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Windspiel
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Riordan Vincent Merat





 Beitrag Verfasst am: 21 Jul 2018 02:06    Titel: Windspiel
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21. Cirmiasum im Jahre 261, Gegenwart
Das erste, was Riordan spürte, war der flehende Drang seines Körpers, nach Luft zu schnappen. Bevor noch der Rest seines Geistes aus der Dunkelheit des Schlafes mit der Macht eines ungewollt geborenen Kindes in die schmerzhafte Realität des Hier und Jetzt geworfen wurde, hinterließ die Panik, nicht genug Luft zu haben, eine nur langsam verklingende, schmerzhafte Spur auf seiner Seele - in etwa so, wenn man ein heißes Eisen berührt, ohne sich wirklich zu verbrennen. Man betrachtet seine eigene Handfläche und erwartet eigentlich zumindest eine leichte Verfärbung zu sehen - doch am Ende ist da nichts, was für das Auge sichtbar wäre, sondern nur der im Kopf präsente Schmerz, beharrlich, wie ein hässlicher Dorn, den man nur durch noch beharrlicheres Ignorieren auslaufen kann. Diese Erkenntnis allerdings, lag für Riordan Vincent Merat in weiter Ferne: Er griff sich, noch im Aufwachen begriffen, an den Hals als wollte er die Hände des aus der Traumwelt in die Realität greifenden Alps abwehren - nur um mit dem ersten, unwillkürlich, panisch und hastig in die Lungen gepressten Luftzug zu merken, dass da nichts war. Zeitgleich spannten sich die Augenlider zurück - ein wundervolles Spiel synchroner Angst aufsetzend - und rissen die letzten Fäden in den Abgrund des Traumes zur Wirklichkeit mit einer Brutalität ab, die wie ein Faustschlag wirkte, das Martyrium des Schlafes dadurch allerdings umso schneller von der echten Welt distanzierte. Die anderen Mitreisenden, zum Teil bereits auf ihren gepackten Sachen sitzend, belächelten das unsanfte Erwachen zum letzten Mal auf dieser Reise, wie Riordan hoffte. Heute würden sie anlegen. Heute würde Gerimor seine neue Heimat sein. Ein Land, so alt wie die Welt selbst und so weit entfernt von Markus Umbresius Merat, wie es nur ging. Natürlich hatte jeder auf diesem Kahn einen Grund, die Königsinsel zu besuchen und - so vermutete Riordan - einige würden vermutlich auch wie er selbst nicht nur ein neues Kapitel im Buch ihres Lebens schreiben wollen, sondern viel mehr gleich ein gänzlich neues Werk beginnen. Als der Merat mit an die Brust gedrückter Tasche, seinem einzigen Reisegepäck, aus der Wiege seiner Hängemätte in die ihn belächelnden Gesichter blickte, hastig und nur kurz den Augenkontakt zu den Umstehenden suchend, hielt er es nicht für abwegig, dass auch andere vor ihrer Familie und den sich daraus erwachsenden Konsequenzen flüchteten. Doch wieviele, fragte Riordan sich, hatten die Reise nach Gerimor auf sich genommen, weil sie Todesangst vor dem Mann empfanden, der sie in den Bauch ihrer Mutter gepflanzt hatte? Der Merat schob sich, noch fahrig und schlaftrunken, aus der Hängematte. Ein plötzliches Gefühl, nackt und hifllos zu sein überkam ihn und ließ ihn an sich hinabsehen. Es war einer dieser Augenblicke in denen er die Blicke der anderen noch bohrender auf sich spürte als ohnehin schon. Immer dann, wenn er etwas tat, was nach allgemeiner Auffassung nicht der Norm entsprach - so wie jetzt - merkte er, fühlte förmlich, wie sein Umfeld ihn von sich isolierte, ihn förmlich zu einem Fremdkörper seines eigenen Volkes erklärte.

Soweit Riordan das betraf, hatten sie damit sogar nicht unrecht. Er verließ den Bauch des Schiffes und trat an Deck. Seine Lungen füllten sich erneut, diesmal mit der frischen, salzigen Luft, die über das Deck der Kogge schnitt, während der Hafen Bajards bereits in Sichtweite lag. Es war Zeit. Der Merat schloß die Augen, atmete erneut tief ein und genauso tief wieder aus und begann langsam zu spüren, wie die Anspannung wich, wie das schneidende Gefühl des Seewindes zu einem sanften Liebkosen seines Körpers wurde, einem Umschmeicheln, in das man sich gleich einem Federbett zurückfallen lassen könnte. In der Ferne wurde das Hintergrundrauschen der See vom Kreischen der Möwen begleitet, die den Seeleuten ihre Anwesenheit und die damit verbundene Hoffnung auf Futter ankündigten. Die Mundwinkel Riordans hoben sich sacht in dem Gedanken an das silbrig-weiße Federvieh, wie es sich über die von den Reisenden hinterlassenen Krumen hermachte und - wenn auch gegenüber Artgenossen nicht unrabiat - aber trotzdem in einer Einfachheit, die Riordans Artgenossen, den Menschen, oft nicht zu eigen war. Wenngleich er um ein gewisses Maß an Etikette, Benimm und die Regeln des Miteinanders wusste und - in den Mantel der selbst geschaffenen Distanz gehüllt - gerne den Eindruck des kruden Außenseiters angenommen hatte, ließ sich sein Verhältnis zu anderen Personen in der Regel doch auf eine recht einfache Wahrheit reduzieren: Riordan Vincent Merat konnte andere Menschen nicht leiden - wobei das in gewisser Weise auch jedes andere vernunftbegabte Volk einschloss. Er hatte nie verstanden, warum es zur Sitte, ja beinahe schon Tradition des Menschen geworden war, sich den Verlockungen unaufrichtigen Verhaltens hinzugeben, sich der Lüge wie einer Hure zu bedienen, die man für einfache Münze am Hafen aufgelesen hatte und das eigene Streben vor ein einträgliches Miteinander zu stellen. Die tierischen Bewohner der Wälder Werlentals hatten es dem selbstgewählten Exilanten in dieser Hinsicht stets einfacher gemacht: Das Tier als solches war ehrlich und - unter gegebenen Umständen - vor allem auch loyaler als die Schützlinge Temoras.

Auf der anderen Seite, so dachte Riordan als er die Augen wieder öffnete und sich aus der mütterlichen Umarmung der Seewinde schälte, hatte er im Haushalt von “Onkel Umbresius”, hinter vorgehaltener Hand auch “Mulmul Merat” genannt, auch wenig Gelegenheit gehabt, andere Erfahrungen zu sammeln. Mulmul. Die Mundwinkel des Reisenden zuckten erneut auf. So fernab des Einflussbereiches seines alten Herrn wirkte dieser Spitzname so komisch wie er klang und verlor sogar etwas von der Düsternis, die man damit verband. Riordan hatte sich mitunter gefragt, was der Rest der Familie von dem Treiben seines Vaters -wirklich- wusste. Noch immer konnte er den Schauer spüren, der sich wie ein Dämon an seinen Rücken klammerte, als Riordan die Erinnerung an den Tag nur für einen Moment aufbrechen ließ, an dem er die anderen Kinder gefunden hatte. Fetzen, verwaschene Bilder an das Regal der armen Seelen, die niemals geboren worden sind, zitterten sich durch den Gedanken, der so schnell in die Dunkelheit verwitterte, wie er gekommen war. Vorbei. Was blieb war das Wissen um die Wut darüber, die Onkel Umbresius jeden Tag empfunden haben musste, wenn er den einen Sohn sah, der es ins Leben geschafft hatte. Ein kurzlebiges Aufkeimen minderer Schuld schloß sich dem Gedanken an, als er an seine Mutter - vom Rest der Sippe nur ‘Tante Ilona’ genannt, dachte. Sie hatte ihm die Geschichte darüber, wie sie Riordan vor seinem eigenen Vater gerettet hatte, niemals erzählen können und war nun verdammt dazu, das alte Turmhaus von Mulmul mit ihm bis an ihr Lebensende zu teilen - den einen Ort, der nur kurz vor Riordans Abreise noch ein letztes Aufflackern des pulsierenden Lebens erleben durfte, bevor die Kerze am Ende ganz verloschen war. Wenn es einen Menschen gab, der ihn, so gesehen, niemals enttäuscht hatte und stets gut zu ihm gewesen war, war es Ilona Merat gewesen und Riordan hoffte, dass der Schwachsinn, von dem sie befallen war, seit er denken konnte, sie für die Grausamkeiten von Mulmul Merat blind sein ließ.

