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Askan Fiete Sturmlicht
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Verfasst am: 29 Jul 2022 10:33 Titel: |
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Die Suche
„Fiete, ich brauche deine Hilfe.“
Worte, die er noch nie von dem Jüngeren gehört hatte. Worte, die ihn aufhorchen und die Augenbrauen hochschnellen ließen. Sie saßen gerade gemütlich in Fietes Zimmer, waren für sich und sollten zumindest die nächste Stunde nicht gestört werden. Die weitere Unterhaltung verlief sehr leise, diskret, ungehört von anderen Augen und Ohren. Darauf konnten sie sich in diesem Ambiente gerade verlassen. Selbst wenn nebenan jemand durch den kleinen Spion schaute (ein kleines Guckloch für die Schläger, damit sie nach dem Rechten schauen konnten, oder für Madame, wenn sie die Neugier umtrieb), hören würden sie nichts, nur sehen, wie die zwei sich an einem kleinen Tisch gegenübersaßen und die Köpfe zusammensteckten.
Nach Nikas Besuch vergingen noch einige Wochen. Es war einer dieser geselligen Abende im Karminpelz, wo sich die Huren und Stricher herausputzten und in etwas extravagantere Kleidung zwängten. Die Mode entsprach dann nicht der neusten Zeit, sondern einer längst vergangenen, das Haus selbst wurde dem Ambiente entsprechend angepasst und die werten Freier und auch Freierinnen betraten, als sie hereinkamen, eine andere Welt. Das gefiel, ließ gern den Alltag vergessen und all die Schwierigkeiten, die einem dort begegnen konnten. Zumindest hofften das viele, die dann kamen, um sich zu vergnügen – auf vielfältigste Art und Weise.
Fiete saß gerade im Salon und unterhielt sich angeregt mit eine der Huren und einem Gast, als das ein Paar eintrat, dass sich interessiert umsah. Er nahm sie mehr aus den Augenwinkeln wahr, bevor er ganz hinschaute und die zwei aufmerksam musterte. Kurz darauf entschuldigte er sich bei dem Gast, er hatte ja gute Gesellschaft an seiner Seite, und stand auf. Zielstrebig hielt er auf die beiden zu und zeigte dabei gekonnt ein überaus strahlendes Lächeln.
„Herzlich Willkommen im Karminpelz, die werten Herrschaften! Darf ich die Mäntel abnehmen? Ich bin Angelo und geleite Euch durch den Abend, wenn Ihr wünscht.“
Es geschah das Übliche. Er kannte es schon zur Genüge. Die Dame fühlte sich überaus geschmeichelt, strich ihm zart über die Wange und schenkte ihm ein butterweiches Lächeln, der Herr musterte ihn erstmal kritisch und nickte es dann mit Zufriedenheit im Blick ab. Beide reichten die Mäntel an und Fiete gab sie einfach einem der Bediensteten für die Garderobe weiter. „Leg diese doch für…“
„Oh, natürlich.. für Nessa und Sergio Fontance“, antwortete sie daraufhin säuselnd. „Leg das doch bitte für die Dame und den Herrn Fontance beiseite und halte sie bereit, falls sie wieder aufbrechen möchten, danke.“
Mit einer angedeuteten Verneigung verzog sich der Garderobier samt den Mänteln und Fiete selbst geleitete die beiden zunächst in den Salon. Üblicherweise hielt man sich zunächst dort auf, trank ein wenig Prickelwasser und plauderte nett über dies und das. Erst später ging es dann zum Zimmer hinauf. So sollte es auch hier verlaufen. Das Schwätzchen war ganz unverfänglicher Natur, begleitet von ein paar kleinen Streicheleinheiten und Verlockungen.
Im Zimmer ging es dann eher anders her. Mit einigem Geschick und Überzeugung hatte er beide davon überzeugt mitzukommen und den Abend über bei ihm zu bleiben, aus dem Abend wurde die ganze Nacht bis hin zum Morgengrauen. Lukrativ für ihn, aber auch arbeitsam, in vielfacher Hinsicht. Am Ende aber hatte er was er wollte. Eine Einladung ins traute Eigenheim der beiden. Zuvor noch davon ausgegangen, dass sie zur Mittelschicht gehörten, vermutlich eher die niedrige als denn die hohe, wusste er nun, dass sie mehr zu niederer Oberschicht gehören, in einem der besser betuchten Vierteln der Stadt residierten und weit mehr besaßen, als sie sich dem Anschein gaben.
Und er wusste auch, dass die Namen Nessa und Sergio Fontance mehr Schein als sein waren, und sie tatsächlich Manela Fisco und Zano Crivell hießen, angeblich im Getreidehandel tätig.
Nun ja, und darüber hinaus kannte er ihre Vorlieben beim Liebesspiel, was mitunter auch mal nützlich sein konnte.
Dass genug Alkohol und die Betttollerei sie so gesprächig machte, war auch eine Information, die ordentlich taugte. Wollte er also mehr herausfinden, oder wollte sein Bruder dies, so war das auch gut machbar.
Am nächsten Tag, nach dem Ausschlafen, machte er sich dann auf die Suche nach dem Mäuschen. Er war neugierig. Durchweg interessiert. Als er sie fand, schickte er sie los die Adresse der beiden aufzusuchen und mal auszukundschaften, was sie dort so vorfand. Er wollte wissen, wie viel Gold sie besaßen und was ihn dort erwartete, sollte er der Einladung folgen – er oder Nika, vielleicht ja auch sie beide. Es konnte nicht schaden vorbereitet zu sein.
Gab es Wachen, Köter, oder sonst was? Wie sah es drinnen aus? Was war von Wert dort, was nur Schein. Er war sich sicher, das Mäuschen würde schon die passenden Sachen herausfinden, die ihnen nutzen dürften. Dafür liebte er das Mädchen. Still, verschwiegen, effizient und ein kleines Herzchen von Mensch.
Sobald er auch diese Informationen hatte, würde er sich erneut mit Nika austauschen.
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Nika Cytian
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Verfasst am: 30 Jul 2022 18:22 Titel: |
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[Warnung: Geschichte enthält Szenen, die für manche Menschen vielleicht zu gewalttätig sind. Wenn man in der Hinsicht sehr sensibel ist, bitte nicht weiterlesen.]
Wer ander'n eine Nase bricht...
Mit einem festen Ruck presste Erican den wild tobenden Nika auf den Tisch herab und hielt ihn so lange unnachgiebig im Nacken gepackt bis der Widerstand nachließ, der Jugendliche zu japsen und zu wimmern begann und sich das krampfende Zittern des Atemmangels in seinen Händen ausbreitete. Erican neigte sich zu ihm herab und sprach leise, beinahe sanftmütig: "Dass du es dir jedes Mal so schwer machen musst, mein Mädchen. Du weißt doch genau, dass das so oder so passieren wird... Wie immer." Gierig rang Nika um Atem, als der Ältere seinen Griff etwas lockerte. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Erican zückte ein Messer, mit dem er Nikas Hemd entlang des gesamten Rückens gelassen aufschnitt, wobei er ihm seine abstoßenden Vorhaben für heute zuraunte. Nikas Geist driftete ab, nicht einmal der unachtsam ausgeführte Schnitt auf seinem Rücken, der eine blutige Spur über seine Haut zog, erreichte sein Bewusstsein. Im ersten Moment wusste er nicht, was es war, was ihn wieder in die Gegenwart befördert hatte, bis Ericans gedämpfte Worte seinen Geist erreichten: "... habe abgelehnt zu gehen. Ich möchte lieber immer in deiner Nähe bleiben, mein Mädchen." Nikas Innerstes verkrampfte sich, die Übelkeit erfasste ihn unvermittelt heftig. Die Wände begannen zu schmelzen.
Jäh wurde alles in Nika zu Feuer, die Hitze erfüllte ihn plötzlich. Abermals trat sein Bewusstsein zurück, um etwas anderem Raum zu geben. Es war der tollwütige Hund, entflammt vom Wahnsinn des Hungers und der Wut, in die Enge getrieben. Als Erican sich zu seiner Schulter herabneigte, riss Nika den Kopf zurück und traf seinen Peiniger offenbar unerwartet mit voller Wucht an der Stirn. Mit einem Schmerzenslaut torkelte dieser ein paar Schritte zurück. Nika drückte sich auf dem Tisch rasch in die Hocke und wandte sich seinem Gegner zu. "Du kleiner...", zischte Erican wütend und führte seine Hand zu dem Blutrinnsal, der ihm von der Stirn ins Auge troff. "Dafür wirst du be...!" Er kam weder dazu seine Bewegung, noch seinen Satz zu beenden, als Nika schon an ihm heran war und ihm die Schulter mit dem Schwung seines Körpergewichts in den Magen rammte. Jeder andere wäre von der Wucht umgerissen worden, doch Erican war groß, schwer und geschult. Dennoch torkelte er zurück und knallte gegen die Wand. Eine Weile rangen die beiden, unwillig einzulenken, unfähig die Oberhand zu gewinnen. Nika wich nicht zurück, er fügte Erican einige Prellungen und tiefe Kratzer zu, bevor dieser ihn schließlich packen konnte. Mittlerweile rasend von dem unnachgiebigen Wüten des Jüngeren rammte er ihm die Faust ungebremst ins Gesicht. Nika hörte das Knirschen in seinem Kopf, als seine Nase brach, und schwankte zurück.
Das Blut lief in einem stetigen Strom aus seiner Nase, als er langsam in die Hocke ging. Erican tobte, doch schlich sich auch Erschrecken in seine Stimme. Er wusste wie heilig Onkel die Unversehrtheit von Nikas Gesicht war. "Daran bist du selbst schuld! Was musst du auch so durchdrehen? Das wird dir noch leidtun… das WIRD DIR LEIDTUN!", brüllte er mit sich überschlagender Stimme und ballte die Fäuste, als er auf Nika zustürmte. Jener tauchte unter seinem Schlag durch und schwang sich seitlich an ihm vorbei. Ohne Zögern rammte Nika ihm das vergessene Messer bis zum Heft in den seitlichen Rückenmuskel. Erican schrie gellend auf. Es folgte eine unkoordinierte Bewegung in Richtung des Jüngeren, ehe er zusammenbrach. "... wird leidtun... Verspreche...", keuchte er noch. Nika drehte das Messer in seiner Hand.
