ich es, die dich hemmt, brauchst du die Freiheit ohne mich? Bedränge ich dich?" Rasch trat er auf sie zu und schlang die Arme um sie, zog sie an sich und bettete seine Wange an ihrer Schläfe. "Sei nicht albern, Mui. Du weißt wie wenig ich es bereue dir damals gefolgt zu sein. Ich bereue es bis heute nicht, nicht im kleinsten, winzigsten Stück. Wenn ich heute die Entscheidung erneut treffen müsste mit all meinem Wissen der vergangenen Jahre, würde ich genauso handeln und wie damals unerbittlich um dich kämpfen." Eine Weile breitete sich das Schweigen im Raum aus. "Warum tust du es dann jetzt nicht?", durchbrach Muirealls Flüstern jene Stille, "Ich kann das nicht mehr, Jean. Ich kann... ich kann nicht mehr überall die leere Rüstung sein. Früher war ich für alle nur die Ritterin ohne Gefühle, dann eine helle Zeit lang eben diese Ritterin und zu Hause eine echte Person, eine Frau, deine Frau, ein wirklicher, echter Mensch. Ich hatte angefangen zu atmen. Und dann wurde ich wieder nur zum grotesken Abbild, Ahad, General, Mutter, Ehefrau, wer weiß, was noch. Jean, ich ersticke. Ich kann nicht mehr atmen, ich kann... ich kann das nicht mehr!" Jean schloss die Arme enger um sie, Muireall konnte spüren wie er die Brauen zusammenzog, ehe er sehr leise erwiderte: "Je ne t'abandonnerai jamais. Je t’aime de tout mon cœur." – "Je sais." Aber sie verließ ihn.

Muireall erinnerte sich an jenen betäubten Morgen, als sie aus ihrem gemeinsamen Bett gestiegen war. Es regnete. So oder so lag die Wahl nicht bei ihr. Seine Heiligkeit hatte ihr jenen Auftrag auf Amhaich übertragen, sie wusste ihre Familie lieber auf Duthaich als in der ständigen Bedrohung in ihrem Gefolge.

Muireall erinnerte sich an die Worte ihrer Tochter, als sie sie an jenem regnerischen Morgen am Kai in den Armen gehalten hatte. "Du kommst wieder, Maman, zu uns. Bitte bleib nicht zu lang weg, sonst vermiss ich dich zu arg!" Die Worte waren wie ein Schnitt ins nackte Fleisch. Muireall war nie die geborene Mutter gewesen. Doch jenes hoffnungsvolle und kompromisslose Vertrauen in ihre Person offenbarte und trug Niamhs Glauben an alle Ewigkeiten. Nicht die Ewigkeit, die ein Erwachsener sehen oder erahnen konnte. Die Ewigkeit eines Kindes. Sie konnte wenige Herzschläge andauern, Stundenläufe, Tage oder Wochen, Monde, ein Jahr, mehrere Jahrhunderte. "Tha gaol agam ort, Niamh." – "Mise cuideachd, Maman."

Sie war an Bord gestiegen. Ihr Blick lag auf ihrem Mann, ihrem gemeinsamen Kind, ihr Herz verkrampfte sich schmerzhaft. Ihre Miene war ruhig und reglos, wie sie es gelernt hatte, wie sie es gewohnt war, wie man es von ihr erwartete. Für einige Augenblicke ruhte ihr Blick noch auf den beiden. Es würde ihnen gut gehen. Niamhs Augen waren tränenschwer, dennoch starrte das Kind trotzig ihrer Trauer begegnend zum Schiff hinauf. Jeans Miene war ruhig, aber in seinem Blick las Muireall all seine an sie gerichteten Worte. Es würde ihnen gut gehen, wiederholte sie für sich selbst im Geiste.

Dann wand sie sich ab. Keiner konnte sehen wie sie die Faust krampfhaft fest um ihren Schwertgriff schloss. Loslassend, was sie behalten wollte.


*
Man muss manchmal von einem Menschen fortgehen, um ihn zu finden.

Heimito von Doderer


Zuletzt bearbeitet von Muireall Laval am 01 Mai 2020 23:11, insgesamt einmal bearbeitet
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Muireall Laval





 Beitrag Verfasst am: 19 Mai 2020 16:08    Titel:
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Derweil auf Duthaich...



Kapitel 2: An der Kehle
(Wechselwind bis Schwalbenkunft 262)

Die Pflicht ist ein starker Verbündeter, und der Kampf unter ihren Fahnen
verleiht, wenn auch nicht unbedingt Sieg, doch immer Gewinn.

Sophie Verena

*


Energisch schwang Muireall die Zeltbahn beiseite und trat ein. Im Zelt des Heerstabs befand sich lediglich ein großer Tisch, auf dem Karten und Schriftstücke verteilt lagen. Ringsum standen vier Männer und eine Frau, die angeregt diskutiert hatten, nun aber alarmiert die Köpfe zum Eingang wandten. Einige Wimpernschläge verstrichen, in denen sie nur stumm angestarrt wurde, dann löste die junge Frau die Anspannung auf, indem sie auf ein Knie sank. Rasch folgten zwei Männer ihrem Beispiel, der Ritter verneigte sich. Lediglich ein Hauptmann verharrte reglos und starrte sie an wie vom Donner gerührt. Muireall konnte die Fassungslosigkeit auf seiner Miene beinahe greifen, als er tonlos meinte: "Erhabene..." Nur leicht schmälerte sie ihre Augen, woraufhin er wie kraftlos auf ein Knie sackte und den Kopf senkte. Ruhig trat sie an den Tisch und überflog flüchtig die darauf verteilten Pergamente, ehe sie den Anwesenden bedeutete sich aufzurichten. "Des All-Einen Segen, Erhabene. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass Seine Heiligkeit uns so rasch Unterstützung senden könnte. Zumal die Nordfront droht einzubrechen.", richtete der junge Ritter das Wort an sie. "Unser Thema ist nicht die Nordfront", erwiderte die Ahad ruhigen Tonfalls, "Sondern wie diese Insel hier, umgeben von festen Besitztümern des Alatarischen Reichs so lange nicht einverleibt werden konnte." – "Nun, Erhabene, sie liegt in gewisser Reichweite der Küste von Schwarzwasser und nach dem Bürgerkrieg dort... konzentriert die Alumener Marine die Bemühungen erneut auf diese Insel als Sprungbrett und Tor zum alatarischen Festland." Muireall hob den Blick kurz zu dem mittelalten Hauptmann, den seine Uniform als Anführer der Infanterie auswies. Er wirkte selbstsicher, makellos gepflegt, nur mit Mühe vermochte er seine Überheblichkeit zu verbergen. "Ich bin nicht hier für eine Geschichts- oder Geographiestunde, Hauptmann Merltheim, noch für Aussagen, die nur das Offensichtliche widerspiegeln." Überrascht hob der Angesprochene die Brauen. Ihr Kommen war nicht angekündigt worden, weshalb keiner der Anwesenden von ihrem Namen oder ihrer Herkunft wissen konnten. Sie allerdings hatte sich gut vorbereitet. Dennoch entging Muireall auch nicht das flüchtige Schmunzeln auf den Lippen der jungen Frau ob ihrer Worte. "Ich bin Muireall Laval, Ahad des All-Einen und derzeit General der Legion des Panthers auf Gerimor", fuhr sie schließlich fort, "Seine Heiligkeit hat mich hierher befohlen, um die alatarische Armee zu unterstützen und diese seit Jahren andauernde Zänkerei um Amhaich zugunsten des Reichs und zu Ehren des Panthers zu unseren Gunsten zu beenden." Ohne Zögern oder Anzeichen auf ihrer Mimik verschwieg Muireall ihre eigentliche Aufgabe. Hauptmann Merltheim verzog etwas spöttisch die Lippen, doch der junge Ritter nickte sogleich und erwiderte überzeugt: "Seine Heiligkeit hat weise entschieden, wir können Eure Hilfe gebrauchen und Ihr seid uns sehr willkommen, hohe Waffenschwester."