Die Rufe der Besatzung ziehen den Dorn der Dunkelheit jäh aus der Erinnerung des Reisenden als das Schiff vertäut wird. Der Geruch von Kaminfeuer, das Rauschen der sich wechselnden Stimmen von Händlern und Reisenden, die allerlei Waren tauschen drängt sich in seine Wahrnehmung und lässt ihn die Lebensader Gerimors erstmals sehen. Die wieselartig durcheinanderwimmelnden Menschen sind Riordan noch immer zuwider, doch wie so oft steht hinter jeder schwarzen Gewitterwolke auch wieder der Gedanke an die klare, reine Luft die auf jeden Sturm folgt. Und so kann auch Riordan Vincent Merat bereits hinter den Palisaden sehen, dass dieses alte Eiland nicht nur die Heimat verschiedenster Völker ist, sondern nach wie vor im Schoße der Schöpfung Eluives liegt, die, mit ihren Baumkronen und weitläufigen Gebirgen bereits hinter der Stadt mit ihren Verlockungen nach dem Exilanten ruft. Ein Lächeln formt sich erneut, als Riordan von Bord geht und keinerlei Drang verspürt, hinter sich zu blicken.
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Riordan Vincent Merat





 Beitrag Verfasst am: 22 Jul 2018 00:19    Titel: 2. Tick, Tack (10. Cirmiasum im Jahre 241, ca. 20 Jahre z.)
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10. Cirmiasum im Jahre 241, ca. 20 Jahre zuvor
Wenn man ein Bett mit frischen Laken bespannte, es glatt strich und sich der Duft des mit Minze und Lavendel versetzten Wassers, in welchem der Stoff gewaschen worden war, langsam in der aufgeschüttelten Luft ausbreitete, dann fühlte es sich stets für den Augenblick, den die Duftwolke sich in der Luft hielt, so an, als hätte ihn eine Art diffuser Magie für den Hauch eines Augenblicks in einen fernen Garten transportiert. Dieser ferne Ort, der Seelengarten, wie ihn Riordan für sich Jahre später selbst taufen sollte, war meist die erste Flucht des Tages, wenn er seine Aufgaben im Haushalt erledigte. Der junge Merat-Spross hatte stets bezweifelt, dass der alte Umbresius einen tieferen, erzieherischen Zweck damit verfolgte, seinen Sohn im Haus über Tag einzusperren und ihn den Haushalt erledigen zu lassen, als wäre er ein besserer Hausdiener. Die schwerste Zeit war die gewesen, als sein Vater ihn eines Tages aus dem Bett zog und beschlossen hatte, dass “der Faulpelz” sich endlich nützlich machen müsse. Also stand Mulmul Merat mit seinem Rohrstock neben Riordans sechs Sommer messenden Ich, das mehr schlecht als Recht die verschiedenen Aufgaben des Haushalts unter väterlicher Aussicht - dafür aber ohne Anleitung - zu lösen versuchte. Der Schmerz der Stockhiebe war ein umso effektiverer Lehrmeister gewesen und die Zeiten wurden für den jungen Riordan besser, als der Herr Vater zufrieden und sicher war, dass die Angst vor weiteren Stockhieben das Kind auch ohne Aufsicht zur Arbeit treiben würde. Dementsprechend hatte sich Riordan bis heute eine Blase erarbeitet, in der er durch die verschiedenen Aufgaben schwebte und sie mit den Annehmlichkeiten verband, die jenseits seines Zimmerfensters lagen. Die kindliche Gefangenschaft war durch die geheimen Orte, die nur in Riordans Verstand existierten, aber umso verlockender waren, damit auch erträglicher geworden. Tatsächlich hatte der junge Merat im Laufe der Jahre ein so taktiles Gespür für die inneren Zusammenhänge der Herrschaft von Vater Mulmul entwickelt, dessen Grundlage die große Standuhr im Flur des Hauses bildete. Eines grauen Tages, den der junge Riordan erneut im Haus zubringen musste und Vater Umbresius seinen Geschäften nachging, hatte er begonnen die Schläge zu zählen. Tick, Tack - bog sich Riordans Geist an diesem Tag erstmals dem Fluss des Uhrwerks, in dessen wiederkehrender Regelmässigkeit eine tiefe, verborgene Sicherheit lag. Tick, Tack - spielte die Zeit selbst ihr Lied, klopfte an die Tür der Ewigkeit und ließ sie in unerfüllten Augenblicken der Stille verstreichen. Tick, Tack. Immer wieder.

Der Friede im Haus von Mulmul Merat dauerte in der Regel etwa 36 000 Ticks und Tacks. Riordan hatte sie alle gezählt, war für die Dauer dieser Myriaden an Zeitpendelei den alten, trostlosen Holzdielen des Hauses entflohen, hatte das Halbdunkel des nach Verfall riechenden Hauses verlassen und folgte den kleinen Sternen, die im Dunkel der Zeitlosigkeit aufflackerten und sich unter ihm zu einem Nachthimmel formten, der Riordan Vincent Merat das Gefühl gab, schweben zu können. Die Zeit verstrich. Immer weiter. Steter Tropfen. Tick. Tack. Und der junge Merat stand daneben, darüber und darunter und zählte sie. Zählte jeden Tropfen. Bis am Ende das Glas, so filigran und so kostbar, wie es in seinem Verstand in Form gegossen worden war, zersprang. 36 000. Und. Eins. Das Entriegeln des Schließbolzens der Haustür kündigte - aus Sicht der Uhr rechtzeitig - aus Sicht von Riordan viel zu spät - die Ankunft von Markus Umbresius Merat an, der wenige Momente später im Flur stand und seinen Sohn fand, wie er - mit vermutlich romantisch verklärtem Blick - die große Uhr anstarrte. Es war auch nicht etwa so, dass Vater Mulmul überhaupt einen Gedanken daran verschwendete zu hinterfragen, was sein Kind dort tat. Vielmehr befand er mit der gesamten Schärfe seines Verstandes, dass sein Sohn nichts sinnvolles tat und er daran etwas ändern musste. Und während Riordan sich von seinem Vater unter dem Wolkenbruch einer anhaltenden Schimpftirade durch das Haus treiben ließ, verflüchtigte sich die Leichtigkeit, die erst am nächsten Morgen wieder in das Haus einkehren sollte. Wenn der Herr verschwand und das Haus seine Seele wiederfand. Der Schließregel seines Zimmers krachte in Riordans Geist in einem Echo nach wie der ferne Donner eines Sturmes, den man um haaresbreite verpasst hatte. Die Pergamente und das Schreibzeug auf seinem Tisch schoben sich in den Blick und wickelten sich um den vagen Gedanken aufkeimender Sicherheit, strangulierten die Hoffnung und forderten ein, dass der junge Merat-Spross die zusätzlichen Schreibübungen bis zum kommenden Morgen erledigt haben müsste.