Vor der Türe waren mit einem Mal zahlreiche tippelnde Schritte zu vernehmen, als die von dem Kampfeslärm und Geschrei angelockten Kinder und Jugendlichen auseinandergetrieben wurden. "Das nächste Mal, wenn du mich anfassen willst, töte ich dich. Das schwöre ich dir", flüsterte Nika dem am Boden Liegenden kalt zu. Die Tür wurde mit einem Knall aufgebrochen.
Nika sah Erican vorerst nicht wieder. Sole hatte getobt, als er die gebrochene Nase gesehen hatte, und dem verletzten Erican noch einige Zähne ausgeschlagen. Zum ersten Mal wurde Nika zu einem richtigen Medicus in einem besseren Viertel geschickt, der den Bruch kundig und routiniert versorgte und die Nase richtete. Erican wurde kurze Zeit darauf mit einigen jungen Mädchen fortgesandt, den Gerüchten zufolge zu einem Onkel und Tante gehörenden neu gegründeten Hurenhaus in Hohberg, einer rasch wachsenden Bergarbeiterstadt im Landesinneren. Mit seiner Abreise hatte dieses Kapitel, dieses beinahe drei Jahre andauernde Martyrium in Nikas Leben ein Ende gefunden. Andere blieben.
Trotz der anzunehmenden deutlichen Verbesserung der Lebensumstände zu einem gewiss erträglicheren Maß, änderte sich weder Nikas Gemüt, noch seine Geisteshaltung. Meistens arbeitete er hart, trainierte ohne Gemurre und lernte bereitwillig. Wenn nicht gerade der blendend weiße Fleck sein Handeln bestimmte. Auch ansonsten blieb er genauso unausstehlich, gefühlskalt und gewalttätig, zumindest für die allermeisten Menschen. Zum einen lag dies daran, dass nur ein Teil des andauernden körperlichen und seelischen Missbrauchs weggefallen war, zum anderen war es ein halbwegs sicherer Ort.
Niemand konnte nach Belieben gefühlsmäßig nahe an ihn herantreten oder sich in sein Denken schleichen. Es war nicht nur zu seinem Vorteil, wie er erwog. Es machte nicht nur ihn nicht erpressbar, es ersparte auch allen anderen die Nachteile und das Leid seiner Nähe und der Konsequenzen wie Tantchens Argwohn. Zwar tarnte sie es meist geschickt, zumindest vor Sole, doch fiel auf, dass Mädchen im Nest, die vielleicht auch nur ein paar Worte mit Nika gewechselt hatten, durchschnittlich häufiger weggeschickt wurden oder unverhältnismäßig harte Strafen erhielten. Nika stieß sie alle weg, er hielt alle von sich fern. Er fühlte keine Anteilnahme oder Wärme für die anderen Kinder und Jugendlichen im Nest wie man aufgrund dieses vermeintlich schützenden Handelns vielleicht annehmen sollte. Doch empfand er genug Verantwortung, um ihre Leben nicht wegen seiner bloßen Existenz und der Begehrlichkeiten anderer in Gefahr zu bringen.
Der abgeschiedene Standpunkt hatte den Vorteil, dass es niemanden gab, der sich in seine Angelegenheiten einmischte. Zwar bemerkte Nika, dass Sole nach den Ereignissen um Erican mehr auf ihn zu achten schien, wich aber allen vorgeblich fürsorglichen Annäherungen aus. Es stimmte ihn misstrauisch, ließ ihn vorerst aber lediglich wachsamer werden.
Es war zu jener Zeit, dass Nika seine eigene Geheimschrift entwickelte, eine Mischung verschiedener Schriften und Symbole, Zahlen und geometrischer Muster. Er teilte sie mit niemandem, nicht einmal Fiete. Sie sollte eines Tages dazu dienen nur seine eigenen Gedanken, Thesen und sein Wissen festzuhalten. Noch hatte er nicht den Luxus irgendetwas zu besitzen, was nur ihm gehörte. Nicht einmal ein Notizheft, nicht einmal einen Zettel.
Alles, was Nika erfuhr, merkte er sich, indem er es immer und immer im Geist wiederholte. Dieser Tage wurde es viel, nachdem er angefangen hatte die Informationen zusammenzutragen. Soweit möglich ging er die Wege selbst, es gab zu wenige, denen er trauen konnte, ab und an schickte er jemanden, den Fiete empfahl. Es kostete ihn Zeit und Kraft, beides konnte er sich nicht leisten zu verschwenden.
Es war ein kalter, regnerischer Tag im Eisbruch 258, als Nika auf den üblich-unüblichen Wegen die erwartete Nachricht von Fiete erhielt. Es entlockte Nika ein Schmunzeln. Spiele die Eröffnung wie ein Buch... |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 05 Aug 2022 21:50 Titel: |
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Im Namen des Kranichs
Es war weit nach Mitternacht, als die Maus Nika den Dienstboteneingang öffnete. Die Angestellten des Hauses waren bis auf die persönlichen Diener des herrschaftlichen Paares in den Betten oder zu Hause. Er deutete fragend zur Decke und klopfte sich mit dem Handrücken in die andere Handfläche, dann zeichnete er einen Kreis mit dem Zeigefinger. Die Maus begutachtete in dem Halbdunkel die Gesten, dann nickte sie fest. Nika vollführte ein O mit Zeigefinger und Daumen und deutete ihr an zurückzugehen. Das Mädchen verschwand rasch durch die Tür in den Flur.
Nika schlich langsam durch die Küche in den Flur. Er kannte das Haus nicht, entsprechend vorsichtig bewegte er sich. Der Flur führte in ein sehr geräumiges Foyer mit einer breiten gewundenen Treppe, die ins Obergeschoss führte. Wenngleich mindestens noch zwei, vermutlich eher drei, Türen zwischen ihm und dem Schlafzimmer der Hausherren lag, hörte er Manelas frenetisches Gestöhne, was zwischen einem hündischen Jaulen und einem verzückten Wimmern changierte. Nika schnaufte leise, dennoch belustigt, und nicht ohne inneren Dank an seinen Bruder, der, wenngleich vermutlich profitabel, mit seiner Arbeit heute ein nicht unerhebliches Risiko für ihn einging. Er war dankbar, dass die Hausherrin (und wie sich später herausstellen sollte ebenso der Hausherr) einen Hang zur lautstarken Bekräftigung ihres Vergnügens hatte, denn auf diese Weise konnte Nika das Anwesen zureichend erkunden in der nüchternen Annahme, dass ihn niemand stören würde. So war es auch.
Als die Geräusche aus dem Schlafzimmer letztlich eher heiser und kraftlos befriedigter wurden und das morgendliche Grau in den Fenstern schimmerte, suchte Nika sein Versteck auf. Er verbarg sich in einem als Abstellkammer genutzten Hohlraum unter dem Treppenaufgang. Dem Staub nach zu urteilen waren die Gegenstände seit Jahren nicht mehr bewegt worden.
"Wie vereinbart, Angelo", erklang kurz darauf über ihm die Stimme Zano Crivells, offenbar wechselte Geld seinen Besitzer. "Ich danke dir, Liebelein", antwortete ihm Fiete in einem spielerisch-vertrauten Tonfall, wenngleich Nika seine Erschöpfung heraushörte. "Jederzeit wieder." Schritte. "Na, komm, Mäuschen, gehen wir heim. Nicht, dass wir noch Stolperfallen zum Opfer fallen." Nika wurde aufmerksam. Das galt ihm, Fiete warnte ihn. Es änderte nichts.
Nika verweilte den Tag über möglichst reglos in seinem Versteck, nur ab und an massierte er sich die verspannten Muskeln. Es geschah nichts Interessantes. Ein paar Mägde lästerten hinter vorgehaltener Hand über die Schamlosigkeit des Hauspaares ihren Lustknaben ins Haus zu holen, eine Affäre zwischen Koch und Zofe wurde Nika offenbar, als sie von Leidenschaft entflammt wild an der Täfelung der Treppe knutschten und einander Liebesschwüre zuraunten.
Es wurde wieder dunkel und still im Haus. Nika bewegte sich nicht aus seinem Versteck. Um Fiete zu schützen und, damit ihn keiner mit dem Folgenden in Verbindung bringen würde, wartete Nika. Er hasste es geduldig sein zu müssen, in Bezug auf alles, Reglosigkeit und Besonnenheit waren ihm ein Gräuel. Dennoch waren es Fähigkeiten, vor allem die Beherrschung seines Willens, die ihm teilweise schmerzhaft antrainiert worden waren und deren Wert er durchaus erkannte. Es änderte nichts daran, dass er es verabscheute. Hunger kennt kein Später. Mühsam unterdrückte er den Impuls aus seinem Versteck zu brechen und dem Hunger nachzugeben.
"Erzähl's mir gar nich', Blindgänger! 'Ch will gar nich' wiss'n wie du das mach'n willst, aye? Hör' dir aber das an: Versuch's nich' schön zu mach'n, mach's einfach! Die Überheblichkeit bricht den gut'n Leut'n das Genick. Behalt' dein Ziel vor Aug'n un' nur das! Un' verlier' dich nich' in deinem Zorn. Die gute Mischung für Rache is' Intelligenz, Präzision un' 'n Schuss Irrsinn, dann schmeckt sie!“ Nan patschte Nika mit der flachen Hand an die Stirn. „Intelligenz und Präzision, aye? Nich' rumblöd'ln!“
Nika strich sich mit zwei Fingern über die Stirn, als ihm die Worte des alten Waffenmeisters wieder in den Sinn kamen. Er atmete tief durch und begann ein weiteres Mal seine kribbelnden Beine zu massieren. Er wartete.