Stundenlang besprachen die Heerführer die Situation. Mehr als der militärische Status gaben Muireall die fachlichen Worte der Beteiligten Aufschluss über die Möglichkeiten. Die Marine unter dem Hauptmann Jost Kiepler, einem alternden und raubeinigen Seebären, war willig und fähig, doch kamen sie gegen das Herzogtum Schwarzwasser mit ihrer überaus erfahrenen Flotte im direkten Kampf nur schwer an. Die Infanterie, im zermürbenden Stellungskrieg mit den Soldaten Alumenas um jede Handbreit Boden, war aufgerieben und zerfleddert. Ganz im Gegensatz zu ihrem Hauptmann Hanz Merltheim, der eine nahezu alumenisch-adelige Haltung an den Tag legte und jeden Kontakt zu seinen Männern verloren zu haben schien. Jania Soltan, Scharfschützin des alatarischen Reichs und Hauptmann der Fernkämpfer, war mutig und zugleich übermütig, eine Zusammenarbeit mit der Infanterie gestaltete sich wegen der Unleidlichkeiten zwischen ihr und Hauptmann Merltheim als schwierig. Doch ihre entwickelten Taktiken waren findig und in der jüngsten Vergangenheit effektiv gewesen. Die Kavallerie unter Hauptmann Sandorian Trevan war diszipliniert und weit über dem Standard der meisten Armeen, allerdings gab es wenige Situationen, in denen ihre Stärken zum Tragen kommen konnten. Größere Schlachten auf dem Land konnten nicht eingefordert werden, solange die Alumener Armee nicht zu einem Schlag gegen starken Raumgewinn gezwungen wäre. Der, wie Muireall wusste, erst seit drei Jahren erwählte Ritter Treabhar Labhruinn war zu jenem undankbaren Posten als General auf Eilean Amhaich und als Ersatz für den gefallenen General Fehling vor einem Jahr abbefohlen worden. Zweifelsohne war er mutig und fähig, beseelt von dem Glauben an den All-Einen, doch jung und mit wenig Durchsetzungskraft oder hartem Willen gegen die Zwistigkeiten seiner Hauptleute versehen. Das Potential der Führungspersonen war immens, sofern recht gelenkt, derzeit jedoch zu ungezielt und vage.

Muireall fühlte sich erschöpft, als sie schließlich das Zelt verließ. Der Himmel verlor an Farbe. Der frühlingshafte Abend entzog dem Firmament nach und nach das leuchtende Rot und ließ mehr und mehr Dunkelblau und Grau einfließen. Fern des Leuchtens glimmten die ersten Sterne im Samtblau auf. "Ahad Laval?", erklang Sandorians Stimme hinter ihr. Für wenige Herzschläge ruhte ihr Blick noch auf dem Bild des Himmels, ehe Muireall sich herumwand. "Hauptmann Trevan?" Er sah beinahe genauso aus wie in ihrer Erinnerung. Er war älter geworden, zweifellos, doch schien er in vielem unverändert. Für seine Ende Dreißig wirkte er kraftvoll und agil, breit gebaut, aber nur wenig größer als sie selbst. Sein schwarzes halblanges Haar umrahmte sein markant geschnittenes Gesicht mit den hellen und stillen Augen, die so wenig von seinem Inneren preisgaben. Muireall erkannte eine neue Narbe, die seine linke Braue durchteilte und sich bis auf seine Wange zog. "Warum habt Ihr mich nicht informiert, dass Ihr hierher kommen würdet?" Wie immer wählte er die formelle Ansprache, wenngleich sie sich seit nahezu zehn Jahren kannten, mehr miteinander durchgestanden hatten als die meisten Menschen und des Öfteren Berichte austauschten. "Es hätte Euch einen Vorteil gegenüber den anderen Hauptleuten verschafft. Ich brauchte ein unverfälschtes Bild." Einige Herzschläge sahen sie einander nur schweigend an, ehe Sandorians Mimik sich etwas aufweichte und er ruhig meinte: "Es tut gut Euch wiederzusehen, Ahad. Es war eine lange Zeit..." Kurz wirkte es als wolle er noch etwas hinzufügen, stockte dann allerdings und senkte den Blick ab, als er anmerkte: "Ich bin überzeugt Ihr werdet das Kriegsgeschick zu unseren Gunsten wenden." Muireall musterte ihn für eine Weile unverwandt, schließlich atmete sie langsam aus und trat einen Schritt zurück. "Das werde ich, so Alatar will." Damit wand sie sich schlussendlich von ihm ab.


Die folgenden Wochenläufe im wärmer werdenden Frühsommer 262 verbrachte Muireall damit die Truppen zu inspizieren und Gespräche mit den Hauptleuten, Wachtmeistern und einfachen Soldaten der Armee zu führen. Dabei festigte sich das am ersten Tag entstandene Bild von den Eignungen der Hauptleute und den Möglichkeiten (und Unmöglichkeiten) ihrer Truppenteile. Die Ahad kannte die Witterungen und Gewässer dieser Region sehr gut, war sie doch selbst auf einer der Inseln im Kanal zwischen den Herzogtümern von Eirensee, Greifenhain und Schwarzwasser und dem Heiligen Alatarischen Reich aufgewachsen.
Es war an der Zeit Eilean Amhaich wieder dieser Inselgruppe zuzuführen, danach würde sich Chridhe, was schon seit beinahe einem Jahrzehnt in alumenischer Hand war, kaum halten können. Aber dies würde sich zu einem anderen Zeitpunkt entscheiden. Amhaich war die größte Insel von Buidheann und solange sie nicht genommen und gehalten werden konnte, ging eine stetige Bedrohung für die restliche Inselregion davon aus. Es war wortwörtlich die Kehle dieses Körpers.