“Das Ergebnis der Tatenlosigkeit ist stets mehr Arbeit, du elender Nichtsnutz!” schnatterte ein imaginärer Mulmul gleich einer pikierten Klapperschlange in den Geist des Jungen, als er sich an die Arbeit machte. Erst als Riordan Stunden später die Kerze löschte und das Fenster seines Zimmers den Blick auf den Sternenhimmel freigab, den er vom Schreibtisch seiner kleiner Stube durch das alte Glas beobachten konnte, glimmte der Gedanke an die Harmonie wieder auf, den er über Tag empfunden hatte. Und auf die einkehrende Harmonie sattelte sich der Schlaf als tapferer Reiter auf einem weißen Ross auf, der Riordan Vincent Merat in die Welt der Träume und die Erholung entführte - lange bevor er die 36 000 Ewigkeiten gezählt hatte.
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Riordan Vincent Merat





 Beitrag Verfasst am: 23 Jul 2018 16:34    Titel:
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20. Cirmiasum im Jahre 241, (noch immer) ca. 20 Jahre zuvor
Die Kunst, Mulmul Merat einzuschätzen und demzufolge seinen Strafen - oder auch einfach nur der Willkür seiner Wut - weniger ausgesetzt zu sein, erlernte Riordan tatsächlich schon recht früh. Es war eine simple Form der Konditionierung, wobei es strittig gewesen sein dürfte, wer hier wen nach seinen Wünschen in ein entsprechendes Handlungsmuster dressierte. Jedenfalls wusste Riordan, dass er für eine gewisse Zeit seinem Herrn Vater jeden Wunsch von den Lippen ablesen musste, nachdem er ihn kürzlich erzürnt hatte. Und genau das hatte der junge Merat getan: Die Betten waren pünktlich gemacht. Die Schreibübungen waren rechtzeitig erledigt und wenn es die Zeit zuließ, organisierte Riordan noch etwas Kirschmet, welches leicht erwärmt auf den alten Umbresius wartete, wenn er heim kam. Natürlich sorgten derlei Gesten nicht für so etwas wie ein Lob oder eine anhaltende Form der Zufriedenheit oder gar ein Stück Hausfrieden, der nicht unter der Permanenz von Vater Umbresius’ Peitsche den Rinnstein hinab floss. Aber es pegelte seine Wut ein und das war alles war der junge Merat-Spross derzeit wollte, verfolgte er doch einen ganz eigenen Plan.

Man darf sich hier durchaus fragen, welche Ereignisse dazu geführt haben müssen, dass ein Kind von gerade einmal 8 Lenzen beginnt, mehr oder weniger langfristig angelegte Pläne zu ersinnen, deren Zielerreichung ohne eine gewisse Arglosigkeit seines sonst vor allem durch Tyrannei auffälligen Vaters völlig unmöglich gewesen wäre. Am 20. Cirmiasum also, vollzog sich das übliche Ritual im Haus von Vater Mulmul Merat. Der Alte erhielt seinen Kirschmet, seine Hausschuhe standen bereit, der Haushalt war erledigt und eine Tafel aus Wildbret, Schwarzbrot und Schmalz wartete auf den Herren des abseits des restlichen Merat-Anwesens gelegenen Hauses. Man nahm zusammen und in Stille das Essen ein, ehe der Alte seinen Sohn entließ, um Mutter Ilona zu füttern. Die leeren Augen der Frau, die seine Mutter sein sollte, hatten schon lange die Bedeutung für Riordan verloren, nicht aber das Bedürfnis nach einer solchen, wie die anderen Merat Kinder - und selbst die Fanras-Flohsäcke - sie besaßen. Eine Umarmung, die Wärme der Person spüren, die einen auf die Welt gebracht hat und die in dem Alter dieses Jungen so viel mehr Bedeutung besaß als sie es je wieder tun würde, war so wertvoll wie ein Topf voll Gold an diesem Abend.

“Die Wolle, Junge. Du musst noch zum Markt und Wolle kaufen, damit ich dir die Hose stopfen kann.” Die Worte der Frau Mutter rissen Riordan aus dem Sehnen und Flehen und es brauchte einige Augenblicke, bis er eine Erwiderung gefunden hatte. “Es ist Abend, Frau Mutter. Der Markt hat nicht mehr offen.” “Oh.” Wann immer sie dieses Wort aussprach, spürte Riordan sein Herz ein Stück weit mehr brechen. Es war so klein, so unscheinbar und doch glaubte der Junge, dass sie in dem Aufflackern dieses Wortes erkannte, dass ihr Geist im Labyrinth der Verwirrung gefangen war und nie wieder herausfinden würde. Sie -wusste-, dass sie verrückt war und Riordan konnte sich keine schlimmere Strafe für einen Menschen vorstellen. Ihre Hand legte sich sanft auf Riordans Hand und sie lächelte unbeholfen. “Aber morgen gehst du ganz früh zum Markt, ja? Wir brauchen noch…” Da war es wieder. Das Stocken, welches einen zum Zeugen dabei machte, wie sich die alte Frau Mutter an ihre Erinnerung klammerte, sie ihr aber erfolglos durch die Finger glitt. “Wolle, Frau Mutter. Natürlich gehe ich morgen einkaufen.” Ein falsches und viel zu erwachsenes Lächeln des Kindes folgte. “Danke, du bist ein guter Junge.” Riordan lächelte sein Lächeln weiter, bis er die Stufen hinabstieg, um die Breischüssel auszuwaschen und den Tisch im Esszimmer freizuräumen. Schließlich trat er in den Türrahmen des Lesezimmers und klopfte an den Rahmen der Tür. “Ich bin bettfertig, Herr Vater. Alles ist erledigt.” Der Alte erhob sich und Riordan begab sich in Richtung seines kleinen Zimmers, trat hinter den Türrahmen und erwartete das Geräusch, welches die Tür machte, wenn Vater Mulmul sie schloss. Das Einrasten des Schließbolzens auf der anderen Seite zeigte an, dass er nun eingesperrt war - bis zum kommenden Morgen. Mulmul hasste es, wenn man ihn direkt ansah und am heutigen Abend war es Riordan nur genehm gewesen, denn der Alte hätte gesehen, dass der Junge etwas im Schilde führte. Was den Schließbolzen und das Einsperren seines Sohnes anging - das war in der Tat etwas komplizierer. Man hätte auf den ersten Blick darauf kommen können, dass der alte Mulmul damit eine Flucht seines jungen Sprosses verhindern wollte und mochte es ein gern gesehener Nebeneffekt gewesen sein. Aber der tatsächliche Grund war, dass Mulmul Merat nicht wollte, dass irgendjemand - weder sein Sohn, noch Mutter Ilona, Nachts durch das Haus gingen. Manchmal hatte Riordan seinen Vater hören können, wie er nachts durch das Innere des Hauses streifte und - da war er sich absolut sicher - mit jemandem sprach. Mitunter waren es sogar Streitgespräche, die Riordan fragmentweise mit anhören konnte, während es am nächsten Morgen niemals auch nur eine Spur von einem Besucher gegeben hatte. Keine benutzten Kelche, kein angebrochener Wein außer den Dingen, die ausschließlich Mulmul vorbehalten waren. Im Laufe der Jahre hatte Riordan beschlossen, dass er über den Schließriegel ganz dankbar war und nicht wissen wollte, was Nachts im Haus von Mulmul Merat vor sich ging. Tief in seinem Herzen offenbarte sich in diesen Nächten sogar eine stark verwurzelte Furcht, ein alarmiertes Gefühl, welches seinen Herzschlag schneller gehen ließ und dazu führte, dass sich die feinen Haare in seinem Nacken aufstellten. Die Nächte, in denen Mulmul durch das vermeintlich leere Haus wandelte waren zumeist jene, in denen die Nächte ihm stets dunkler vorgekommen waren.