In der darauffolgenden Nacht, jene auf den ersten Lenzing, öffnete der Himmel seine Schleusen. Sobald es dunkel geworden war, war alles erfüllt von dem Rauschen, dem Tropfen und Klopfen und Gurgeln des Regens.Manela erwachte von einem gluckernden Geräusch und einer Bewegung. Zunächst dachte sie es wäre dem Wetter zugehörig, dann spürte sie wie es unter ihrem Nacken und ihrer Schulter warm und nass wurde. Im Halbschlaf wandte sie den Kopf zu Zano und, was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ihr Mann lag auf dem Rücken, Mund und Augen weit aufgerissen und ruckte heftig, während Blut unablässig aus einem tiefen Schnitt in seiner Kehle rann. Der See des Blutes, der sich auf dem Laken ausbreitete, ehe er im Stoff versickerte, hatte sie geweckt. Manela wollte schreien, aufspringen, doch nur ein flüsternder Laut drang aus ihrer Kehle, ihre Glieder rührten sich nicht. Es fühlte sich an als läge ein Felsbrocken auf ihrer Brust, Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln. Sie hörte ein leises Räuspern. Nika hielt sich an seinen Plan, der Lärm des Regens spielte ihm in die Karten. In der zweiten Nacht schlich er aus seinem Versteck und ohne Umwege hinauf in die Gemächer der Hausherren. Der persönliche Kammerdiener döste im Vorzimmer auf einer samtbezogenen Chaiselongue, was es Nika geradezu lächerlich einfach machte. Er betäubte ihn, der merkte es nicht einmal, sondern sank nur in tieferen Schlaf. Nika bewegte sich vorsichtig und leise und fand im Zugang zum Schlafzimmer den Stolperdraht, vor dem Fiete ihn gewarnt hatte. Während er am Fußende des riesigen Himmelbettes stand und wartete, dass das Mittel, das er ihr ins Ohr gegeben hatte, wirkte, betrachtete er das Paar in seinem seligen Schlaf. Er kam nicht umhin an die winzige Kammer zu denken, in der er mit seiner Mutter gelebt hatte. Sie lebten in Luxus und Vergnügungen auf Kosten anderer. Nicht nur das, sondern auch ohne Erwägung oder Beachtung der Leichen, die sie auf ihrem Weg zurückließen. Zeit sie die Wirklichkeit schmecken zu lassen. Für sie. Nika zog sein Messer.
"Wer bist du?", brachte Manela mit angstbebender, gehauchter Stimme hervor. "Niemand", antwortete Nika halblaut, "Niemand für dich, Manela Fisco oder Nessa Fontance. Oder sollte ich dich Schwan nennen?" Er saß auf dem Fußrahmen des Bettes und betrachtete die beiden stoisch bei ihrem Sterben. Sie weitete ihre Augen, der Blick huschte in dem Halbdunkel über seine Züge. "Du... bist es... Ihr Sohn. Du solltest... tot sein!" Ihre Worte klangen lallend, sie verlor zunehmend die Kontrolle über ihre Zunge. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn erkennen würde oder sich an Seoha erinnerte, doch erfüllte es ihn mit einer gewissen Befriedigung. "Tja, tut mir nicht leid, dass ich es nicht bin", erwiderte er recht ungerührt. "Wenn du..., wenn du... mich verschonst... verspreche dir... viel... und... Geld...", stammelte sie mühevoll und rang um Atem. "Du bist schon tot, Manela. Trotzdem nein, danke." Ihre Hände verkrampften sich und sie röchelte. "Es ist dasselbe Gift, das mir verabreicht wurde im Auftrag der Schwingen. Wie du an mir siehst, wirkt es nicht völlig zuverlässig. Aber keine Sorge, bei dir werde ich ganz sicher gehen." Das Entsetzen stand ihr mittlerweile ins Gesicht geschrieben. Sie wusste ihr Ende war sehr nahe. Zano rührte sich inzwischen nicht mehr. "Wa... rum?", war das Letzte, was noch über ihre blau angelaufenen Lippen ging. "Weil ich will."
Als der Kammerdiener im Morgengrauen aus seinem Schlaf aufschreckte und ins Zimmer der Herrschaften eilte, um sie zu wecken, fand er ihre ausgebluteten Körper im Bett. Es war als hätte ein Geist sie ermordet, denn niemand hatte etwas gesehen oder gehört und abgesehen von ihren Leichen fanden sich keinerlei Spuren im ganzen Haus. Keine Fußspuren, sogar alle Türen und Fenster waren ordnungsgemäß verschlossen und kein Tropfen Blut war außerhalb des Schlafzimmers zu finden. Nur eines blieb zurück...
Das in ihrem Blut gemalte Abbild eines Kranichs an der Wand, zusammen mit drei Strichen. |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 02 Sep 2022 19:22 Titel: |
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Nachtschattengewächse
Mit langen Schritten ging Nika hinter Sole her. Er trug eine schwere Kiste mit einem großen Vorhängeschloss auf der Schulter. Die Holzkante schnitt ihm in die Schulter, der Schlamm machte das Fortkommen schwierig und schmatzte unter seinen Schritten.
Es war früher Sommer, selbst wenn man davon nicht viel merkte, denn obgleich es bereits Schwalbenkunft war, regnete es seit Wochen unablässig. Die Straßen und Wege der Hafenkante waren mittlerweile so aufgeweicht und verschlammt, dass kaum mehr ein Fuhrwerk hindurch kam. Lediglich die Hauptwege zum Hafen selbst wurden regelmäßig von der Obrigkeit trockengelegt. Der Schlamm war überall: An den Wänden der Häuser, in den Innenräumen, an der Kleidung, auf der Haut. Man wurde ihn einfach nicht los.
Nach Wochen, in denen Sole Nika wegen seines mehrtägigen Verschwindens sehr argwöhnisch und höchst aufmerksam im Auge behalten hatte, ließ sein Misstrauen allmählich etwas nach. Nika hatte ihm eine Geschichte von einem verrückten Rausch aufgetischt, die Onkel natürlich nicht glaubte, aber der Halbstarke blieb stur dabei. Vielleicht deshalb musste Nika Sole nun deutlich regelmäßiger als zuvor auf seinen Wegen begleiten, vielleicht auch weil mit dem Rückgang seiner Überwachung Sanna auf den Plan trat und einforderte. Nika war sich sicher, dass Onkel eine Ahnung hatte, was seine Frau von ihm begehrte und verlangte, doch schienen die beiden eine stille Übereinkunft zu haben: Er tat so als bemerke er nicht ihre besitzergreifende Zuneigung und sie ignorierte, wenn er ab und an mit irgendwelchen blutjungen Mädchen aus dem Nest tat, was er wollte. Dennoch schien ihm ihre Gewogenheit für seinen hübschen Zögling zu missfallen, weshalb er ihn lieber überwacht mit sich nahm, selbst wenn er es als Lehrstunden hinstellte. Gelernt hatte der Jüngere aber lediglich, mit wem der alte Fuchs alles Geschäfte machte und wie eng seine Kontakte waren. Aber dies war überaus nützliches Wissen.
Schließlich erreichten sie ein zweistöckiges Holzgebäude am Ende der Spindlergasse. Nika hatte hier schon vor Jahren Beutelchen abgegeben oder geholt und Flüsternachrichten überbracht. Dennoch kannte er nur das Haupttor und den einstöckigen gewölbten Gang dahinter, der durch das Haus in einen Innenhof führte.
Sole schlug mit der Faust gegen die Tür, die in das große Holztor eingebaut war, woraufhin diese aufgezogen wurde. Ein junger Kerl, nur wenig älter als Nika, empfing die beiden mit einer höflichen Verneigung. "Madame kommt sogleich", ließ er Sole wissen und bedeutete Nika, wo er die Truhe abstellen konnte. Wie immer roch es in dem Tordurchgang würzig und aromatisch, ein wenig nach Heu und Kräutern. Sie ließ sie warten. Nicht ungemein lang, doch lang genug, dass der aufmerksame Beobachter verstand, wo sie im Verhältnis zu Onkel stand.
Madame oder Constanze Revarin oder die Spindlerin, wie sie zumeist ob ihrer Ansässigkeit in jener Gasse auf der Straße genannt wurde, war eine hochgewachsene, verhärmt wirkende Frau. Sie mochte um die fünfzig Jahre zählen, doch hatten ihre Haare noch immer einen leuchtend fuchsroten Farbton. Ihr Blick in einem dunklen Braun wirkte ruhig, doch ließ sich nie erahnen, was dahinter verborgen lag. Ihr Gesichtszüge waren eher kantig und wirkten hart, was ihre stattliche und kräftige Statur nur untermalte.
"Sole, mein Freund! Entschuldige, dass du warten musstest. Du weißt ja wie das manchmal ist, nicht?", begrüßte sie Onkel mit einem warmen Klang in der Stimme, doch einem eher schmalen Lächeln auf den Lippen. "Gewiss, Constanze, man steckt nicht drin wie man so schön sagt", erwiderte der Angesprochene möglichst leichtfertig, doch Nika vernahm die Andeutung von Missmut in seiner Stimme. Die Spindlerin betrachtete Nika einige Momente aufmerksam, einen Hauch zu lang, dann meinte sie mit einer Andeutung von Zweisinnigkeit in der Stimme: "Hübsches Kerlchen." Anschließend wandte sie sich wieder dem Geschäft zu. Die Truhe wurde fortgeschafft und sie und Onkel verschwanden eine Weile im Haus.
Als Sole schließlich wieder durch die Türe herauskam, packte er Nika grob am Arm und zerrte ihn in die Ecke des Tordurchgangs. Perplex von der plötzlichen Heftigkeit versuchte sich der Jüngere zu befreien, wurde daraufhin aber nur mit dem Unterarm am Kehlkopf gegen die Wand gepresst. Onkel sprach sehr leise und scharf, es schien ihm überaus wichtig zu sein: "Hör gut zu, du kleiner Scheißkerl, du weißt, dass dein Arsch mir gehört, nicht? Ich weiß du machst gern mal einen auf Rebell und meistens ist mir das egal, aber nicht, wenn's um die Arbeit und um Geschäfte geht, klar?" Mit Kraft drückte er seinen Ellenbogen nochmal gegen Nikas Hals, was diesen unwillkürlich würgen ließ.
Das Schaben leiser Schritte hinter ihnen, ließ Sole den Griff lockern, er neigte aber den Kopf seitlich neben den seines Zöglings und flüsterte gedämpfter, doch umso nachdrücklicher: "Die alte Spindlerin will dich für ein paar Stunden in der Woche geliehen haben, also kann sie dich haben, wofür auch immer..." Nika spannte sich an und stemmte sich gegen Onkel, was ihn eine kleine Klinge an seinem Bauch spüren ließ, die dieser unauffällig dorthin bugsiert hatte. "Ja, ganz recht, du Drecksack! Du wirst fein machen, was du sollst. Du wirst für sie springen oder laufen oder singen oder lecken, was auch immer sie will! Du weißt Bescheid, wo deine Grenzen sind. Mach dich nicht nutzlos für mich!" Nika presste die Augen zusammen, als Onkel wieder zurücktrat und sich umwandte: "Bitte, viel Vergnügen. Schick ihn später wieder nach Hause, Constanze!"