Muireall konnte sich der Ironie dieses Umstandes nicht entziehen. Sie wurde zur Kehle des Reichs gesandt, um sie zu erobern. Noch immer erinnerte sie die quer über ihren Hals verlaufende, blasse Narbe an Eorl de Mehan, einen jungen Edlen aus dem Herzogtum Schwarzwasser. Vor beinahe fünfzehn Jahren hatte er sich Zugang zum Gut Lilienhayn erschlichen, um Rache für den Tod seines Vaters zu nehmen. Er war dem Ziel ihr ein Ende zu bereiten nahe gekommen, näher als jeder andere wie sie heute wusste. Muireall war gewiss, dass sie ebenso lange tot wäre, wenn Alatar ihr nicht in jenem Augenblick des nahenden Endes seinen Zorn und seine Kraft geschenkt hätte. Sie hatte den Jungen geköpft, überströmt vom Blut ihrer eigenen Kehle. Vielleicht hätte er derjenige sein sollen. Derjenige, der dafür hätte sorgen können, dass ihr nicht immer alle vorausgingen.
Dazen. Sie schloss für einen Moment die Augen in Gedanken an ihren Freund, einer der wenigen, die sie je gehabt hatte. Er war nicht der Erste gewesen, er würde nicht der letzte sein, wenn sie nicht morgen auf dem Schlachtfeld fiel. Mit jedem einzelnen ihrer Verluste, jedem einzelnen nur halb gelebten Leben, hoffte sie, dass sie nicht als Letzte zurückbleiben würde. In Nileth Azur werden wir uns wiedersehen, mein Freund. Aber noch habe ich zu tun.


*
Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.

William Shakespeare


Zuletzt bearbeitet von Muireall Laval am 19 Mai 2020 16:20, insgesamt 2-mal bearbeitet
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Muireall Laval





 Beitrag Verfasst am: 05 Jun 2020 15:14    Titel:
Antworten mit Zitat

Derweil auf Duthaich...



Kapitel 3: Alles und nichts
(Schwalbenkunft 262)

Wer einen Staat verteidigen will, muss ihn verteidigungswürdig machen.

Jean Monnet

*


Es war eben jener flüchtige Augenblick. Genau jener eine Herzschlag in der Schlacht. Nur mühsam kämpften sich einige Soldaten um sie her aus dem Schlamm des Schlachtfeldes auf die Füße, aufgeweicht von dem Sommerregen der letzten Tage, von dem Blut ihrer Kameraden und Feinde. Muireall gedachte all dessen nicht, ihr Blick lag vorangerichtet, sie atmete schwer. Wie eine unaufhaltsame Woge schnitt die feindliche Kavallerie auf sie zu, eine gerade, stahlglänzende Linie von Tilgung, von Graubraun und Nichts. Sie hörte nur das dumpfe und fern klingende Donnern der Hufe. Für die Dauer eines Blitzes zuckten die Bilder von Gerimor in ihrem Geist auf, ihrer Heimat. Niamhs Lächeln, die Klangfarbe ihrer Stimme, warmes Gold. Sie hob ihr Schwert und umfasste es fester. Die Welle baute sich weiter vor ihr auf, nur wenige Herzschläge, dann würde sie über sie hinwegbranden und alles auslöschen. Jeans Blick, seine Hände auf ihrer Haut, aus Feuer gegossen. Sie konnte schon das Glänzen in den Augen des Pferdes erkennen, Schlamm spritzte von dem aufgewühlten Boden zwischen ihnen auf, für eine Sekunde gegenseitige Erkenntnis, dahinter der Tod, hundert Tode. Sie holte zum verzweifelten Schlag mit dem Schwert aus. Ein Schatten in ihrem Augenwinkel, gefolgt von einem dumpfen, geräuschbetäubenden Krachen. Sie führte den Schwung zu Ende, gebrochen stürzte das Pferd neben ihr in den Schlamm. Um sie her herrschte mit einem Mal Chaos; – Pferdebeine, matt schimmernde Rüstungen, Schlamm, Blut. Die Kavallerie war gekommen. Sandorian.
Muireall versuchte in dem grotesken Tumult einen Gegner ausfindig zu machen, da waren nur Bewegungen, Körper, Wahnsinn. Alatar, ewiger Herr, leite meine Klinge. Ihr Herzschlag wurde langsamer, schwerer und wie sie es bereits einige Male zuvor in Schlachten oder Kämpfen, so dicht an der Grenze zum Verlust ihres Verstandes, erlebt hatte, beseelte Er sie mit Seinem Zorn, mit Klarsicht, mit vollkommener Ekstase. Da war kein Chaos mehr, alles zeigte sich ihr in klaren Farben, alles hatte Struktur und war zugleich bedeutungslos. Ohne Zehrung schnitt sie sich tief in die gegnerischen Reihen, parallel mit den Speerspitzen der Kavallerie und der verbissen durchhaltenden Infanterie, als ihr eigentlicher Plan erst zum Tragen kommen sollte.