Heute Nacht blieb es jedoch ruhig. Kein Knarzen der Dielen, nachdem Mulmul sich entfernt hatte, kein Scharren und Kratzen in den Wänden, keine plötzlichen Geräusche als würden Stühle gerückt werden. Und trotzdem wartete Riordan. Sein eigener Atem gab den Takt vor, führte langsam in eine Harmonie über, die der junge Merat zu dieser Zeit weder verstand noch so bewusst wahrnahm, wie er es später tun sollte. Mit einer Sanftheit, als könnte der Rahmen des kleinen Schiebefensters springen, wenn man ihn nur zu fest berührte, versuchte Riordan sein Tor in die Welt jenseits des Turmhauses zu öffnen - zum ersten Mal in seinem Leben ohne seinen Vater, zum ersten Mal ohne die führende Hand des großen, mächtigen und einschüchternden Mulmul Merat. Riordans Finger befassten das alte Holz wie eine auf der warmen Hand schwindende Schneeflocke, so flüchtig erschien ihm die Existenz einer von der Standuhr gemaßregelten Freiheit. Im Halbdunkel des Mondlichts bezeugten sein Tun nur die widerwillig glänzenden Sterne, die sich, gespannt lauernd immer wieder hinter den Nachthimmel erkundenden Wolken verbargen, als fürchteten auch sie, dass der junge Merat-Sohn bei seinem Handeln ertappt würde. Milde Frustration keimte in Riordan auf als das Fenster, wie ein ekelhafter, verbündeter Poltergeist im Dienste Mulmuls, nicht sofort nachgab. Es knarrte in aller Dezenz, aber doch mit dem Missmut eines unbeseelten Gegenstandes, den man von seinem Platz im Gesamtgefüge der Nacht stoßen wollte. Sekunden zogen sich so quälend wie ein Kuchenteig, ehe das Fenster sich mit einem raschen, aber letzten, aufbäumenden Fauchen öffnete. Das Fenster, gleich einem in Nacht geschlagenen Schmuckkasten, stand offen und der Duft der wahren Welt legte sich lockend um den jungen Merat.

Er überlegte nicht lange, noch gab es auch nur den Hauch eines Zögerns als Riordan aus dem Fenster kletterte und mit seinen nackten Füßen das kühle und leicht feuchte Gras betrat. Ein geräuschloser Wind umwehte ihn in immer wieder aufkeimender Umschmeichelung, als wäre er eine unsichtbare Katze, die sich, um Futter bettelnd, mit ihrem weichen Pelz um Riordans Körper schmiegte. Doch das flehende Miezen blieb aus, während die erst zaghaften Schritte das Merat-Kind vom Hause wegtrugen, geradewegs auf den in Schatten und Mondlicht gehüllten Wald. Die Bäume, das Gestrüpp und das Laub des nahen Forstes hatten sich in der Nacht zu einem geheimen Schattenspiel vereint, einem Theaterstück, das nach Zeder und Nachtfeuchte duftete, in dessen eigenem Momentgewitter ein fernes Knacken und Rascheln in aller Deutlichkeit sagte:”Ich bin voller Leben.”

Der Blick nach hinten, zurück zum Turmhaus, kontrastierte dazu in völligem Schwarz. Mulmuls Anwesen entbehrte sich jeglichem Zeichen von Leben, mühte sich nicht einmal mit einem Kerzenlicht, flüchtigem Kaminrauch oder anderen Zeichen von Bewohnbarkeit ab. Es hätte ebenso gut ein großer, fetter Fels sein können, der vor Jahrhunderten von einem Riesen dort vergessen worden ist - trostlos und der Witterung der Äonen überlassen. Die vom Haus abgehenden Weidezäune - das Vieh, welches sie einst einschloss, war längst verkauft - wirkte, als hätten verdorrte Tentakel aus Nachtgewirr noch vor Unzeiten versucht, nach dem umliegenden Leben zu greifen, bis das Monster im Herzen dieses Ungetüms nicht einmal mehr dafür die Kraft gehabt hatte. Das Herz hatte aufgehört zu schlagen, war einfach stehengeblieben und das Turmhaus hatte seitdem aufgehört, sich weiter zu bewegen.

Der junge Riordan blickte nach vorne, dem Wald entgegen, folgte dem wie Brotkrumen ausgelegten Konzert aus Knacken und Rascheln, ließ sich bereitwillig durch die schattenhaften Stämme gleiten, als umringe ihn eine stumme Schar aus allwissenden aber stummen Kreaturen, um ihn in seine Mitte zu nehmen. Riordan kannte das Konzept einer Taufe nicht, noch wusste er überhaupt etwas über Initiationsriten. Es war schlicht und ergreifend nichts, mit dem er in diesem Alter in irgendeiner Form berührt worden war. “Sei mein Schatten, Junge. Sprich nicht. Sieh. Betrachte. Aber fass’ ja nichts an!” hörte er Mulmuls Worte, die er wie ein Mantra zu jedem Anlaß hatte hören lassen und die nunmehr ein Hintergrundrauschen einer fernen, freudlosen Welt waren und die ihm nichts über das Pulsieren des Lebens beibringen konnten, welches in dieser stillen Unruhe pulsierte, brodelte und die es es virtuos verstand, subtil und kraftvoll - überwältigend gar - zugleich zu wirken. Auf einer Lichtung angekommen, richtete der Junge den Blick gen Himmel, verlor sich in dem grau-weißen Mond und seiner Abermillionen an Kindern und merkte nicht, wie er überwältigt bereits auf die Knie’ gesunken war. Wie ein aufgeschlagenes Bett aus Laub sanken seine Beine einen Fingernagel breit in den Waldboden, dessen Mischung aus welken Nadeln und feucht-modrigem Laub die konsequente Fortsetzung des Nachtwindes vor dem Turmhaus war, welcher ihn so sanft willkommen geheißen hatte.

Eine Frische fand sich im Körper des Jungen - keine Kälte, wie man es ob des dünnen Nachtkleides hätte vermuten können - sondern ein Beleben, als würde sein Körper, was er freilich nicht tat, im Innern levitieren, als hätten seine Lungen niemals eine frischere Luft geatmet, als wäre die Luft, die er nun in seinen Körper einsog, eine neue Erfindung eines göttlichen Feinschmiedes, auf dessen Werkbank die verschiedensten Lüfte und Düfte der Welt entstanden. Als der Blick des Jungen sich klärte, sich von der großen Scheibe abwandte, die da hoch oben so unerreichbar thronte, waren es die Käfer, die Falter und die sonstigen Kriechtiere, die sich ihm zuerst offenbarten. Ihre Bewegungen entzitterten sich den Schatten der Bäume, hoben sich in sanften Grautönen ab, schmetterten und flatterten in harmonisch-erratischen Mustern an ihm vorbei. Ihre Berührungen auf seiner Haut kitzelten und weckte die Neugier des Jungen. Ein Käferbauch mit Flügeln, dessen Namen er nicht kannte, hatte sich auf seinen Handrücken gesetzt, den der Junge jetzt vor sein Gesicht hielt und dem sanften, fluglosen Auf- und Ab der Flügel zusah, wie der Leib und die halb durchsichtigen Flügel sich in tausend Silbertönen am Mondlicht brachen, bis das Käfertier den Besucher genug erkundet, auf seiner Hand mit einem Kitzeln im Kreis getapst und schlussendlich in den Nachthimmel und das endlose Grau und Schwarz entschwunden war.

Das Plötzliche, das schnelle Abheben dieser eigentlich so belanglosen Kreatur hieß den Jungen kurz den Atem anhalten, verwundert, überrascht und doch: Glücklich. Ein glucksendes Lachen entsieg der Kehle des Kindes, das sich bald in ein helles Kinderlachen, ungehemmt und fröhlich entlud und der junge Riordan, bar jeder Etikette eines Erwachsenen, wie ein Kobold im Mondschein tanzte. Und auch so einen hatte er noch nie gesehen, mochte sich aber gerne vorstellen, dass sie so tanzten, wie er sich, lachend und glückselig, ein Band knüpfte, welches bis zu seiner Flucht nach Gerimor nie wieder abreißen sollte. Nur eine Träne bot es sich aus, am Ende des Tanz- und Lachgelages aus seiner Augenecke in die Unendlichkeit der Nacht zu schwimmen: Denn Riordan hatte mit flüchtiger Bestürzung festgestellt, dass dies der erste Tag in seinem Leben gewesen war, an dem er aus vollem Herzen gelacht hatte und wahre Freude verspürte. Es war nicht etwa so, dass der junge Merat nicht zwischen Freude und Traurigkeit unterscheiden konnte, wohl aber hatte es Zeit seines Lebens diesen einen, väterlichen Schatten gegeben, der ihn erst in diesem Moment tiefster Einigkeit mit sich selbst merken ließ, dass Mulmul Merat nicht nur ein Haustyrann, sondern auch ein fleischgewordener Fluch gewesen war, der es geschickt und subtil verstand, die Freude aus den Herzen derer zu rauben, die ihn umgaben. Riordans Schlucken fühlte sich wie der schwere Schlag eines Stundenzeigers an, der die Welt unbarmherzig weiterbewegte und alles vergänglich werden ließ - egal wie schön es eben noch gewesen war.