Madame führte Nika in ihr Arbeitszimmer. Es gab meist nur eines, was Frauen von ihm wollten, wenn er so verlangt wurde. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Bisher war es aber selten vorgekommen, es gab wenige Frauen, die Onkel auf eine Weise über waren, dass sie Gefallen dieser Art oder Leihgaben einfordern konnten. Es fiel Nika noch immer schwer mehr zu geben als eine bloße Vortäuschung, selbst wenn es letztlich doch genau das blieb, er täuschte sich, seinen Körper und die Frauen. Danach war ihm immer übel. Er fragte sich wie Fiete das dauernd ertragen konnte.
Gerade als Nika auf sie zugehen wollte, hob sie abwehrend eine Hand. "Schon gut, Kleiner, ich weiß deine Bereitschaft zu schätzen, doch ist an dir für meinen Geschmack viel zu wenig dran." Madame lachte auf, als sie seinen offenbar recht verwirrten Gesichtsausdruck erblickte. "Du erwartest, dass jeder Mensch verkommen ist, hm? Das wird dir nochmal nützlich sein und letztlich kannst du nur im Guten überrascht werden." Sie setzte sich in einen schweren Eichenstuhl am Tisch und bedeutete ihm ihr gegenüber Platz zu nehmen. "Warum wolltet Ihr mich dann... leihen?", erkundigte sich der noch immer verwunderte Nika. Madame spitzte die Lippen und nickte leicht bei dem Klang seiner dunklen Stimmfarbe: "Ich denke ich verstehe langsam, was sie alle in dir sehen. Aber, um deine Frage zu beantworten: Nan bat mich darum dich etwas zu lehren." - "Nan? Der alte Waffenmeister?" Einige Momente sah sie Nika nur still an, ehe eine vage wegschiebende Geste folgte. "Also gut, Kleiner, was weißt du über die schwarze Tollkirsche?"
Von diesem Tag an unterrichtete Madame Revarin Nika heimlich in den Wirkungen und Wechselwirkungen von Kräutern, insbesondere berauschenden, beruhigenden und betäubenden. Sie erklärte ihm wie wichtig die Dosis war und wie unterschiedlich man die Gifte und Sedativa verwenden, nutzen und auftragen konnte. Ihr Wissen hatte eine Tiefe und Komplexität, an die Onkels Lehren nicht im Geringsten heranreichten. Sie war eine strenge und überaus penible Lehrerin, was man wohl auch sein musste, wenn ein Gramm den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte. Dennoch lernte Nika gerne bei ihr, die Möglichkeiten, die ihm dieses Wissen offenbarte, waren ihm ein weiter Himmel.
Ein weiter schwarzer Himmel voller rankender Nachtschattengewächse. |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 24 Okt 2022 16:07 Titel: |
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Nuancen
Es hätte so ein entspannter Abend werden können...
Nur etwa einen halben Mondlauf, nachdem Madame angefangen hatte Nika zu unterrichten, waren die alte Hafenkante und alle seine Bewohner und Besucher noch immer Untertanen des Schlamms. Der Innenhof des Nests war eine derartige Schlammwüste, dass die Kampf- und Waffenübungen ausgesetzt wurden. Nicht, um die Kinder vor dem Dreck zu verschonen, sondern um das Haus selbst durch die bloße Anwesenheit verschlammter Körper nicht vollständig zu verkrusten.
Dazu kam, dass es noch immer täglich regnete und viele, vor allem schwächere Kinder an Lungenentzündungen und Keuchhusten litten. Im Loch, wo Nika trotz seiner aufgestiegenen Position im Gefüge des Nests, noch immer freiwillig schlief, herrschte ein dauerhaftes Geröchel, Gehuste und Gerotze. Schlaf zu finden war noch schwieriger als sonst.
An diesem Abend jedoch hatte Nika das Nest verlassen, um sich mit Fiete im Roten Segel zu treffen. Die Betäubung durch Schnaps half Ruhe zuzulassen. Fiete hatte sicher gehört, was vor mehr als drei Monden mit Manela Fisco und Zano Crivell passiert war. Er fragte nicht, er fragte ihn nie danach. In gewissen Kreisen waren die Morde aufgrund der gehobenen Stellung und des Reichtums der Opfer länger Gesprächsthema gewesen, sie schürten ebenso die wildesten Gerüchte und Schauergeschichten. Aber nachdem sich nichts weiter dazu ereignete, wurden die Gespräche leiser und erstarben irgendwann ganz.
Fiete und Nika hatten gerade eine neue Flasche Whisky erhalten, als trunken-laute Stimmen von der Theke herüberschallten, offenkundig absichtlich provozierend: " 'Ch kann ganz sich'r mehr sauf'n als die beid'n Weichschlörres da hint'n im Eck'! Da verwett'ch mein' Arsch drauf! Naaaa, ihr Jungspunde? Hat einer von euch die Eier für'n klein'n Wettstreit?" Der offensichtlich schon recht angetrunkene, dicke Krakeeler schwankte leicht auf seinem Hocker. Fiete sah zu Nika und hob abwartend die Augenbrauen als wolle er sagen: "Was ist? Säufst du den mal schnell unter den Tisch, damit wir in Ruhe weitertrinken können?" Nika blickte zu dem Trinker und erwiderte ziemlich gleichmütig: "Ich hab kein Interesse an deinem fetten Arsch! Hast du vielleicht einen Wetteinsatz, den man auch gewinnen will?" Der Fette lachte lautstark auf und lallte dann mit einem anzüglichen Unterton: "Ne, willst mein'n Arsch nich'? Scheinst mir eh mehr der Typ zu sein, der den Arsch hinhält, nich'? Mädchen!" Nika hörte Fiete noch leise seufzen, während er selbst schon über die Bank sprang.
Kurz darauf glich der Schankraum einem Schlachtfeld. Die anderen Gäste waren, wenn auch nicht ursprünglich an dem Zwist beteiligt, leicht mittels eines verschütteten Bieres und eines fliegenden Stuhls zur Teilnahme an der Prügelei zu motivieren gewesen. Nika beachtete sie nicht. Er kniete über dem Fetten und prügelte auf ihn ein. Der rührte sich schon seit einigen Schlägen nicht mehr, doch konnte Nika nicht aufhören. Mädchen... mein Mädchen! Es echote in seinem Kopf. Er wütete gegen die Lähmung und Machtlosigkeit, die das Wort in sein Bewusstsein hieben. Mädchen, Mädchen... Der gleißend blendende Fleck löschte den Schmerz. Der Wahnsinn griff nach seinem Inneren, quoll durch die Risse, an deren Kanten Hunger und Wut leckten. Mein... Mädchen... Erst als er die Gesichtszüge seines Gegners unter den blutigen Striemen seiner Fäuste nicht mehr ausmachen konnte, flachte das Lodern in seinem Bauch allmählich ab. Das Rauschen in seinen Ohren wurde schwächer, Lärm drang an seine Ohren. Er hörte Fiete seinen Namen schreien, aber zu spät.
Es hätte so ein entspannter Abend werden können...
Nika ließ seinen Hinterkopf gegen die Zellenwand sinken und schnaubte leise. Im Kerkertrakt des Regiments von Siebenwacht herrschte wie immer viel Betrieb. Es war nicht das erste Mal, dass er hier einsaß. Wie jedes Mal nannte er einen neuen Namen und Wohnort und verbrannte damit eine der zahllosen Zettelidentitäten, für die Onkel ausreichend gesorgt hatte. Es war selten, dass das Regiment sich in eine Prügelei in einer der Hafenschenken einmengte, dieses Mal waren sie aber aufgetaucht. Vermutlich hatte sich irgendeine hochstehende Person mal wieder über die Zustände in der alten Hafenkante beschwert und das Regiment heuchelte einige Zeit Tatkraft und Pflichtbewusstsein. Nika wusste, dass ihm für die Prügelei nur eine oder zwei Nächte im Knast blühten mit einer Verwarnung, bevor sie ihn wieder hinauswerfen würden. Immerhin etwas Schlaf ohne das Geröchel im Nest. Er fühlte sich mit einem Mal erschöpft und schloss die Augen.
Nika erwachte von einem entfernt klingenden Ruf. "He! Nein! HE, WACH AUF!" Noch bevor er die Augen öffnete, ließ er sich beiseite fallen und scherte die Beine vor sich aus. Er traf etwas oder jemanden und konnte noch einen großen Schemen vor sich ausmachen. Wie... er schlief nie tief genug, dass sich jemand an ihn... Das Knie der Gestalt traf ihn hart im Unterbauch, als diese herabsackte, und er keuchte. Er hörte jemand nach der Wache rufen. Warum... Der Schemen presste ihn auf den Stein hinunter und er sah eine Klinge aufblitzen. "Jetzt stirbst du", erklang eine dunkle Stimme, doch schien es ihr an Gewissheit zu fehlen, insbesondere, als er weitersprach, "Für die... für die... Schwingen! Und für... Manala und Zano und... für Drina!" Nika spürte ein Zittern in der Hand, die ihn herabgedrückt hielt. Etwas war falsch... Er stemmte sich gegen den Griff, doch war der Mann riesig und massig. Flüchtig sah Nika seine Augen. Es befremdete ihn, er kannte den Ausdruck darin, er kannte ihn zu gut. Eilige Schritte und Klicken. Der Mann hob die Klinge an, dann wurde er von ihm gezerrt. Er heulte auf, als die Wachen ihn aus der Zelle schleiften.
"Geht's dir gut?", fragte eine leicht rauchig klingende, weibliche Stimme von der Seite. Es war die Stimme, die ihn geweckt hatte, die Stimme, die nach den Wachen gerufen hatte. Noch im Liegen wandte Nika den Kopf beiseite. Jenseits der Gitterstäbe, nur eine Armlänge von ihm entfernt, kniete ein Mädchen. In dem Zwielicht des Mondlichts konnte er ihre Gesichtszüge gut erkennen: Große, dunkle Augen, eine dünne, gerade Nase und volle Lippen über einem schmalen, etwas spitzen Kinn, gerahmt von kinnlangen, weißblonden Haaren. Eine schmale Narbe zog sich von ihrer Stirn durch eine Augenbraue auf ihre Wange und Sommersprossen tanzen auf ihren Wangen. "Ich bin Cia. Und du?" Ihr Anblick brannte sich ein.