"Wir werden sie anlocken. Wir werden dafür sorgen, dass sie ihren Rücken ungedeckt lassen." – "Wie wollt Ihr das bewerkstelligen, Erhabene?", fragte Ritter Labhruinn, der ihr die vergangenen Wochenläufe bereitwillig gefolgt war und allen geführten Gesprächen beigewohnt hatte. Muireall spürte in ihm den forschen Willen eines Mannes, der seinen Abdruck im Reich hinterlassen konnte. Der junge Ritter war klug und verständig, ergriffen von seinem Glauben an den All-Einen und beseelt von dem Gedanken an die Stärke der Einigkeit. Muireall schob einige Steine auf der Karte herum und erklärte dazu: "Wir ziehen unsere Truppen von hier,... hier und hier zurück, wir gaukeln Schwäche vor. Wir lassen wenige Soldaten zur Verteidigung zurück, die, so Alatar will, bei einem Angriff fliehen können." "Das sind alles Randbefestigungen.", merkte Jania Soltan in nachdenklichem Ton an. "Das ist richtig.", erwiderte Muireall und richtete sich wieder auf, als alle Steine auf der Karte an den gedachten Positionen waren.
Sie ließ den Hauptleuten einige Momente Zeit, um ihren Gedankengängen zu folgen und vielleicht ihren Plan zu durchsehen. In eben dem Augenblick, als Ritter Labhruinn erkennend die Brauen anhob, ertönte die Stimme von Hauptmann Merltheim in dem geistlosen und zugleich abgehobenen Tonfall, der ihm zu Eigen war: "Bisher sehe ich nur, dass Ihr Befestigungen kampflos dem Feind überlassen wollt, die wir hart erstritten haben und mit Mühe halten können." Muireall begegnete seinem Blick unverwandt, als er damit fortfuhr sich sein Grab in diesem Kreis zu schaufeln: "Ich meine, Ahad Laval, es ist doch für jeden einfachen Soldaten zu erkennen, dass Euer Plan nur dem Feind in die Hände spielen wird. Bisweilen frage ich mich, was sich der All-Eine dabei denkt gewisse Leute zu berufen..." Er wollte noch fortsetzen, als ihn unvermittelt die Faust von Sandorian im Gesicht traf und er keuchend zurückstolperte. Hauptmann Hanz Merltheim wollte gerade zu einem wütenden Gegenschlag ausholen, als die schneidende Stimme des jungen Ritters ertönte: "Wagt... es nicht, Hauptmann!" Die klare Bestimmtheit in der Stimmfarbe des Generals, die den Versammelten durchaus neu war, ließ alle Hauptleute aufmerken. Für wenige Augenblicke herrschte vollkommene Stille, ehe der Ritter erneut das Wort erhob: "Der Plan ist überragend, nur ein völlig zurückgebliebener Taktiker erkennt nicht die Genialität darin. Er wird Opfer erfordern, zweifelsohne, doch ist es für das höhere Wohl. Wie auch immer dies enden wird, es wird den zermürbenden Stellungskrieg auf der Insel beenden, ein für alle Mal."
Irritiert sah Hauptmann Merltheim auf der Karte umher, die Steine nochmals studierend, um die Sinnhaftigkeit hinter den Worten des Ritters zu erfassen, eine Hand an sein malträtiertes Kinn gelegt. Muireall erlaubte sich einen Mundwinkel anzuheben, während sie über die anderen Hauptleute sah. Hauptmann Kiepler schien bereits völlig gefangen in den strategischen Manövern für die Marine, man konnte sehen wie es in seinem Kopf arbeitete, während Hauptmann Soltan für jenen Augenblick lediglich auf den verloren dreinsehenden Hauptmann Merltheim stierte und sich an seiner Irritation zu laben schien. Des Ritters Blick folgte demselben Ziel, doch lag auf seiner Miene keine Befriedigung, eher Geringschätzung. Hauptmann Trevans Augen ruhten unverwandt auf Muireall, als der Ritter das Wort ergriff: "Nicht nur versteht Ihr offenkundig nicht die einfachsten taktischen Manöver, Hauptmann. Eure Truppen empfinden keinerlei Loyalität zu Euch. Wie könnten sie auch? Zuletzt sahen sie Euch bei Eurer Ernennung vor sechs Monden. Und nicht zuletzt besitzt Ihr die ketzerische Frechheit das Urteil und die Befähigung meiner hohen Waffenschwester in Frage zu stellen. Allein dafür sollte ich Euch den Kopf vom Leib trennen!" Des Ritters Stimme war im Zuge seiner Worte lauter geworden, seinen offenkundigen Zorn vermochte er kaum zu verbergen. "Nein, werter General, so war es nicht gemeint... Ich wollte damit nur sagen, dass der Plan der Erhabenen so vieles preisgibt..." Weiter kam Merltheim nicht, als der Ritter ihn unterbrach: "Ich entziehe Euch das Kommando über die Infanterie. Bis Ihr Euch vor den Augen des All-Einen bewiesen habt, degradiere ich Euch zum einfachen Soldaten." Die Augen des ehemaligen Hauptmanns weiteten sich vor Schreck. "Und wagt es ja nicht zu desertieren, Soldat Merltheim. Alle Anwesenden werden Euren Namen nicht vergessen. Steht Ihr nicht auf der Liste der Gefallenen und seid nach der Schlacht nicht in den Reihen der Soldaten, werden wir dafür sorgen, dass Ihr keine Heimat habt, keinen sicheren Zufluchtsort, keine Existenz. Seine Klauen werden Euch holen, wenn wir es nicht tun!"
Merltheim sank auf die Knie hinab, sein gejagter Blick suchte Muireall, die die Entwicklung nur schweigend verfolgt hatte. "Werte Erhabene, verzeiht meine schlecht gewählten Worte! Ihr... Ihr könntet doch... ich entschuldige mich, so war es nicht gemeint. Ich wollte Euch nicht anzweifeln." Die Angesprochene neigte leicht den Kopf beiseite, erst dann erwiderte sie ruhig: "Ich gebe gerne Chancen." Kurz glimmte Hoffnung in den Augen des ehemaligen Hauptmannes auf. "Aber nicht an Euresgleichen. Leute wie Ihr gehören aus allen Führungspositionen des Reichs ausgemerzt. Leute wie Ihr sind der Grund, warum wir schwach sind. Leute, die sich für erhaben halten, Leute, die denken andere herabwürdigen zu dürfen, die sich für unfehlbar halten, die die starken, aber einfachen Menschen zu Staub machen. Geht an Euren Posten, Soldat Merltheim, und behelligt uns nicht länger mit Eurem Unwert." Muireall sah in seinem Ausdruck das mühsam errichtete Konstrukt seiner Welt zusammenbrechen, ehe er sich mit schreckensgeweiteten Augen aufrichtete und wie ein Betrunkener aus dem Zelt torkelte.
Ungerührt lag der Blick des Generals und Ritters auf der Karte, als er schließlich feststellte: "Die Infanterie könnte bei diesem Manöver ziemlich aufgerieben werden. Welcher neue Hauptmann sollte so ein Kommando denn führen können?" Muireall war leicht abgewandt vom Tisch, als sie halblaut meinte: "Ich werde es tun."

Der Schlachtplan war also gesetzt. Man würde den Alumener Truppen Raum an den Seiten zugestehen, sie dazu nötigen die Grenzbefestigungen zu bemannen und zugleich zu einem vermeintlich letzten Gefecht um die Feste von Iarainn zwingen. Die Alumenische Armee würde, wenn vielleicht auch klug genug nicht alle ihre Truppen in die Mitte zu senden, dennoch ihre Schiffe anlegen und entmannen lassen. Sie würden jene scheinbare Chance nutzen wollen, um diesen auszehrenden Kampf endlich zu beenden, in der Annahme die Alatarische Armee wäre entmutigt. Eine Taktik, die durch gezielt gestreute Gerüchte und Nachrichten bestärkt werden sollte. Es stand zu erwarten, dass ein Großteil der stationierten Infanterie und vermutlich auch der Kavallerie auf Amhaich ausgelöscht würden in jener ablenkenden Schlacht, doch war ein Sieg hier nicht das eigentliche Ziel. Die Marine sollte, sowie dieser Kampf begann, die Versorgungswege abschneiden, ihre ankernden Schiffe vernichten und alle Häfen auf Alumener Seite entweder einnehmen oder zerstören. Ohne Nachschub war selbst die stärkste Armee auf einer Insel verloren. Während alle Ressourcen auf eine Offensive gerichtet sein sollten, würden alle Rückzugsorte und Verstärkungen getilgt. Danach wieder auf Amhaich Fuß zu fassen, wäre für die Feinde in der Zukunft durchaus möglich, war aber mit bedeutend hohem Aufwand, Ressourcen und Manneskraft verbunden. Sollte der Plan aufgehen...