Das schwarze Haus, der unbarmherzige Fels mit dem Turm des ebenso schwarzen Mannes, der Mulmul Merat war, drängten sich brachial wieder in seine Gedanken, drohten, bellten und griffen nach seiner Angst und lachten über den jungen Riordan. Tausend Augen in der Dunkelheit hinter dem Wald lachten, als der Junge sich der Harmonie des Waldes langsam entrissen fühlte und zum Haus zurückschlurfte, hoffend, dass das sich ausbreitende Unwohlsein nicht der Vorbote dessen war, was er vorfinden könnte: Den Herrn Vater in seiner Kammer stehend, zornesrot hinter dem Fenster, dem so übermächtigen, dunklen Fenster, das ihn wieder verschlucken und in die Schwärze zurückziehen wollte. “Bitte nicht..” flehte Riordan zu sich selbst und die vormals einsame Träne fand ihre späteten Verbündeten in aufkeimender Furcht. Schnelle Schritte, erst ein Hasten, dann ein Laufen, dann ein Rennen, vorbei an der Frische, die neue Luft, diese wundervolle Erfindung, hinter sich lassend, erreichte er das Turmhaus, kletterte in das Zimmer und sah … nichts. Die Welt hatte sich nicht weiterbewegt. Das Haus war still. Riordan atmete erleichtert aus und weinte dennoch. Der Gefühlsstrudel musste abregnen, das Aufwallen der Furcht brauchte ein Ventil. Er schloss das Fenster und erkor sein Bettgedeck zum Empfänger seiner Tränen, während sich flüchtig und flehend seine Gedanken an einen Anker klammerten, der ihn zu stützen suchte, wie die Mutter, die genau dies nicht vermochte: Das erste Lachen strich mit der Sanftheit seiner eigenen Vorstellung über seine Wange und wiegte den Kinderleib in einen Schlaf, der lange nicht so erholsam gewesen war.

Von der schwarz beschatteten Gestalt, die im obersten Zimmer des hölzernen Turmes gestanden und Riordans Rückkehr aus dem Dunkel der hohen Kammer beobachtet hatte, hatte der junge Merat demnach nicht den Hauch einer Notiz genommen. Und selbst das dunkle Haus hätte nichts von der Präsenz seines Hausherrn erahnt, wäre da nicht dieses elende, knirschende Mahlen der Kiefer gewesen, die wenig subtil anzeigten, dass die Pforte zur Freude bisweilen auch ein weiteres Tor öffnete: Nämlich jenes zum Zorn derer, die der Freude schon lange den Rücken gekehrt hatten.
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Riordan Vincent Merat





 Beitrag Verfasst am: 29 Jul 2018 13:52    Titel: 4. Der Preis der Freiheit
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28. Cirmiasum im Jahr 261, Gegenwart
Die Welt sah zu, wie sich Sonne und Mond in ihrem ewigen Kreislauf von Licht und Schatten die Hand gaben, als sei das Spielbrett von Eluives Schöpfung nichts weiter als eine Münze, von einem findigen Taschenspieler in einer fernen Spelunke zur Erheiterung seiner Zuschauer kunstvoll in Rotation versetzt.

Riordan hatte sich seit seiner Ankunft stets Zeit genommen, um dem Übergang beizuwohnen, dem riesigen, roten Feuerball zugesehen, wie er in der Endlosigkeit des Ozeans verschwand, nur damit der Mond sein silbrig-fahles Licht auf die Welt schicken und Gerimor das Zwielicht schenken konnte. Das Mondlicht im Wald, es hatte auch heute noch eine magische Bedeutung für den aus Werlental stammenden Mann. Auf den Schwingen der Nacht kam die Freiheit, die er als Kind erstmals gespürt und gekostet hatte, die sich in seiner Hand entfaltet hatte, wie ein junger Spatz, der im Schutze seiner Hand seine Schwingen auszubreiten begann und zu seinem ersten Flug ansetzte. Er hatte seit diesem Tag das erste mal einen Blick in die Welt erhalten, den er bis dahin weder gekannt hatte, noch in seiner ganzen Konsequenz begreifen konnte, als er erstmals vom Nektar gekostet hatte, der in Absenz zu Mulmul Merat gebraut worden war.

Gerimor war bis seither ein Geschenk gewesen. Das Eiland entfaltete sich vor Riordan Vincent Merat in seiner ganzen Schönheit und bescherte ihm erstmals in seinem Leben etwas, das man Unbeschwertheit nennen konnte. Der Wald teilte seine Gaben mit ihm, wenn er ihrer bedurfte und der Kontakt zum Rest seiner Sippe war schneller hergestellt, als er dachte. Für diesen Fall hatte Riordan sich zwar ein Konzept zurechtgelegt, hatte aber kaum damit gerechnet, dass er sich so schnell zwischen die Reihen der Fanras’ und Merats drängen konnte, wie es am Ende geschehen war. Er schätzte ihre Gesellschaft mit der Ausnahme einiger weniger nicht besonders, wollte aber um jeden Preis vermeiden, dass der alte Mulmul es vermochte, ihn über den nach Gerimor ausgeworfenen Arm der Familie ihn in irgendeiner Form zurückzuholen. Wie sich erfreulicherweise herausstellte, hatte die Skepsis, die der Rest der Familie gegenüber seinem Vater hegte, auch die Überfahrt überstanden. Das war nicht nur beruhigend, sondern erleichterte es ihm auch, eine gewisse Distanz zur Familie zu wahren. Wer auch immer das Familienschwert finden würde - es war Riordan im Grunde gleich. Hier, inmitten der Wälder der Königsinsel, inmitten der Harmonie die ihn so liebevoll umschmeichelte, wie es der Leib einer Frau nie gekonnt hätte, verloren derlei Zwiste ihre gesamte Relevanz für ihn. Die Natur dieser so einzigartigen Insel war für ihn nicht nur die Krippe seines Wohlergehens, sondern vor allem auch Zufluchtsort. Bis zuletzt sorgte das ameisenhafte Wimmeln der Menschen bei ihm dafür, dass er sich diesem unüberblickbaren Haufen an Menschenleibern entziehen wollte, keinesfalls von ihrer Mitte kosten und erst recht nicht in ihrer Menge baden wollte. Es war ein unbestimmtes Unbehagen, was ihn stets von den großen Orten abtrieb und die Ruhe der Wälder umso erstrebenswerter wirken ließ. Den Markt in Berchgard hatte er darob auch nur überstanden, indem er zunächst in endlosen Zyklen um den Marktplatz gewandert war, bis er am Ende doch an einem Stand etwas erstand - der Umstand, dass die Thyrin Hekja ihm zuvor bekannt gewesen war, erleichterte ihm das Unterfangen unendlich, wenngleich er das Weite dennoch so rasch suchte, wie es ihm möglich war.