Es hätte so ein entspannter Abend sein können... |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 22 Nov 2022 22:13 Titel: |
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Wie man mit Eisen Gold zaubert
Etwa zur Mitte des Monds Cirmiasum hörte es mit einem Mal auf zu regnen. Im Verlauf weniger Tage wurde es heiß und dampfig in Siebenwacht. Wo zuvor der Regen den Stoff an die Haut heftete, war es nun der Schweiß hervorgerufen durch die feuchte Schwüle, die sich in der Hafenstadt hielt als wäre sie unter einer Käseglocke gefangen. Innerhalb dieser Kuppel gediehen vielerorts Krankheiten und Seuchen als erblühte das Leid nun wie eine Blume, die über Wochen mit der Zermürbung der Bürger genährt und getränkt worden war.
Im Nest stank es nach Schlamm und Moder, nach Schweiß und schimmeligem Brot. Es war so penetrant, dass Tante die Schlafkammern regelmäßig mit Kräutern ausräuchern ließ. Zum ersten Mal seit Nika dort lebte wurden handwerkliche Ausbesserungen durchgeführt, morsche Balken und Dielen ausgetauscht, nachdem Darrell, einer der Aufpasser, vom Obergeschoss ins Erdgeschoss durchgebrochen war und sich den Oberschenkel aufgespießt hatte. Die meisten Kinder litten unter der feuchten Hitze weniger als dem dauerhaften Regen, denn ausnahmsweise wurde das Nest nicht von einer der schlimmen Seuchen heimgesucht, die viele Straßen der alten Hafenkante quasi unbetretbar gemacht hatten.
Nach wie vor hielt sich Nika von den meisten Kindern im Nest fern. In seinem Alter war er mittlerweile einer der Älteren, die noch im Haus von Onkel und Tante wohnten und die nicht als Aufpasser geblieben waren. Die meisten Jugendlichen wurden "entliehen", verkauft oder an einen anderen Ort in oder außerhalb der Stadt geschickt, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatten und sie sich daran machten eben diese Ausbildung, die sie nie gewollt hatten, und die Jahre der Kost und Logis an einem Ort, den sie hassten, abzuarbeiten. Eine Schuld, die nie beglichen werden konnte. Nika wusste das, raubte aber anderen nicht ihre einzige Hoffnung. Es vergingen Tage, in denen er mit niemandem sprach. Mittlerweile hatte sich das Gerücht Tante würde jedes Mädchen, das ihm zu nahekäme, postwendend an das nächste Hurenhaus verkaufen verbreitet. Und immer mal wieder gab es Gemunkel über seine Herkunft als Sohn eines Nachtalbs, was zumindest die kleinen Kinder ängstigte.
Lediglich Maus schlich sich des Öfteren im Dunkel zu Nika. Das wahrlich kleine, halb verhungerte Mädchen mit den rotblonden Locken hielt sich in der Finsternis, unbemerkt von allen, an ihm fest und erzählte ihm flüsternd alle Geschehnisse und Gerüchte, von der sie gehört hatte. Er hob ihr dafür öfter einen Keks oder Apfel auf oder steckte ihr einen Bonbon von Fiete zu. Nika wusste nicht, warum sie sich ihm annäherte. Er vermutete wegen seiner Nähe zu Fiete und ihrer Verbindung zu ihm fühlte Maus auch eine gewisse Zugehörigkeit zu ihm, zumal sie, anders als sein Bruder, gemeinsam im Nest lebten und schliefen. Maus war ein schlaues, aufmerksames Kind und ließ sich nicht in Nikas Nähe erwischen, zudem hatte sie die Gabe, die er selbst vor Jahren besessen und genutzt hatte, unsichtbar zu sein. Ab und an vertraute er ihr kleinere Aufgaben oder Botengänge an, von denen Onkel und Tante nichts mitbekommen sollten und bisher hatte sie ihn in der Erfüllung dieser nie enttäuscht. Sie standen sich allerdings nicht nahe und sprachen nie über sich oder persönliches miteinander. Ihre Beziehung beruhte auf Nähe in der Schwärze, auf Geflüster und Schweigen.
Sie rannten durch den Irrgarten. An seiner Hand zog Nika das Mädchen hinter sich her. Ihr ausladendes Kleid behinderte sie im Lauf, ab und an hörte er wie der Saum sich an der Hecke verfing und aufriss. Wenngleich es später Abend und die Sonne schon vor Stunden gesunken war, war es dampfig warm. Die Stoffe klebten auf ihrer Haut und ihr Atem ging schwer. Trotz dessen und der verzweifelt werdenden Rufe in ihrem Rücken hielten sie nicht an. Der Irrgarten grenzte an ein kleines Wäldchen, in dessen Dunkelheit die beiden Jugendlichen eintauchten. Schwer keuchend lehnte Nika sich gegen einen Baum, während das Mädchen um Luft ringend in aufgeregtes Gekicher ausbrach.
Der Name des Mädchens war Avelina Seraina Ferdinanda von Graufall-Revanier, einzige Tochter des Freiherrn Jaronas Alois von Graufall und seiner Gattin der Ritterin Ambre von Revanier. Sie lebte mit ihrem Vater und ihren kleinen Brüdern abseits von Siebenwacht in einem Wasserschloss, gefüttert mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel, geschnürt und gebunden wie es sich für eine junge Dame ihrer Position gehörte. An sie heranzukommen war eine größere Herausforderung gewesen als sie zu verlocken. Nika erlaubte sich in der Dunkelheit des Waldes ein Schmunzeln.
"Marces, mein Liebster...", brachte Avelina mit zittriger Stimme hervor, als sie ihren Atem wieder mehr unter Kontrolle hatte und drehte sich zu ihm, ihm eher zurückhaltend die Hände an die Oberarme legend, "Wir... ich habe es getan, ich habe mich endlich befreit. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Kannst du es hören?" Er schüttelt den Kopf, hob aber die Mundwinkel zu einem liebevollen Lächeln und strich ihr sanft über die Wange. "Ava, meine Taube... ich hätte nie gedacht, dass du... ich wollte nicht, dass du dich mit ihm so überwirfst. Das ist alles meine Schuld", erwiderte er mit einem hörbaren Hauch von Bedauern in der bewusst helleren Stimme. Nun war es an ihr den Kopf zu schütteln. "Nein, Liebster. Du hast nur meine lautlosen Schreie gehört und mich befreit. Gleich, was geschieht, ich werde immer im Herz bewahren, was du in mir geweckt hast." Avelina drückte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen sanften, doch von der aufregenden Situation offenbar befeuert innigen Kuss aufzulegen. Nur flüchtig verspürte Nika einen Anflug von Mitleid.
Entfernt erklang das Gebell von Hunden. "Lass uns weiter, meine Taube. Ich kenne einen Gasthof in der Stadt, wo wir uns erstmal verstecken können. Es ist etwas schäbig, aber niemand dort wird dich erkennen oder uns verraten. Dort überlegen wir uns wie wir weitermachen." Nika erfasste erneut ihre Hand und sie folgte ihm bedenkenlos.
"WO IST SIE? WO IST MEINE TOCHTER, DU DRECKIGER HUNDSFOTT?!" Der Freiherr tobte, sein Gesicht war puterrot angelaufen und Adern pulsierten auf seiner Stirn. Nika stand festgehalten von zwei Soldaten in der Wachstube des Wasserschlosses. Der Freiherr rammte ihm seine Faust in den Bauch und Nika sackte nach vorne. Jaronas Alois von Graufall hatte seiner Wut bereits ausführlich an dem großgewachsenen Jugendlichen Ausdruck verliehen. Der Jüngere spuckte etwas Blut auf den Boden. "WO IST SIE? WOHIN HAST DU SIE VERSCHLEPPT? SAG ES MIR SOFORT UND ICH LASS DICH VIELLEICHT...!"
Nika lachte auf und hob den Blick zu dem Freiherrn an. Auf dessen Zügen spiegelte sich sogleich Befremdung und Irritation bei der Reaktion des Halbstarken und er erstarrte mit geballten Fäusten in der Bewegung. "Hört zu, Euer Hochgeboren, werter Freiherr von Graufall, ich fürchte Ihr seid Euch der Lage nicht bewusst. Mitnichten seid Ihr in der Position mir zu drohen außer natürlich das Leben Eurer Tochter bedeutet Euch einen Scheiß!", sprach Nika bedachten Tonfalls, lediglich ein Hauch Spott schwang in der Stimme. Der Ältere glotzte ihn an als habe er sich vor seinen Augen in einen Wolpertinger verwandelt. Die Erkenntnis, die in jener Fassungslosigkeit schwang, deutete darauf hin, dass er sehr schnell begriffen hatte, dass die ganze Lage anders war als er angenommen hatte. Er ließ die Fäuste sinken.
"Wer bist du? Was willst du?", fragte er dann in einem gesetzteren Tonfall, die Berechnung setzte ein. "Sie ist sicher, vorerst", antwortete Nika stattdessen und schüttelte die Hände der Soldaten ab, die dies auf Weisung geschehen ließen. "Nicht, wenn ich nicht zurückkehre. Und wie sie zu Euch zurückkehrt, liegt ganz in Eurer Hand und Euren Entscheidungen und Anweisungen, Euer Hochgeboren." Dieser spannte sich bei den Worten sogleich wieder an. "DU ABARTIGE BESTIE! WIE KANNST DU DROHEN IHR ETWAS ANZUTUN?" Nika schüttelte den Kopf und gab ein tadelndes Geräusch von sich. "Ich habe nicht vor ihr etwas anzutun, nicht im Geringsten. Aber vielleicht kann ich nicht Nein sagen, wenn sie mir etwas schenken will, was zumindest für ihre Reputation von hohem Wert ist? Oder... sie wird Euch nie wieder ein Wort glau..." Die Faust des Freiherrn brach ihm eine Rippe.