Muirealls Körper brannte. In demselben Maß wie ihre Muskeln tobten und schrien bei jedem Schritt, jedem geführten Schlag, loderte Alatars Stärke in ihr, seine göttliche Kraft, und trieb sie voran. Unerbittlich wurde sie selbst gejagt in dem Versuch sich nicht selbst in jener Macht zu verlieren wie sie ihre Gegner jagte. Es war stets im Herzen der Schlacht, stets an der Markung zwischen Vergangenheit und Zukunft, eben jenem einen Moment der nahen und vollkommenen Auslöschung, seit jeher gewesen, dass sie die Nähe zum Panther am allermeisten spürte. Ein unbeschreibliches Hochgefühl an der Grenze zwischen Schmerz und Lust, das sie keinem in Worten hätte beschreiben können. Sie wusste nicht wie lange die Schlacht angedauert hatte seit dem Eintreffen der Kavallerie.
Stunden waren Augenblicke, Tage, vielleicht auch nur Minuten, als ein Fauchen über ihrem Kopf erschall. Kurz hob sie den Blick, um den flammenden Feuerball zu erblicken, der eine schwarze Linie über den grauen Himmel zog. Der Ritter hatte also die anrückenden Belagerungsgeschosse und Liedwirker nicht aufhalten können.

Neben Muireall stürzte eine Soldatin tödlich von einem Pfeil im Hals getroffen auf den Boden, panisch wand sie sich, presste die Hände an ihre Kehle in dem Versuch die Blutung aufzuhalten. Das Rot rann über ihre Haut und verschwamm mit dem Braun und Schwarz des verzehrenden Schlamms als wäre es Teil davon. Ihr Körper erschlaffte. Sie war eine von Hunderten, vielleicht Tausenden, die an diesem Tag auf dieser Erde ihr Leben verloren. Nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Leben vieler anderer. Das Leben von ihren Gefährten, von ihren Eltern und Kindern, von ihren Geschwistern und Freunden würde nie wieder dasselbe sein nach diesem Tag, dieser Schlacht. Muireall sank auf ein Knie und schloss ihr die Augen in Gedanken an all die Krieger beider Seiten, die zahllosen, namenlosen Leben, die hier ein Ende finden würden.

Es war nicht der Zweifel oder die Reue ihrer Handlungen, die sie zu jener Tat der Gnade veranlassten, es war das Bedauern über das verlorene Potential und, vor allem anderen, der Respekt. Der Respekt vor den eigenen Truppen wie auch den Feinden, gleich welchen Ranges, und einer damit, tief verwurzelte Ehrbehandlung war ihr heilig. Ehrbehandlung bedeutete nicht zärtelnden oder unbescholtenen Umgang, er maß sich stets an der Achtung und Begabung des Gegenübers. Dennoch empfand Muireall tiefen Abscheu gegenüber allen ehr- und geistlosen Kreaturen, die jedes Wort brachen, keiften, schändeten und sich gebärdeten wie tollwütige Tiere, gleich ob gegen Freund oder Feind.
Ein erneutes Fauchen der Geschosse zwang sie ihren Blick von der namenlosen Soldatin zu lösen. In Nileth Azur werden wir uns wiedersehen, meine Schwester. Aber noch habe ich zu tun.


*
Denn was auch immer auf Erden besteht,
besteht durch Ehre und Treue.


Adalbert Stifter
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Muireall Laval





 Beitrag Verfasst am: 21 Jun 2020 15:48    Titel:
Antworten mit Zitat

Kapitel 4: Vom Leben
(Schwalbenkunft bis Ashatar 262)

Der Anführer eines großen Heeres kann besiegt werden. Aber den festen
Entschluss eines Einzigen kannst du nicht wankend machen.


Konfuzius

*


Ein neuer Tag brach an. Unendlich mühsam kämpfte sich die Sonne über den Horizont und beleuchtete beinahe widerwillig, in fahlen und farblosen Tönen, das Szenario auf der Insel Amhaich. Das Schlachtfeld lag öde und leer, kaum eine Bewegung brach das kühle Licht, welches stoisch über die Körper der Gefallenen wanderte. Es fühlte sich beinahe so an als wäre noch immer alles in den Mantel der Nacht gehüllt, doch als wolle das Licht die unaussprechbare Anklage der Toten den Überlebenden in den Geist brennen.
Jene wenigen Empfänger dieser stillen Botschaft schwiegen in Ehrerbietung all der Opfer, all der ungelebten Augenblicke und Möglichkeiten, die für alle Zeit verloren sein würden. Hier und da war ein unterdrücktes Schluchzen zu vernehmen, wenn ein Soldat einen Mitstreiter oder Gefährten zerschmettert im Schlamm fand. Doch war auch dies nur ein unbedeutendes Echo gegen das ewige Wehklagen dieser Schlacht, welches noch tausend Leben zerschmettern würde, wie es viele hunderte in dem Kampf selbst gefordert hatte.