Die Menschen. Die Anderen. Sie alle wollten schliesslich etwas von ihm. Ihre Fragen drangen auf ihn ein, zwangen ihn zur Selbstoffenbarung und verloren sich in der Belanglosigkeit des Miteinanders. Wie Riordan derlei hasste. Ob nun durch die Harmonie der Wälder bestärkt, durch die innere Ruhe, die ihm treuer Begleiter geworden war, oder nur aus der Laune einer plötzlich auftretenden Güte heraus, hatte er die Silhouetten einiger Menschen kürzlich nicht einmal gemieden, als sie im Unterholz auftauchten, sondern sich ihnen vielmehr sogar noch genähert. Wie sich am Ende jedoch zeigte, weckte Freundlichkeit widerum auch Begehrlichkeiten und wo er sich um Verständnis und Einträchtigkeit bemühte, begann die Zeit sich zäh zu biegen und ihn mehr und mehr mit der Welt derer zu belasten, die sich im Drama das Miteinanders sonnten, sich Probleme schufen und anschließend von anderen Hilfe erwarteten. Aus einer Stunde, einem Nachmittag, einem Abend erwuchsen sich Ansprüche, die Riordan fremd gewesen waren und auf die er mit wachsender Irritation und bald schon mit Distanz reagiert hatte und bereitwillig dem Ruf der Einsamkeit gefolgt war, wenn das Drängen der Menschen zu groß wurde. Der Merat-Abkömmling hatte sich zunächst gefragt, ob der Preis der Freiheit, die er hier wie eine süße Droge zu schätzen gelernt hatte, eben jener war, dass man sich nicht an das Miteinander binden durfte.

Für die Tierwelt galten hier freilich andere Regeln: Zunächst war ihm nur ein streunender Hund aus Adoran gefolgt, offenbar in der Hoffnung, dass ihn am Ende von Riordans Weg eine Mahlzeit erwarten könnte - und die Persistenz des Tieres wurde in der Tat belohnt. Dies war ein Konzept, welches er ebenfalls auf Gerimor wohl erlernt hatte: Tiere kannten ehrliche Dankbarkeit. Sie übten sich nicht in Niedertracht, Lüge oder überraschenden Erwartungen. Sie waren mitunter wahrhaftiger als die Menschen, weshalb der Merat bald schon die Einsamkeit des Waldes in beständiger Regelmässigkeit gegen die Besuche der streunenden Hundetiere eintauschte, sich an ihrer Gesellschaft erfreute und beschloss, dass die am Himmel vorüber ziehenden Wolken, seinen Leib in eine Bucht aus caninen Fellträgern gebettet, der Inbegriff der Perfektion waren.

Diese Eintracht verließ Riordan mittlerweile nur noch mit gutem Grund - so auch an diesem Tag. Der Entschluss, vor dem Silberfall der Nacht noch an die Ausläufer Varunas zu reisen, in der Hoffnung für eine bestimmte Tinktur Grabmoos beschaffen zu können, führte den Merat unter der Nachmittagssonne zunächst bis nach Bajard, wo er ein noch ausstehendes Geschäft mit einer Dame zweifelhaften Rufes erledigen konnte - zumindest ließ die Natur dessen, was sie von ihm auserbeten hatte, darauf schließen. Der Handel jedoch versprach eine lohnende Münze für wenig Aufwand und wo es nicht der Sog der Mitmenschen war, die ihm seine neu gewonnenen Flügel mit ihrer Gesellschaft stutzen konnten, war es mithin ein Mangel an Zahlungsmitteln, der einen Zaun um seinen Aktionsradius bestimmen konnte. Und dieser war heute etwas gewachsen. Was die Freiheit kosten mochte, bemaß sich also mithin auch in einer Menge geprägter Münzen. Er hatte Bajard schnell erreicht, weshalb er die Redseligkeit seiner Gegenüber gleichwohl nicht verstreichen ließ - wenngleich wenig erstrebenswert, hatte die Erfahrung gezeigt, dass so manch’ geliehenes Ohr anderntags eine Tür öffnen konnte, die sonst verschlossen geblieben wäre. Darüber hinaus hatte das Fräulein sich die Gesellschaft eines Rabentieres erschlichen, für Riordan also durchaus ein Grund, einen Blick in das Fenster der Mitmenschlichkeit zu werfen. Er bewunderte die Intelligenz dieser glanzvollen Tiere, wenngleich die ihnen nachgesagte Nähe zum Seelenfresser stets ein Grund war, ihnen nicht zu sehr zum Freund zu sein. Es gab einen Unterschied zwischen Glaube und Aberglaube - das wusste Riordan und in Bezug auf die Rabenvögel hatte er noch nicht vollends entschieden, auf welcher Seite das schwarz-gefiederte Tier stand. Auch an diesem Tag lag in den Augen des tiefschwarzen Tieres eine Tiefe, die einem Bannspruch gleichkam, einem Sog den man um seine Beine spürt, wenn man durch hüfthohes Gewässer watet und nur schwer gegen die Strömung angehen kann. “Ich hole eben das, was ich euch schulde.” verhallten die Worte seiner Handelspartnerin im Nirgendwo der Welt, während Riordan das Tier betrachtete, welches seinerseits seinen Blick so starr erwiderte, als seien ihre Augäpfel Gestirne, die man auf eine Konstellation gesteckt und sie in perfekter Einigkeit angeordnet hätte. War das Fräulein noch da? War sie schon gen Bajard gegangen? Riordan wusste es nicht, waren doch diese nachtschwarzen Brunnen ewiger Weisheit in den Augenhöhlen des Rabenvogels so vereinnahmend, dass das Umfeld in den Hintergrund getreten war, ehe sie ihn eintauchen ließen, der schwarze Spiegel des Raben sich teilte und zahllose, gewaltsame Tode aus den Augenbrunnen plätscherten als hätte jemand an der Förderkurbel mit besonderer Vehemenz gedreht. Sterbende Menschen, in Qual und Pein vergehend, panisch und verzweifelt, purzelten aus der Unruhe der tiefen, schwarzen See in das Augenband von Rabe und Mensch, gleich einem Hammerschlag, der einen Dorn der Gewalt in den Kopf des Mannes getrieben hatte, dessen Interesse für das Rabentier zunächst nur unverfänglich und nun der Hilflosigkeit preisgegeben war. Noch ehe der Geist so recht begreifen konnte, was er sah, führte die Welt Riordan so schnell wieder zurück in die Umwelt, wie er ihr entrissen worden war und ließ ihn zurück mit der Frage ob das, was er soeben durchlitten hatte, real gewesen war. Der irritierte Blick des Fräuleins zu seiner rechten schien ein vager Hinweis darauf, dass nur er gesehen hatte - oder zu sehen geglaubt hatte - was ihn plötzlich so konzeptlos erscheinen ließ.

Ein weiterer Blick zum Raben, der nun wieder wie das harmlose aber weise Tier wirkte, für das er anfangs gehalten wurde, machte die Situation nicht besser und Riordan beschloss, dass es Zeit war, schleunigst das Weite zu suchen - denn soweit es ihn betraf, gab es keinen Grund, diesen Gedankenbildern weiter nachzuspüren - nicht einmal im Ansatz. Zur sichtbaren Verwunderung des Fräuleins suchte Riordan rasch das Weite und überdachte bei der folgenden Kutschfahrt noch einmal den Gedanken, am späten Tage die Grabstätte bei Varuna aufsuchen zu wollen. Am Ende war es die Erkenntnis, dass er nun schon beinahe am Ziel war und es Verschwendung wäre, nicht zumindest einen Blick zu riskieren.

Riordan erreichte bald schon darauf die dunklen Überreste der einst großen Stadt, die bereits aus der Ferne das Schaudern aufwallen ließ, das er auch stets in Mulmuls Anwesenheit verspürt hatte. Mit den Jahren war es weniger präsent, kontrollierbarer geworden und doch umwehte diese Ruinen der gleiche Hauch von Verdorbenheit, den Riordan auch im Kern von Markus Umbresius Merat stets vermutet hatte. Die Tatsache, dass er an dem Ort, den er aufzusuchen gewillt war, auf wandelnde Tote treffen würde war mittlerweile zu einer bitteren Normalität geworden, ohne dass es dadurch weniger akzeptabel wurde. Das Fräulein Silberfall hatte Tage zuvor noch von den Rabendienern und Krathor gesprochen, ein Thema, welches Riordan dazu veranlasst hatte, ihre Anwesenheit zunächst zu meiden. Es gab zwar keine Hinweise darauf, dass sie mit diesem Pack im Bunde stand, doch war er der festen Überzeugung, dass alles schlechte den Weg zu einem leichter fand, wenn man nur oft genug darüber sprach. Und im Falle des Seelenfressers hatte er wenig Interesse daran, über den Inhalt von Schauermärchen hinaus mit seinen Dienern Bekanntschaft zu machen. Ein kurzer Gedanke flammte im Zwiedenken auf, ließ ihn an den Raben vom Lagerfeuer denken, als er den Friedhof betrat. Vielleicht war es am Ende doch nicht so abwegig, dass die gefiederten Tiere die Boten des Seelenfressers waren. Umso schneller überführte Riordan also die wandelnden Toten, die sich ihm näherten in einen Zustand vieler Einzelteile, eingeläutet durch das Seufzen und Schmatzen der zerfallenden Körper, von zu vielen Wunden und Schnitten ihrer Stabilität beraubt. Angewidert und mit Ekel im Blick wischte Riordan die Klinge ab und wollte soeben die Gräber nach dem begehrten Moos absuchen, als das sonst so lebhaft in seinen Adern pulsierende Blut förmlich rückwärts zu fließen begann.