Der Freiherr tat, was Onkel von ihm wollte. Bald darauf kehrte seine, abgesehen von ihrem gebrochenen Herzen, nach eigenen Angaben unversehrte Tochter nach Hause zurück. Nika hatte mit der Erfüllung dieses Auftrags bewiesen, dass er bereit war. Er war nun der Schlüssel. |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 05 Jan 2023 00:37 Titel: |
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Ich hab' noch nie...
Der Sommer des Jahres 258 wurde nach all dem Regen und der Schwüle des Frühsommers heiß und trocken. Im Ashatar haftete statt des Schlamms Staub auf der Kleidung und Haut der Einwohner von Siebenwacht, dennoch kehrte ob der eher gewohnten Wetterverhältnisse eine hitzeleidende Zufriedenheit ein, die wie ein tonloses Seufzen über der Stadt lag.
Nika hatte in jenem Sommer keine Zeit für Müßiggang. Mit seiner "Beförderung" zum Schlüssel erhielt er eine ganze Liste an schier unlösbaren Aufgaben von Onkel, für die er nun Wege ersinnen und finden musste. Zwar konnte er nun auf mehr Ressourcen zurückgreifen, doch machte es das nur bedingt leichter. Wenn schließlich ein Plan entsponnen war, häufig auch in Abwägung mit Onkel, begann Nikas eigentliche Arbeit. Und diese war fast immer zeitaufwändig. Er eilte von einem Liebesschwur zu einem vermeintlich zufälligen Treffen, weiter zu einem Spitzel mit Berichten hin zu einer Lehrstunde bei der Spindlerin, um nach einem abendlichen Stelldichein noch heimlich die erfüllten Aufträge von Maus einzusammeln. Nika verlor die Zeit aus den Augen, alle Zeit. Mal war es Tag, mal Nacht, manchmal stemmte er sich gegen alles, meist funktionierte er. Meist war er taub, das wilde Rasen ein Echo in seinem Inneren. Spröde geworden von seiner eigenen Unbeugsamkeit zerfaserte sein Inneres entlang der Bruchkanten von Jahren.
Plötzlich war es Herbst geworden. Und wie die Tage kürzer wurden und die Hitze und dann die Wärme schwand, nahm auch das Arbeitspensum allmählich ab. Einige Aufgaben waren erfüllt, manche brauchten noch Zeit. Allmählich erschien der Wechsel von Tag und Nacht wieder mehr Sinn zu ergeben. Häufig saß Maus neben Nika, wenn er im Loch erwachte, wo er nach wie vor freiwillig schlief, und sagte ihm Tag und Uhrzeit, bevor sie verschwand. Manchmal lag Nika dann stundenlang auf dem Rücken und stierte in das vertraute Graubraun der Bodendielen des Erdgeschosses über ihm. Manchmal besuchte er Fiete, wenn der nicht arbeiten musste. Und manchmal quälte ihn der Hunger zu sehr, um stillzuhalten.
"Schmee, du dämlicher Maulmacher!", grollte Mads und warf einen der Würfel vom Tisch in Nikas Richtung. Der wischte das Wurfgeschoß beiseite, lenkte die Richtung aber nur ab, sodass der Würfel Cia an der Schulter erwischte. "Das ist kein Schmee, ich sag die Wahrheit", erwiderte er unaufgeregt, während er den Würfel von der Bank aufsammelte und zurück auf die Tischplatte legte. "Du behauptest also ernsthaft, du hast schon mal mit drei Flaschen Kehlenschlitzer intus den 'kurzen Weg' über die Schindelzunge genommen?", fragte Vala, Mads jüngere Schwester, mit einem eher ungläubigen Unterton nach.
Der 'kurze Weg' war ein Pfad über die Dächer der alten Hafenkante, der von Gaunern, Halsabschneidern, Dieben und eigentlich allem Gesindel genutzt wurde, das zeitweise schnell verschwinden musste. Er erstreckte sich über weite Bereiche des Hafenviertels, gleichsam einem eigenen Straßennetz über den Dächern, und wurde von jedem Nutznießer gewartet und in Stand gehalten. Er war allerdings nicht ohne, beinhaltete er je nach Route Klettern, weite Sprünge und schmale Trittwege. Er war schon nüchtern und bei Tag nur eine Wahl für Zwangslagen. Hin und wieder stürzte einer ab und brach sich alle Knochen oder, wenn er Glück hatte, das Genick. Als Krüppel konnte man nur noch betteln gehen. Das bedeutete meistens einen sehr viel langsameren und qualvolleren Tod.
"Hab' ich", bestätigte Nika nur erneut mit einem bekräftigenden Nicken. Mads stierte ihn an als wolle er ihn gleich erwürgen, andererseits sah er meistens so aus. Cia schmunzelte vieldeutig und hob die Hand in Richtung Wirt an. "Beweis es, Zuckrigkeit!" Nika schnalzte mit der Zunge bei ihrer Titulierung und sah sie strafend an.
Den Weg in der Dunkelheit zu finden war leicht. Nika kannte alle Pfade des 'kurzen Wegs' seit er als Kind angefangen hatte Flüsternachrichten und Beutelchen für Onkel und Tante zu überbringen, selbst wenn er erst alle beschreiten konnte seit er größer und stärker geworden war. Das Problem war, dass ihm immer wieder die Sicht vor Augen verschwamm. "Drei Flaschen... dämlicher Wolkenschieber... Hätteste mal zwei gesagt...", murmelte er tadelnd zu sich selbst, als er auf der Schindelzunge stand. Eine berüchtigte Stelle des Wegs, die einen weiten Sprung über eine tiefliegende Gasse nötig machte. Nika schloss die Augen und atmete durch. Er sprang.
Nach jener schicksalshaften Nacht im Kerker von Siebenwacht, als er Cia das erste Mal begegnet war, hatten sie sich angenähert. Nicht so weit, dass sie einander als Freunde bezeichnen würden oder vertrauten, doch weit genug ab und an zusammen die Zeit totzuschlagen, gemeinsam trinken zu gehen, die eine oder andere kleine Gaunerei abzuziehen, einander zu Unsinn anzustiften oder sich, wenn ihnen danach war, anderweitig miteinander zu vergnügen. Ihnen war meistens danach.
Cia gehörte zu einer kleinen Jugendbande in der alten Hafenkante, recht klein und familiär hielt sich das Jungvolk mit Gelegenheitsgaunereien und -betrügereien über Wasser, ab und an auch mit ehrlicherer Arbeit wie Botengängen oder Überwachungen. Nika kannte die meisten von ihnen dem Aussehen nach, über die Zeit lernte er aber neben Cia vor allem die Geschwister Mads und Vala und Xander kennen.
Mads war knapp 20 Jahre und ein Riese von einem Kerl, muskulös und stark. Er hatte ein aufbrausendes Wesen und war vor allem dem Kern der Bande überaus loyal. Entgegen der naheliegenden Annahme war er schlau, nicht unbedingt geistesscharf, doch vernünftig. Seine Schwester Vala war ebenso hochgewachsen und athletisch, sie mochte etwa in Nikas Alter sein. Sie war klug und scharfzüngig, sie ließ sich nie etwas gefallen und nie etwas auf sich sitzen. Xander war eher ruhig und besonnen. Er war mit Anfang 20 einer der Ältesten der Bande, groß und schlank, doch mit einer Kraft, die man dem schlaksigen Kerl weniger zutrauen würde. Xander war der Kopf der Bande, dem Namen nach, denn die meisten Ideen und Vorschläge kamen von Cia.
Sie war das Herz der Gruppe, alle mochten und achteten sie und ihre Künste und Fähigkeiten waren unbestreitbar. Nika schätzte sie vor allem wegen ihres feinsinnigen Humors und ihres präzisen Spotts, mit dem sie die Welt betrachtete. Sie trug einen stillen Elitarismus zur Schau ohne verbittert, hämisch oder herablassend zu wirken, es ließ sie eher gehoben erscheinen. Oft zeichnete sich auf ihre Lippen ein süffisantes Schmunzeln, was ihr mit den Sommersprossen auf Nase und Wangen einen unbedarft-vorwitzigen Ausdruck verlieh. Sofern einem der dunkle, besessene Schimmer in ihren Augen entging. Nika spürte den Schwermut in ihr. Da war mehr, viel mehr, worauf er den Finger nicht legen konnte. Sie sagte nichts. Und er fragte nicht.
An jenem Abend gewann Nika wieder ein Stück Anerkennung, als er schließlich am Löschplatz abgesehen von ein paar Schrammen und Prellungen unversehrt vom Dach stieg. Cia, Mads und Vala empfingen ihn lautstark und übergaben ihm als Lohn für seinen leichtsinnigen Mut eine Flasche Whisky. Nika hatte sich mitnichten so selbstsicher gefühlt wie er sich gebärdet hatte, die lohende Euphorie erfasste ihn erst, als sein Fuß den Boden wieder berührte. Es war lange her, dass er gespürt hatte, dass er lebte. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, sein Herz klopfte gegen seinen Kehlkopf, dumpf pochte der Schmerz in den Prellungen. Trotz der trunkenen Taubheit in seinem Körper erfasste ihn die Hitze unvermittelt, als Cia ihm um den Hals fiel und einen verfangenen und leidenschaftlichen Kuss auflegte.
Bis zum Morgengrauen saßen die vier Jugendlichen auf der Kaimauer, tranken zusammen die Flasche Whisky und spielten das zuvor begonnene Spiel. Sie teilten so manches Geheimnis, nahezu abenteuerliche Wetten kamen zur Sprache, verschiedene Einsätze wurden erwogen. Es schien so unbeschwert. Nika vergaß kurz, wer er war... wer er sein sollte, was er tun und sagen musste, was er wieder gezwungen war zu sein, wenn die Sonne aus dem Meer stieg. Ob es sich so anfühlte frei zu sein? Nicht der Besitz von jemandem zu sein? Nicht gebunden und gefesselt, beobachtet und eifersüchtig bewacht? Freunde zu haben. Einfach zu sein...
Ich hab' noch nie... gefühlt, was es heißt satt zu sein.