Muireall kniete in schlammigem Gras, auf ihrem Oberschenkel gebettet lag der Kopf des jungen Ritters Labhruinn, der General dieser Legion. Unbarmherzig grell beleuchtete das Morgenlicht die Szenerie, jene Wunde in seinem Bauch, die die Rüstung durchschlagen hatte und aus der stetig hellrotes Blut floss, um sich mit dem Untergrund zu verbinden. Er würde sterben, hier, auf diesem Boden. Treabhar öffnete seine spröden Lippen und hauchte: "Haben wir gewonnen?" – "Wir haben gewonnen, General Labhruinn. Es war ein hart und verlustreich erstrittener Sieg, aber unser Plan ist aufgegangen. Wir haben alle Häfen Amhaichs eingenommen und die Alumener Armeen hier vernichtet." Mit einem überaus zufriedenen Einatmen senkte Treabhar Labhruinn die Lider ab, als er flüsterte: "Euer Plan, Erhabene."
Muireall betrachtete für einige Herzschläge diesen jungen, sterbenden Mann. Sie konnte vor sich sehen wie er aufgestiegen wäre, wie er mit Geist und Verstand die Bruderschaft auf dem Festland vorangetrieben hätte und wie sein Handeln und Tun das Leben von vielen geändert und mit Sinn erfüllt hätte. Sie sah für jenen Wimpernschlag seine künftige Frau und seine ungezeugten und ungeborenen kräftigen, wild tobenden Kinder, seine ambitionierten Gedanken und Visionen, seine Zukunft. Und das all dies war Staub und nichts und schmeckte wie Asche in ihrem Mund.
"Es war Euer Plan, General.", erwiderte sie halblaut und strich die feuchten Strähnen aus seiner Stirn. Muireall sah auf seiner Miene das Bedürfnis zu widersprechen, ehe sich seine Züge glätteten. "Glaubt Ihr an Nileth Azur, Erhabene, glaubt Ihr auf der anderen Seite ist irgendetwas?" Seine Stimme war brüchig, seine Zunge schwer, sein Geist driftete nach und nach mehr in das kühle Delirium des Todes ab. "Ich weiß sicher, dass Alatar bei uns ist, Waffenbruder, und dass er uns geleitet im Leben. Ich bin überzeugt, dass er uns auch im Tod geleitet. Ich glaube mit jeder Faser meines Herzens daran, dass wir uns eines Tages in Nileth Azur wiedersehen." Ein schmerzliches und zugleich hoffnungsvolles Lächeln huschte über Treabhars Lippen. "Es tut mir leid, dass ich... Ich bereue...", wisperte er geplagt, "Ich wünschte, ich hätte früher..." Sein Körper verkrampfte sich und richtete sich etwas auf, als er einen Blutschwall erbrach. Muireall strich ihm beruhigend über den Schopf als er zurücksank, wissend, dass das unausweichliche Ende sehr nah war, sie hatte es oft gesehen, zu oft.
Dennoch oder vielleicht deshalb neigte sie sich zu ihm herab und sprach die leisen Worte des Abschieds in sein Ohr, sie hielt seine Hand bis er gegangen war und flüsterte danach die Gebete an Alatar für einen gefallenen Ritter in den Wind. In Nileth Azur werden wir uns wiedersehen, mein Bruder. Wie viele noch, Alatar, wie viele willst du nehmen, bevor ich selbst gehen darf? Wie viel Tod möchtest du mir noch auferlegen? – Noch hast Du zu tun.


Die folgenden Tage und Wochenläufe waren mit dem Umgang der Nachwirkungen dieser Schlacht ausgelastet. Die Gefallenen der eigenen Armee wurden gesammelt, aufgereiht und, sofern möglich, ihre Namen notiert, bevor sie eingeäschert und die Asche an ihre Familien übersandt wurden. Die zahllosen Opfer, die nicht erkannt werden konnten oder keine Angehörige mehr hatten, wurden vor Ort in einem Massengrab beigesetzt. Muireall bestand darauf die Körper der gefallenen feindlichen Soldaten unter der weißen Flagge den Alumenern zu übergeben, selbst wenn dies, ob des verlustreichen Kampfes, wenig Wohlwollen in der Armee fand. Sie blieb bei ihrem Befehl. Wer sich wie ein wildes Tier gebärden wollte, sollte unter den Tieren leben.
Hauptmann Kiepler und seine Einheit leisteten in jener Zeit überragende Arbeit zur Sicherung der gewonnenen Häfen und zur Aufklärung und erfolgreichen Vertreibung aller Schwarzwasser Marineschiffe um Amhaich, die planten in kleinen Raubüberfällen die merklich geschwächte Armee des alatarischen Reichs weiter auszudünnen. Hauptmann Soltan und die Fernkämpfer kümmerten sich engagiert darum versprengte Feinde auf Amhaich aufzuspüren und gefangen zu nehmen, während Hauptmann Trevans Kavallerie und die Infanterie die Festungen und Dörfer sicherten und ansatzweise wieder instand setzten. Bedauerlicherweise war der ehemalige Hauptmann Merltheim in der Schlacht nicht gefallen, zumindest nicht unter den erkennbaren Toten, doch war er nach der Schlacht auch nirgendwo zu finden und meldete sich auch nicht mehr zurück. Muireall vermutete, dass er im Gefecht desertiert war, um im Trubel des Kriegs mit Verletzten rasch auf das Festland übergesetzt zu werden und dann unterzutauchen. Ihrer Anweisung alle Soldaten zu überprüfen zum Trotz blieb er verschwunden.


Zerschlagen und erschöpft kehrte Muireall an jenem schwülen Sommerabend zu ihrem Zelt zurück. Als letzte Vertreterin der Bruderschaft vor Ort hatte sie an jenem Abend den Körper des Ritters Labhruinn im Beisein eines Templers den Flammen anheim gegeben. Sein Tod lastete schwer auf ihr. Nicht, weil er sich für den All-Einen und seine Ziele geopfert hatte, sondern weil mit ihm so viel Zukunft und Potential verloren gegangen war. Warum war Treabhar gefallen, während sie selbst in einer so viel gefährlicheren Stellung im Schlachtfeld überlebt hatte?

Es war fruchtlos Verfluchungen gegen die Götter auszustoßen oder sie anzuschreien ob der Ungerechtigkeit des Lebens. Das Leben war ungerecht! Es war ein neidischer Kobold und es würde niemandem zuteilen, was er eigentlich verdient hatte. Es würde niemanden strafen oder wertschätzen für seine Güte oder Stärke oder Grausamkeit oder Ambition. Das Leben missachtete alle Charaktereigenschaften, es machte alle gleich wertvoll und -los; es war ebenso gleichmütig wie sein Bruder. Was man wollte, musste man sich nehmen, mit Feuer, Blut und Schwert. Schicksal war etwas für Träumer und Schwächlinge, die in Untätigkeit verschimmelten und dennoch meinten eine Bedeutung zu haben durch dieses eine Wort.
Ritter Labhruinn hatte sich seine Position erarbeitet, er hatte gelernt, er war aufgestiegen, er hatte das Potential gehabt jemand zu werden. Er war den alatarischen Pfad gegangen. Geboren als niemand, um sich zu erkämpfen, was er wollte. Und dann war ihm das Leben in den Weg getreten und hatte ihm alle Zukunft entrissen.
Es war niemals wirklich auf der Seite der Lebenden. Das Leben gab niemandem jemals, was er verdient hatte.