“Ah, ein Gast. Willkommen in meinem Heim, Fremder.”

Da war sie wieder, die Dunkelheit, die er in seinem Rücken spürte, die Kälte, die ihm in die Glieder kroch und der lange Schatten des unbestimmten Bösen, dem eine Form gegeben wurde. Der Stab mit Rabenikone sah ihn so starr und unbestimmt an, wie es die schwarzen Rabenaugen zuvor getan hatten und die behelmte und berobte Figur hüllte sich in einen Mantel irritierend-wahnsinniger Gastfreundschaft, welche die Freundlichkeit der gesprochenen Worte so perfekt in eine Todesdrohung zu verdrehen wusste, dass sich Riordan der Magen umdrehte. Der Blick wanderte über die möglichen Fluchtwege derer sich zu diesem Zeitpunkt nur wenige boten: Hinab in die Gruft - oder, die weniger erstrebenswerte Variante: Kämpfen.

“Seid versichert, dass Euch von mir keinerlei Gefahr droht …”

Der Teil von Riordan, der nichts weiter wollte, als diesem Ort zu entfliehen, der einem scheuen Reh gleich fürchtete, dass er - ohne es zu wissen - zur Schlachtbank getrabt war, sah der behelmten Kreatur entgegen. Gab es eine verdrehte Logik in diesem Wesen? Eine, die am Ende die dritte Alternative war, die ihm seine durch die Finger gleitende Freiheit zurückgab, wenn er nur lange genug durch hielt? Hoffnung, du ekelhafter Sporn, du Verführer.

“Ich möchte Euch als Gastgeber nicht im Vorgarten stehen lassen.”

Die kalte Hand wies zur Gruft, deren Stufen Riordan wie in Ketten gelegt erklomm, am Ende weder über den Mut verfügend, sich der schwarzen Kreatur zu stellen, noch auf flinke Beine vertrauend. “Nur ein kleiner Schritt. Bei nächster Gelegenheit, nehme ich die Beine in die Hand.” dachte sich Riordan Vincent Merat, erstmals ohne einen Ausweg seit seiner Ankunft auf Gerimor.

Die dunklen Korridore der Krypta vor Varuna empfingen den Merat mit der Trostlosigkeit der rastlosen Toten, die darin wohnten. Uralte Gänge vereinnahmten seine Sinne mit der feuchten und modrigen Luft, durch welche der Diener Kra’thors Riordan wie einen Fremdenführer geleitete. Die vermutlich nur gespielte Noblesse eines Hausherren, der einen geliebten Gast empfing, wirkte so verdreht, so fernab dessen, was der Verstand von Riordan kannte - kennen wollte - so dass es mit jedem Schritt schwerer wurde, die vermeintlich höfische Freundlichkeit, die Glorifikation dieses tiefen Übels, was hier unten wohnte, zu ertragen. Der Diener Kra’thors erging sich in der Geschichte über Varuna, den Fall der Stadt und die darunter begrabenen Toten, die sie noch immer bewohnen. Was für den Rest der vernunftbegabten Welt eine furchtbare Tragödie, war für diesen verdrehten Mann offenbar nichts weiter als eine neue Gelegenheit, schlicht eine andere Seite des Buches der Existenz. Riordan spürte erneut Übelkeit in ihm aufsteigen, während die Hoffnung sich immer weiter zu einem schwachen Flackern im dichter werdenden Nebel vertaner Gelegenheiten reduzierte, je weiter er sich dem Ausgang entfernte. Das Klackern und Schmatzen der rastlos ins Widerleben geschlagenen Leichen und Skelette hörte sich indes an, wie das Lachen derer, die schon lange vor ihm in die gleiche Falle der Hoffnung getappt waren und dafür bezahlt hatten.

“Kommt, ich zeige Euch meinen Garten.”
lockte die Stimme des Mannes, der sich einem der schlimmsten Übel unserer Welt verschrieben hatte. Ein Garten. Riordan schöpfte erneut, naiv und in völliger Unkenntnis, die Hoffnung, in einem grünen Garten aufzuwachen, während sich die dunklen und feuchten Gänge nicht nur um ihn selbst, sondern um seinen Geist zu wölben drohten. Die Krypta mutete an, wie die Innereien eines übermächtigen und uralten Kolosses, durch dessen Lebensadern er wider freien Willens geführt wurde, bis sie schließlich in der Tat an so etwas wie einem Garten Halt machten, einem verdrehten, feuchten Ort, aus dem Pilze wie golemgleich empor gewachsen waren und ihm inmitten dieses Strudels aus Totenwahn am Ende doch zunächst ein Hoffnungsanker waren: Die Natur besteht selbst in dieser tiefen Dunkelheit, in diesem Meer aus Widernatur - zumindest klammerte sich Riordan an diese Hoffnung eben solange, bis der Rabendiener ihm erklärte, wie er diese eigentümlich-prachtvollen Gewächse gezogen hatte. “36 Leichen brauchte es, bis die Sporen einen Pilz dieser Größe hervorbringen konnten.” drang das Echo des Wahnsinns an den Geist des Mannes, dessen eigentliches Ansinnen, nur für ein wenig Moos nach Varuna zu reisen, völlig aus dem Verstand getilgt war. Galle kratzte an seinem Gaumen, während er zwischen dem aus Tod geborenen Pilz und dem fauligen Atem eines wandelnden Toten in seinem Rücken den Weg in die Normalität suchte. Er fand ihn nicht.

“Kommt, ich zeige euch die große Halle.”

Wie ein Kunstmäzen, der einem Interessierten die Wunder eines begabten Werkmeisters zeigt, erging sich der Rabendiener in allerlei bunten und gleichsam verstörenden Einzelheiten über den Fall Varunas, dessen Begeisterung so abartig wie ekelerregend war - und doch war das Kitzeln im Rachen, das Aufsteigen der Übelkeit mit jedem weiteren Detail, mit jeder weiteren Information dabei abzuebben - weniger aus Sympathie und schon gar nicht aus Akzeptanz, sondern weil Riordan, nun bereits seit Stunden in diesem Labyrinth aus dunklem Gestein und Verwesung, mit einer Sache vollständig abgeschlossen hatte: Seinem Leben. Dieser Diener des Seelenfressers würde ihn nicht mehr entkommen lassen, sondern ihn langsam seinem eigenen Leben entheben, seine Seele von seinem Körper trennen und ihn sich dienbar machen, wie er es offenbar mit den Kreaturen in dieser verwinkelten Ebene des unmittelbar Bösen schon oft getan hatte. Trostlosigkeit schlug Hoffnung, wenn die Keule nur groß genug war.