Zuletzt bearbeitet von Nika Cytian am 05 Jan 2023 00:44, insgesamt einmal bearbeitet |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 09 März 2023 19:40 Titel: |
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Schall und Rauch
Gedhard Nussholtz drückte die Tür des Gasthauszimmers hinter sich ins Schloss und schob gleich den Riegel vor. Er fühlte sich nicht mehr sicher. Begonnen hatte es vor einigen Wochen mit einem einfachen Zettel, den ihm ein abgerissenes Straßenkind in die Hand gedrückt hatte. Darauf stand nur ein einziges Wort: Drossel. Dies entsetzte ihn mehr als es jede Todesdrohung getan hätte, denn es bedeutete, dass jemand von seiner Mitwirkung bei den Grauen Schwingen wusste. Vielleicht von seinen widerrechtlichen Geschäften und Verwicklungen, auf denen sein Reichtum fußte. In den folgenden Wochenläufen geschahen Kleinigkeiten, die er sich teilweise nicht erklären konnte: Eines Morgens lag auf seinem Nachttisch eine lange schwarz-weiße Feder. Unbekannte Menschen auf der Straße grinsten ihn an als wüssten sie etwas über ihn, einer fragte ihn sogar, ob die Sirene, eines der geheimen Schiffe, die er für die gesetzwidrigen Schmuggeleien nutzte, immer noch auf See verschollen sei, bevor er in der Menge verschwand. Dergleichen häufte sich und blieb doch nichts als Andeutung, nur Schall und Rauch.
Die Schwingen schienen es abzutun, die Magistratin meinte nur man kümmere sich bereits darum. Vielleicht sahen sie ihn nicht mehr als wichtig genug? Er wusste nicht, warum er scheinbar fallengelassen wurden, doch fühlte er sich allein. Morgen würde er abreisen, eine Zeit aus Siebenwacht verschwinden. Es war beinahe geschafft...
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er das gedämpfte Scharren hörte. Nika fühlte nicht mehr viel, als er seine Klinge Stunden später aus Gedhards Hals zog. Nicht mehr. Das Messer hatte den Schildknorpel sauber geteilt. Der überraschte Ausdruck auf dem geschundenen Gesicht des Mannes erstarrte, als das Licht des Lebensfunkens aus seinen Augen floss. Er wischte die Klinge an dem Hemd des Toten ab und packte von seinen Habseligkeiten ein, was er noch brauchte. Er klopfte drei Mal an die Tür. Lautlos schlupfte Maus ins Zimmer. Sie betrachtete die Leiche nur einen Augenblick und sah dann zu Nika weiter. "Die Kerle sollen den Körper und sein Zeug verschwinden lassen. Wenn jemand fragt, ist er aufs Schiff gegangen. Sie können das Gold und die Klamotten behalten. Ich war nie hier, das ist nie passiert, keine Spuren... Vorerst", wies er das Mädchen ruhig an. Nika riss den Siegelring, der dem Toten an einer Kette um den Hals hing, herunter und steckte ihn in seine Hosentasche. "Nii?", fragte Maus in ihrem leisen, wispernden Tonfall und hob den Blick zu ihm an. Für wenige Herzschläge betrachteten sie einander schweigend, jene bekannte, vertraute Stille zwischen ihnen, die sonst eher Raum in der Dunkelheit hatte. Nika konnte die unausgesprochenen Fragen hinter ihrem Graublau lesen, doch fragte sie nicht. Sie fragte nie. Er wandte sich zur Türe und meinte noch nach hinten: "Nur ein Arschloch. Schall und Rauch, Maus."
Beinahe ein dreiviertel Jahr war seit dem Mord an Manela Fisco und Zano Crivell vergangen. Nika hatte die Zeit bewusst verstreichen lassen, obgleich er schon im Frühjahr gewusst hatte wie er weiter vorgehen wollte. Aber er war kein rachebesessener Dünnebregen, der blindlings in den Tod rannte, weil er seinen Gegner unterschätzte. Er hatte viel gelernt im Laufe der Jahre. Durch bloße Beobachtung oder auf dem harten Weg, von Onkel, von Nan, von der Spindlerin, von Fiete, von jeder Hure, jedem Gauner und von jeder Ratte, deren Existenz auf Täuschung, Verschleierung und Tücke fußte. Er war sich der Tatsache sehr bewusst, dass er einfach draufgehen würde, wenn ihm irgendein Fehler unterlief. Wenn man das Spielbrett einmal betreten hatte, gleich ob erzwungen oder aus freien Stücken, gewann man oder man verlor. Und, wenn man verlor, dann immer im großen Stil.
Spiele die Eröffnung wie ein Buch...
Mittlerweile hatte Nika vieles über die Strukturen der Grauen Schwingen erfahren. Er wusste, dass es einen kleinen Kern von geheimen Mitgliedern gab, etwa ein Dutzend und die Vorsteherin, die Magistratin. Von ihr war Nika noch nichts bekannt, ebenso wie sich einige Personen vollständig seiner Kenntnis entzogen. Nicht jeder kannte jeden, manche kannten nur einige Decknamen anderer, alle waren hochspezialisiert auf einen Arbeitsbereich und es war nicht nötig, dass sie einander begegneten. Die Magistratin hielt die Fäden und führte alles zusammen. Die Schwingen hatten ein sich selbst nährendes System erschaffen, ein Kreislauf, in dessen Runden mehr als genügend Geld und Macht an allen Beteiligten haften blieb. Sie nahmen Einfluss auf die verschiedensten Vorgänge in Siebenwacht, es erstreckte sich von den einfachsten Waisenhäusern über die üblichen Zwielichtigen bis in die höchsten Ränge der Politik. Eines der lukrativsten Geschäfte war der Schmuggel von unverzollter Ware auf Schiffen, die nicht existierten, gestapelt in Lagerhäusern, die es nicht gab. Von den Gewinnen bezahlten sie Augen blind zu sein, investierten in aufstrebende Politiker oder junge, abgebrannte Adelige, die wiederum die Geschicke der Verwaltung zu ihren Gunsten drehten. Und jede "Wohltat" wurde besiegelt und verbrieft und wurde katalogisiert in ihrer Sammlung. Ein Archiv der Ermächtigung, der Erpressung, eine Bibliothek der Niedertracht. Jeder, der je mit ihnen Geschäfte gemacht hatte, hing in den klebrigen Fäden fest. Es war ein System, das sich selbst nährte, das sich selbst antrieb und das keiner verlassen konnte ohne seinen Ruf, seinen Reichtum und seine Freiheit einzubüßen. Manchmal auch sein Leben. Es war widerlich und es war genial!
So moralisch verachtenswert das Vorgehen der Grauen Schwingen auch sein mochte, bedienten sie sich doch des ganzen bunten Blumenstraußes von Mord, Erpressung, Betrug, Misshandlung und Nötigung, war ihm dies nicht Ansporn seines Handelns. Es hatte für ihn schlicht keine Bedeutung, wer unter dem Handeln der Schwingen leiden musste oder warum. Es interessierte ihn nur, wenn er darin einen Vorteil für seine Pläne gegen das Syndikat sah. Er war kein Beschützer der Schwachen, kein Retter der Geschundenen, kein Befreier der Unterdrückten. Er respektierte das kunstvoll ausgearbeitete System der Grauen Schwingen, sie hatten ihren Verstand genutzt, um etwas zu schaffen, von dem sie nun profitierten. Es war ihr Recht, weil sie es konnten. Und es war sein Recht ihnen ihr Leben wegzunehmen, weil er es konnte. Gerechtigkeit existiert nicht, nur Recht und der Wille es für sich zu beanspruchen.
Im Winter verschwand ein weiteres Mitglied des Syndikats, unbeachtet von der Welt und ihrem Umfeld. Ihre Nachbarn erzählten sich, dass die alternde Dame, die schon immer für ein nervöses und angespanntes Naturell bekannt gewesen war, ihren Verstand verloren hatte. Sie habe immerzu von einem Geist in ihrem Heim geplappert, von blutigen Federn und von Netzen aus schwarzen langen Haaren. Eines Tages im Hartung 259 war sie spurlos verschwunden. Wie Schall und Rauch. Man nahm an jemand habe sie in ein Sanatorium verbracht, nachdem auch ihr Haus über Nacht geräumt worden war. Allerdings hielt sich ihre Geschichte eine Weile als Schauermär im Viertel, nachdem man gerüchteweise hörte in ihrem leeren Haus habe man nur eine einzelne blutige Feder gefunden.
... Spiele die Mitte wie ein Zauberer... |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 06 Jun 2023 17:22 Titel: |
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Blei
Mit dem Zeigefinger zeichnete Cia eine der Narben nach, die sich über Nikas Schulter zog, folgte ihrem ausgefransten Verlauf über das Schlüsselbein bis hinab auf seine Brust. Er spürte ihren warmen Atem auf seiner Haut, als sie halblaut fragte: "Erinnerst du dich an jede der Narben? Wie sie entstanden ist, mein ich." Er wandte das Gesicht beiseite zu ihr. Cia lag neben ihm auf dem Bauch und hatte sich mit den Unterarmen auf den Dielenboden aufgestützt. Trotz der Tatsache, dass es in der Kammer bitterkalt war und sie gänzlich unbekleidet war, schimmerten an ihren Schläfen Schweißperlen. Nika hob die eine Hand und ließ seinen Daumen über die Narbe in ihrem Gesicht hinabwandern. "Ja", antwortete er ruhig, "Du doch auch." Sie hob den Blick an, um seinem zu begegnen. Für einen flüchtigen Moment huschte jene dunkle Schwermut durch ihre Augen wie ein fliehender Schatten, ehe sich wie ein abwehrender Schild das bekannte süffisante Schmunzeln auf ihre Lippen legte. Anstatt ihm zu antworten, senkte Cia den Kopf ab und legte ihm einen flüchtigen Kuss auf die warme Haut der Narbe.