Sowie Muireall das Halbdunkel des Zelts umfing, spürte sie, dass sie nicht allein war. Ihre Hand umfasste den Dolchgriff. "Mon cœur...", vernahm sie die so vertraute Stimme, welche gewiss alarmiert war durch ihre jähe Bewegung, "Sei doch so gut und erstich mich nicht gleich." Muireall blinzelte einige Male, um ihn nach den hellen Lichtern der Fackeln besser ausmachen zu können. Jean entzündete eine Kerze. "Was... machst du hier, Jean?", fragte sie erstaunt, sowie sie seine Gestalt in dem warmen Licht der kleinen Flamme erfasst hatte. "Was denkst du denn, Mui? Wir haben uns Monde nicht gesehen!", meinte er ruhig als wäre dies Erklärung genug. "Wie zum Henker bist du in dieses Lager gekommen, ohne dass ich eine Meldung erhielt?" Als Antwort hob Jean nur einen Mundwinkel und sah sie bedeutungsschwer an. Sie seufzte leise und winkte ab. "Aber... warum bist du hier, Jean? Wir sind getrennt."
Auf seine Züge trat sogleich Ernst, als er sie betrachtete. "Je ne t‘abandonnerai jamais.", erwiderte er besonnen, während sich sein Blick in ihren Augen verfing und sich daraufhin seine Brauen ein wenig zusammenschoben. Rasch trat er auf sie zu und schloss seine Arme um sie. "Es tut mir leid.", flüsterte er leise, wobei er offen ließ, ob er ihr Auseinandergehen meinte oder das, was er in ihren Augen gelesen hatte. Er zog sie eng an sich und senkt seinen Blick verfangen auf ihre Züge, ehe er ihre Lippen mit seinen verschloss.

Es war mitten in der Nacht. In der Wärme und Düsternis des Betts tastete Muireall neben sich umher auf der Suche nach seinem Körper. Er war nicht da. War es nur ein Hirngespinst gewesen? Hatte sie nur geträumt, dass ihr Mann hier gewesen war? Schwer atmete sie aus und sank zurück, als ein gedämpfter Laut von Bewegung an ihr Ohr drang. Unwillkürlich tastete sie nach dem Griff ihres Schwerts. Es war nicht da, wo es sein sollte. Sie warf sich herum und erfasste mit ihrem Blick die Umrisse einer Gestalt neben ihrem Lager. "Jetzt...", wisperte der Schemen leise, Muireall erkannte bestürzt die Stimme des ehemaligen Hauptmanns Merltheim, "Jetzt sehen wir, wer schwach ist, Ahad."
Rasch tastete sie um sich in den zerwühlten Laken auf der Suche nach einer Waffe. Sie fand nichts, da war nichts! Es war eben jener Moment, in dem sie ihren Körper unmittelbar gegen Merltheim werfen wollte, als plötzlich eine andere Stimme erklang, leise und mit schneidender Kälte darin: "Finger weg von meiner Frau!" Muireall konnte Jeans Standort in der Finsternis des Zelts nicht genau ausmachen, ebenso wenig wie ihr Angreifer, der sich nur ruckartig aufrichtete und umherwandte.
Ein ohrenbetäubendes Krachen durchbrach brutal die nächtliche Stille des Feldlagers, begleitet von dem Lichtblitz des Schießpulvers. Für den Bruchteil eines Herzschlags erblickte Muireall die unbekleidete Gestalt ihres Mannes mit der gerichteten Waffe in dem grellen Aufleuchten der Pistole. Er schoss Merltheim mitten ins Gesicht, Bleikugeln, die sich dumpf ins Fleisch sprengten. Muireall spürte warme Spritzer auf ihrer Haut. Dann wieder völlige Schwärze und nachhallende Stille.


*
Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.

Plato
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Muireall Laval





 Beitrag Verfasst am: 11 Aug 2020 22:57    Titel:
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Derweil auf Duthaich...



Kapitel 5: Bittersüß
(Ashatar bis Goldblatt 262)

Ein guter Mensch verspricht durch seine Gegenwart nur immer zu viel!
Das Vertrauen, das er hervorlockt, die Neigung, die er einflößt, die Hoffnungen,
die er erregt, sind unendlich; er wird und bleibt ein Schuldner, ohne es zu wissen.


Johann Wolfgang von Goethe

*


Jean verließ die Insel bereits nach zwei Tagen wieder. Muireall konnte es ihm nicht verübeln, er kümmerte sich um ihre gemeinsame Tochter, ein Mädchen, welches in seinem Leben schon genug Trennung von den Eltern, insbesondere ihrer Mutter, hatte erfahren müssen. Dennoch hatte Jeans Besuch etwas in ihr aufgeweckt.

Es war eine bittersüße Sehnsucht, ein flüchtiger Geschmack auf der Zunge, etwas, was sie dachte gänzlich verloren zu haben. Es war die Ahnung von Nähe. Muireall war es stets gewohnt gewesen sich nur auf sich selbst verlassen zu können, ihre Entscheidungen für sich zu treffen und alles persönliche Leid genau dort zu belassen. Für sie war es üblich als leere Rüstung wahrgenommen zu werden, als Titel und Name und Statue. Er hatte es damals verändert. Er hatte sich nicht um ihre Titel, Pflichten oder Namen geschert, er wollte die Frau. Muireall wusste, dass es ihn noch immer nicht scherte, doch war es jene plötzliche Gewissheit der kompromisslosen Loyalität und Hingabe, die zu ahnen ihr zu lange verwehrt worden war. Sein Besuch hatte sie daran erinnert.
Mit jenem bloßen Geschmack auf den Lippen war zugleich die unendliche Liebe einer Mutter aus einer verschlossenen Kammer ihres Herzens schmerzhaft ans Licht gezerrt worden. Stets hatte sie ihre Tochter vermisst, wenn sie von ihr getrennt gewesen war, doch mit einem Mal quälte sie jeder Atemzug, den sie ohne Niamhs Nähe verbringen musste. Allein die Erinnerungen an ihre helle Stimme, ihr Lachen, das Gefühl, wenn sie vertrauensvoll die Arme um ihren Hals schlang oder wie sie "Maman" aussprach, waren wie hundert Pfeile in Muirealls Herzen. Ob sie mir jemals vergeben kann, dass ich nie da war? Wird sie mich eines Tages hassen? Wie sehr es sie schmerzte Niamh nun nicht in die Arme schließen zu können.


Es dauerte bis zum Fall der Blätter bis die Verhältnisse auf Eilean Amhaich in geordnete Bahnen gelenkt waren. Ein neuer General übernahm Wochenläufe nach der entscheidenden Schlacht das Oberkommando und die Organisation der Truppen auf Amhaich. Erneut stellte sich ein junger Ritter Alatars der Aufgabe. Muireall hielt sich tunlichst von ihm fern, sie wollte sich nicht noch an ein Gesicht gewöhnen, um es irgendwann zerschmettert auf einem Schlachtfeld wiederzufinden. Solange es ihr möglich gewesen war, hatte sie die Sicherung der Insel vorangetrieben, jetzt fühlte sie sich ohne irgendeine Erdung.