Die Ausführungen des in Dunkelheit gehüllten Dieners endeten damit, dass er ihm von dem Fürsten Varunas erzählte - einstmals entweder ein großer und gütiger Mann oder die Ursache für den Fall der einstmals prachtvollen Stadt. “Ich glaube ein Gast mit solch guten Manieren und so gebildet, wie ihr es seid, dürfte sogar zum Fürsten vorgelassen werden.” setzte der Kra’thorianer seinen wortgewordenen Wahnsinn fort. Riordan versuchte derweil nicht einmal mehr, Widerstand zu leisten und fragte sich lediglich zwischen den Wellen des in ihm aufwogenden Wahnsinns, ob sich damit am Ende das Gleichgewicht auch für ihn einstellte: Alles Gute hatte einen Gegenpart. Und ihm war es zuletzt äußert gut gegangen. Holte sich nun die Welt selbst zurück, was ins Ungleichgewicht geraten war? Hatte er am Ende selbst verschuldet, was ihm widerfuhr?

Mit wachsendem Unglauben musste Riordan beobachten, wie der Diener des Seelenfressers die Überreste zweier Leichname wieder auferstehen ließ. Die eine Kreatur, Überreste eines Kriegers offenbar, seine Wehr von Schlägen und Stichen durchlöchert und verbeult, die Klinge und der Schild alt, verrostet und schartig, erhob sich wie ein aus unheiliger Magie rekonstruierter Gefolgsmann und Riordan glaubte selbst in diesem widernatürlichen Zustand die militärische Strenge des einstigen Inhabers dieses Leibes sehen zu können. Die andere Kreatur, ein Magus vielleicht, mit Fetzen berobt, einen alten, knorrigen Stab in seinen fleisch-fauligen Händen haltend, erhob sich mit gleichem, erzwungenen Enthusiasmus. Beide Kreaturen flankierten Riordan, reihten sich wie Leibwächter aus den Tiefen des Todes an seine Seite, als der Rabendiener erklärte:”Wenn ihr vor den Fürsten tretet, braucht ihr Gefolge.” Er lachte nicht, doch das Kichern des aufkeimenden Wahnsinns war im Geiste des Merat so hörbar, als wäre es tatsächlich über die Lippen des Rabendieners gekommen.

Riordan hatte bereits vormals bemerkt mit welcher unheiligen Leichtigkeit der Diener des Seelenfressers zwischen den Untoten wandelte und auch hier schritt er an Guhlen und sonstigen Leichnamen einfach vorbei. Ihm hingegen, machten die rastlosen Toten es jedenfalls nicht so leicht. Die Schatten seiner widernatürlichen Eskorte im Schlepptau, näherten sich in diesem Gang einige Leichen sehr zielstrebig. Unsicherheit und das Schwert der Todesangst hingen erneut über Riordan, unschlüssig ob hier und jetzt, in diesem Gang, das Ende der ‘Führung’ eingeläutet würde. Ließ er ihn nun Kämpfen, bis es vorbei war? Der Diener des Seelenfressers schien so unbeeindruckt wie man es nur sein konnte, wenn man sich außerhalb der Welt wähnte, wie die Lebenden sie kannten.

Der faulige Geruch des Toten stieg Riordan erneut in die Nase, die süßlich-käsige Verwesung, welche direkt und erneut wieder dazu führte, dass sein Magen sich nach außen drehte. Die feucht-schmatzenden Arme des Untoten legten sich eben noch um die Schultern des Merat, als sich sein Körper nach hinten bog. “N.. nehmt es weg..!” keifte Riordan. Doch der Rabendiener tat nichts dergleichen. Er schwadronierte in der Blase seiner eigenen Begeisterung darüber, dass die Bewohner Varunas sich so sehr über Besuch freuten, dass sie der Umarmung eine besondere Bedeutung beimaßen. Die fauligen Zähne, soweit vorhanden, traten aus dem Leichnam hervor als er zum Biss ansetzte und Riordans letzter Widerstand gegen das unlichte Treiben fiel:”Helft mir!” brüllte er in formvollendeter Hiflosigkeit und mit der Verzweiflung eines Mannes, der im Angesicht des Todes nach jedem Strohhalm greifen würde, um am Ende lebend wieder ans Tageslicht treten zu können. Wenngleich da kein besonderes Band war, keine besondere Bindung zwischen ihm und den Untoten an seiner Seite, sondern nur das Kommando des Rabendieners, ruckte Bewegung in den Skelettkrieger, der den Leichnam mit einem Schildschlag von Riordans Seite prügelte. Das Klackern der Knochen wirkte beinahe schon wie eine Herausforderung an den befohlenen Kontrahenten, der, einzig ein Knecht seiner willenlosen Triebe, dem knöchernen Aggressor entgegentrat und doch am Ende hilflos zusehen musste, wie er, der Leichnam, Hieb für Hieb in Scheiben geschnitten wurde.

Als die Kreatur scheinbar besiegt war, stellte sich der Skelettkrieger wieder an die Seite Riordans, als falle er wieder in den Schlaf des widernatürlichen Wächters, der er vormals gewesen war. Der Merat indes kämpfte gegen den inneren Schreikrampf an, den seine Vernunft vollführte und der seine Gesichtszüge voll des Unglaubens und der Konsternierung in der realen Welt zurückgelassen hatten. Er hatte soeben etwas befehligt, was keinen Befehl hätte annehmen, geschweige denn, hätte existieren dürfen. Die Tore zum Wahnsinn standen weit offen und Riordan war im Taumel seines Labyrinths nun vollends verloren, während er den Skelettmagier ansah - der über den gesamten ‘Kampf’ hinweg tatenlos geblieben war. Die leeren Augen sahen ihn mit dem Wissen über eine Welt an, die nur Dunkelheit kannte und als hätte das untote Wesen in seinem Blick eine unausgesprochene Frage gesehen, begannen die knöchernen Finger klackernd zu schnippen - und der in Stücke gehackte Leib des Untoten begann aus sich heraus Feuer zu fangen und langsam nieder zu brennen.

Als die Delegation ihren Weg fortsetzte, merkte Riordan erstmals, dass der taube Geschmack von Fäulnis seine Zunge nicht mehr verließ, so oft er auch seine Zunge an den Zähnen rieb. Gab es noch eine Welt außerhalb dieser Krypta und wenn ja, war das noch von Belang?

Am Ende eines weiteren Ganges öffnete sich ein Raum, in dessen Mitte sich ein riesiger Steinsarg befand und hinter dem, so furchterregend wie riesenhaft, ein Skelett von imposanter Größe stand. Mit dem Enthusiasmus eines Emissär stellte er den Untoten Riordan vor, kündigte ihn wie ein der Ewigkeit unterstelltes Adelsgeschlecht vor, das noch über Jahrhunderte, wenn nicht gar Äonen herrschen würde, wenn der Rest der Welt schon längst vergangen war. Mit der Neugier - oder dem Zorn - desjenigen, der unfreiwillig in den Tod überführt worden war, näherte sich das Knochenkonstrukt dem hilflosen und sein Ende mittlerweile sogar herbeisehnenden Riordan, als der Rabendiener dem Geführten noch eine letzte Hilfe zukommen ließ: “Kniet nieder.”

Wo andernorts Widerstand hätte folgen müssen, wo es galt, ein Zeichen gegen die Widernatur zu setzen, wo andere vermutlich lieber starben als sich dem Wahnsinn zu unterwerfen, der Riordan mittlerweile durch die Gänge geschleift hatte wie eine Jagdbeute, brach am das letzte Stück des Damms, der dem Wahn noch einhalt gebieten konnte: Er sank langsam auf die Knie. “Es ist mir eine Ehre.” hörte er das Echo seiner eigenen Worte an dem fürchterlichen Geschrei, Flehen und Wimmern um Vernunft in seinem Kopf widerhallen, einem Rauschen der Tatenlosigkeit, dessen Ketten ihn am Ende in die Knie gezwungen hatten.

Riordan starb an diesem Tag nicht. Der Rabendiener hielt Wort, denn er entließ ihn wieder aus dem dunklen Labyrinth der Krypta. Der Preis der Freiheit, er bestand an diesem Tag nicht nur aus einer Beigabe an Blut und Haaren. Nein - der wahre Preis wurde damit beglichen, dass er fortan mit dem Wahnsinn würde leben müssen, den er in sein Herz gelassen hatte und von dem er noch nicht wusste, wie er ihn jemals wieder aussperren würde.
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