"Erhabene Laval?", ertönte die feste Stimme von Sandorian, als die Angesprochene gerade ihr Zelt betreten wollte. Muireall hielt inne und wandte sich herum. "Hauptmann Trevan, was kann ich für Euch tun?" Auf den ersten Blick las sie in seinem Gesicht, dass ihn kein bloßer Wachbericht beschäftigte. Sie schob die Zeltbahn beiseite und meinte schlicht: "Bitte." Sandorian folgte der Einladung nach einem kurzen Zaudern. Durch das helle Tuch des Zelts war das Licht im Inneren nur mild abgeschwächt und aufgeweicht. Der Hauptmann der Kavallerie ließ seinen Blick gemächlich über das Interieur schweifen. Sie sah darin ein rasches Flackern von Gewissheit und dann wieder Bedenken.

Sie kannte Sandorian seit beinahe einem Jahrzehnt, er war derjenige gewesen, der sie damals als junge Ritterin nach Wochen der Gefangenschaft ausgelöst hatte und im Delirium und schwer verletzt nach Duthaich begleitet hatte. Er war auf dem Gut geblieben und nicht von ihrer Seite gewichen bis sie einigermaßen genesen war und nach Gerimor hatte zurückkehren können. Danach hatten sie lose schriftliche Berichte ausgetauscht, immerzu professionell und zielorientiert. Muireall wusste, dass er sie liebte, immer geliebt hatte, auf die eine oder andere Weise, doch hatte er dies niemals ausgesprochen und die persönliche Grenze war in all den Jahren nur einmal überschritten worden.

Sie räusperte sich, woraufhin sich Sandorians zuvor umherschweifender, sonst so stete, Blick rasch wieder auf ihrer Miene einfand. Er ruckte, er stand wieder still. "Mein Freund, was auch immer Euch...", setzte sie zu sprechen an, als er sie mit einem Mal unterbrach und von einem plötzlichen Impuls getrieben, lauter sagte: "Geh den Bund mit mir ein!" Seine Worte trafen Muireall in jenem Augenblick so unvermittelt wie ein ungebremster Baumstamm und offenbar spiegelte ihre Miene eben dies wieder, denn sogleich fuhr Sandorian fort: "Mir ist bewusst, dass mein Antrag unangemessen ist, dass er es niemals sein wird, dass du ihn niemals annehmen wirst."
Es war das erste Mal in all den Jahresläufen, dass er sie persönlich adressierte. Einige Wimpernschläge verstrichen, in denen sie einander nur wortlos anstarrten, ehe Muireall tief die Luft einsog und etwas lahm erwiderte: "Ich bin bereits gebunden."
"Das ist mir bewusst.", erwiderte er fest als habe er mit dieser Erinnerung ohnehin gerechnet und senkte den Blick kurz ab. "Dennoch...", setzte er an, wobei er seine Augen wieder unverwandt auf sie richtete, "... ist er nicht hier. Wärest du die Meine, wäre ich immer an deiner Seite. Du weißt, dass ich dir immer den Rücken frei halte und dass ich es immer tun würde, im Schlachtfeld wie im Leben. Wo ist dein Mann jetzt? Ich sehe, dass du beinahe gebrochen bist, wieder einmal, dennoch steht er nicht an deiner Seite. Aber ich bin hier, erneut."
Noch immer rang Muireall mit seinem plötzlichen Ausbruch und dem schonungslosen Niederreißen ihres jahrzehntelang gepflegten und klar abgesteckten Umgangs miteinander, doch löste sich nach und nach die Taubheit aus ihrem Geist. Sie wandte sich von ihm ab und trat zum Getränketablett, um sich einen Becher Wein einzugießen und gleich mal die Hälfte zu leeren. Wenn nicht jetzt, wann dann? Sandorian verblieb schweigend und reglos in ihrem Rücken. Sie schenkte sich nach, bevor sie sich wieder zu ihm drehte.
"Sandorian, du bist im Lauf meines Lebens wohl mein beständigster Begleiter, deswegen sehe ich gerade davon ab dich für deine Worte zu ahnden", setzte sie in mühsam errungener Beherrschtheit an. Seine Gesichtszüge blieben unbewegt, was darauf schließen ließ, dass er alle Szenarien dieser Situation mehrfach gedanklich durchlaufen war. "Mein Mann ist nicht hier, weil er etwas in meinem Rücken schützt und bewahrt, was mehr wert ist als meine Unversehrtheit, mehr wert ist als mein Leben oder seines." Nur ein leichtes Zucken seiner Brauen verriet seine Irritation. "Wir haben eine Tochter", schloss Muireall ihre Worte.
Trotz ihres regelmäßigen, schriftlichen Austauschs hatte sie Niamh niemals erwähnt. Entsprechend fassungslos starrte er sie nun an, es war tatsächlich etwas, womit er nicht gerechnet hatte. "Du.. du hast ein Kind?", brachte er schließlich angestrengt hervor. "Jean und ich haben ein Kind, ja. Niamh ist schon fünf Jahre alt." Muireall konnte sehen wie die Gedanken durch Sandorians Kopf jagten, als er den leicht geweiteten Blick langsam absinken ließ. Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen, bevor er etwas heiser flüsterte: "Das wusste ich nicht. Verzeih... mir. Ich wollte deinen Mann nicht..." Er atmete tief durch.
"Ich weiß, mein Freund." Muireall stellte den Weinbecher beiseite und trat auf ihn zu. Sie bettete eine Hand an seine Wange, woraufhin er seinen Blick wieder auf ihre Gesichtszüge richtete.

Sie konnte darin in jenem einen Augenblick all sein Leid lesen, die quälende Dekade der formlosen Hingabe und Loyalität, den Schmerz des Schweigens und der verpassten Gelegenheit, das ausgehöhlte Dasein als Soldat. Sie spürte die Jahre in seinem Blick zerrinnen, Jahre des Ringens um Atem, Jahre des Opfers und wie die winzige, lebenserhaltende Flamme bedrohlich flackerte und zu erlöschen drohte. Sie küsste ihn.


Es war ein lichtgrauer Morgen des Mondes Goldblatt, als Muireall an Bord des Schiffes ging. Noch umschleierten die Hochnebel die Sonne, sodass alles in diffuses Licht getaucht war. Das milchige, weiße Strahlen versprach einen klaren Tag auf See und der beständige, doch gezähmt wirkende Wind eine rasche und ruhige Fahrt.
Muirealls Blick war auf den Hafen gerichtet. Sie gedachte der Menschen, denen sie hier begegnet war, mit denen sie debattiert und gefochten hatte, jener, deren Leben und Sterben für immer an dieses Eiland gekettet sein würde. Es war Schall und Rauch. Sie wandte sich ab und blickte auf den grauverschleierten Horizont, als die Segel gehisst wurden.

Das Gefühl von Asche auf der Zunge, ein bittersüßer Geschmack auf den Lippen.


*
Die Seele findet sich mit der Verzweiflung nicht ab, bevor sie sich nicht
allen Illusionen hingegeben hat.


Victor Hugo
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