"Du solltest aufhören immer gegen alles zu kämpfen, Nika. Was unfähig ist sich zu beugen, bricht... früher oder später", sprach sie dann in ihrer rauchigen Stimme ohne sich von ihm zu lösen. Nika ließ den Kopf auf die Dielen zurücksinken und schloss die Augen. "Nein", antwortete er zunächst schlicht. "Ich zerbreche lieber als auch meinen Kopf unter das Joch zu beugen, unter das mein Körper gezwungen ist." Cia drehte sich mehr über ihn, als ihre Lippen zu seiner Schulter hochwanderten. "Du bist nicht so dumm anzunehmen, dass du damit durchkommen wirst. Du kannst nicht gegen alles kämpfen", flüsterte sie leise an seine Haut und hob dann den Kopf, um ihn ansehen zu können. "Ich kämpfe nicht gegen alles. Ich kämpfe auch nicht für alles, Cia, noch hab' ich es vor! Ich beuge mich nur auch nicht allem." Nika öffnete die Augen und erwiderte ihren Blick unverwandt. "Jeder Preis ist zu hoch in unserer Welt. Alles, was ich habe, ist diese kleine Freiheit meines Willens." Für wenige Herzschläge sahen sie einander stumm an, ehe sie angedeutet den Kopf schüttelte.
"Sie werden dich umbringen. Die, die Macht haben, sie werden dich brechen und ausweiden, wenn du so eigensinnig bleibst. Kannst du nicht... ein wenig nachgeben? Es vortäuschen? Manches einfach auf sich beruhen lassen?", fragte Cia halblaut, als sie sich wieder über ihm herabneigte. Aus irgendeinem Grund haftete ihrer Stimme eine gewisse Traurigkeit an. "Die Welt ist so schon voll genug von rückgratlosen Kriechern und jenen, die nur anfingen irgendetwas vorzutäuschen und mittlerweile die ergebensten Knechte irgendwelcher Arschlöcher sind. Ich will keiner von ihnen sein." – "Manchmal hat man keine Wahl." Er hob den Kopf und sah auf ihren weißblonden Haarschopf hinunter. Etwas an ihrem Tonfall hatte ihn irritiert, wenngleich er den Finger nicht darauflegen konnte. "Du bist ein Idiot, Nika!", setzte sie dann noch in einem eher amüsierten Tonfall nach. Der plötzlich aufkommende, scharfe Schmerz ließ ihn hochfahren. Cia löste den Biss an seiner Schulter und sah ihn mit einem herausfordernden Schmunzeln auf den Lippen an. Nika blickte auf den teils blutigen Abdruck hinunter, dann anklagend zu ihr hin. "Scheiße, Cia, was soll das? Bist du irre?" Ihr Schmunzeln wuchs sich zu einem Grinsen aus, als sie mit einem Bein über ihn stieg und die Arme um seinen Nacken schlang. "Auf jeden Fall!", erwiderte sie geflüstert und neigte sich über ihn.
Onkel neigte sich über ihn und drückte Nika mit der Hand auf dem blutigen Bissabdruck herunter auf den Tisch. "Dämlicher kleiner Scheißkerl!", zischte er ihm dabei zu und grub die Fingernägel in die Wunde bis Nika gedämpft japste. "Du wusstest, dass das heute ansteht! Kannst du deine damischen Metzen nicht zähmen? Es geht mir meilenweit am Arsch vorbei, mit welchen Flittchen du rumbohlst, solang du deine Arbeit machst! Mach dich..." Soles Hand zitterte vor Wut, als er gefährlich leise flüsterte: "Verdammt nochmal nicht nutzlos für mich, du Schandbalg!" Nika erkannte an dem Ausdruck an seiner Miene und den an Hals und Schläfe hervortretenden Adern, dass er sich schwer beherrschen musste ihn nicht Grün und Blau zu prügeln. Einzig die Aussicht, dass seine Gäste bald auftauchen würden, hinderte ihn daran. Trotzig rammte Nika den Handballen gegen Onkels Unterarm, dessen Griff damit wegschlagend. "Fass mich nicht an!" Rasch hatte Sole den Halbstarken am Haarschopf gepackt und rammte seinen Kopf mit ungebremster Kraft gegen das Holz zurück. Für einige Momente sah Nika nur noch Schwärze und einige tanzende Sterne, hörte aber Onkels drohende Stimme deutlich an seinem Ohr: "Vorsichtig, Fisch, ganz vorsichtig!" Er spürte wie sich der Ältere entfernte und dabei rief: "Saja, Schneckchen, still die Blutung und verdeck die Wunde so gut es geht!"
Das "flüssige Blei", dessen Wirkfähigkeit bei dem Besuch von Onkel und Tantes Gönnern, Teilhabern und Gesellschaftern vorgestellt werden sollte, wirkte rasch und stark. Die Spindlerin, die das Mittel entwickelt hatte, stand etwas abseits und beobachtete die Szenerie. Sie hatte sich bemüht Nika nicht zum Anschauungsobjekt, sondern zum Mitwirkenden der Darbietung zu machen, wusste er neben der Spindlerin mittlerweile am besten mit der Lösung umzugehen und sie kundig aufzutragen. Tante hatte ihrem Ansinnen rigoros widersprochen. Nika konnte vermuten, warum.
Er spürte und sah alles, er konnte die Mimik verändern und mit etwas Anstrengung den Kopf beiseite drehen. Sein restlicher Körper entbehrte aller Muskelkontrolle. Gefesselt und niedergedrückt ohne Seil oder Kette, ohne Abdrücke und Abschürfungen und ohne bleibende Schäden. Interessant für jeden Hurenwirt, Bordellbetreiber, für jeden Menschenhändler und Entführer, für jeden Hehler für seltene, gefährliche und tödliche Mittel und Gifte und eigentlich jeden zwielichtigen Kontrollsüchtigen und obsessiven, düsteren Charakter Siebenwachts. Entsprechend "erlesen" war die Gästeliste für jene Präsentation, eine Auswahl des ekelhaftesten Abschaums und der finstersten Ausgeburten der menschlichen Niederträchtigkeit.
Onkel hatte dafür bereitwillig einige seiner Zöglinge als Anschauungsobjekte erboten. Dies war seine Gelegenheit weiterführende Kontakte zu knüpfen und sich und sein Geschäft bekannter zu machen. Neben Nika lagen noch ein älterer, deutlich kräftigerer Junge, eine hübsche, vielleicht Fünfzehnjährige und ein kleines, mageres Mädchen auf Tischen verteilt im Kellerraum. Nika hörte das leise, ängstliche Wimmern des Kindes, sie weinte seit sie in den Keller gebracht worden war. Er konnte es verstehen, es würde aber nicht helfen. Nichts und niemand würde ihnen helfen.
Die Zeit verging quälend langsam. Die Gesichter, die an Nika vorbeizogen, die Hände die ihn berührten, sanft oder grob, um die Wirkfähigkeit des Mittels zu testen, die Worte, die sie sagten oder flüsterten, die sie ihm zuraunten, alles war grau und dumpf und weit entfernt. Dies lag nicht am "flüssigen Blei", es war seine Entscheidung sich in sich zurückzuziehen. Er hatte es zur Genüge gelernt. Nur am Rande seines Bewusstseins bekam er mit, dass verschiedene Leute versuchten ihn von Onkel zu kaufen, dann zu leihen. Die Hübsche und das kleine, weinende Mädchen fanden für unverhältnismäßig viel Geld einen neuen Besitzer. Nur ein Nebenerwerb an diesem Abend für Sole und Sanna. Der ältere Junge hatte leider das Pech gehabt Versuchskaninchen für die Extreme der Lösung zu werden. Er verlor eine Hand. Er hatte nicht einmal gezuckt. Die allgemeine Begeisterung wandelte sich zur Euphorie und die Bestellmengen erzählten von dieser Erfolgsgeschichte.
Nika spürte ein Kribbeln in Fingern und Zehen. Die Wirkung würde sich bald verlieren. Die Gäste waren fort, die Hübsche und das Kind weggeschafft, der verstümmelte Junge bei einem Wundflicker. Das Licht des verbliebenen Kienspanes verlor sich nach und nach. Nur Tantchen stand noch neben seinem Tisch und betrachtete ihn mit jenem unverhohlenen, possessiven Ausdruck in diesen unpassend strahlend hellblauen Augen. Sie strich sanft über die Bisswunde an seiner Schulter und fragte leise, doch mit einem überspannten Unterton: "Wer war das? Eine von hier?" Nika schwieg. "Du solltest doch aufpassen. Du weißt wie ich sein kann...", ihre Stimme zitterte leicht, als sie über seine Brust herabstrich. Er spürte wie sich seine Glieder verkrampften, selbst wenn er sich dank des "flüssigen Bleis" noch immer kaum bewegen konnte. Er wandte den Kopf beiseite, um ihrem Anblick zu entgehen, dem sich wandelnden Ausdruck auf ihrer Miene.
In der Schwärze der Kellerecke bewegte sich etwas. Nika stierte Maus an. Eine kleine Klinge blitzte in dem dämmrigen, sich verlierenden Licht in ihrer Hand auf. Nein, formten seine Lippen lautlos. Es war eindrucksvoll wie schnell und lautlos das Kind hinter Sanna herangehuscht war.
Tantchens gellender Aufschrei hallte von den Wänden des Kellers wider. |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 28 Aug 2023 22:11 Titel: |
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Von Luft und Liebe (... und Gold)
Nach dem Vorfall herrschte im Nest eine angespannte Stimmung. Tante war von dem Angriff nur leicht verletzt worden, eine seitliche Stichwunde an der Hüfte, wo der Beckenknochen eine tiefere Wunde verhindert hatte. Entgegen ihres überspannten und leicht reizbaren Naturells war die kleine, dickliche Frau alles andere als zerbrechlich, geschweige denn leicht aus der Fassung zu bringen. Bereits am Tag nach dem Angriff wanderte sie flankiert von zwei Aufpassern und auf einen Stock gestützt durch das Haus und drehte es auf links. Sie wusste nicht, wen oder was sie suchte.
Maus war so rasch in die Schatten des Kellers getaucht, dass Tante ihr kurzes Erscheinen im Zwielicht durch den schmerzhaften Schreck verpasst hatte. Nika tarnte Maus' Flucht hinauf ins Erdgeschoss, indem er sich noch recht unkoordiniert von dem Tisch rollte und halb auf die auf dem Boden sitzenden Sanna fiel. Als wenige Momente später die durch den Schrei alarmierten Handlanger mit Laternen auftauchten, war der Keller leer. Bis auf die Verletzte und den noch immer großenteils gelähmten Nika. Onkel war vollständig außer sich. Nicht, dass er Angst um Sanna hatte, doch bedeutete ein Angriff auf die höchste Frau im Nest, seine Ehefrau, dass es Bereiche und Personen gab, die sich ihrer Kontrolle entzogen. Sogar so weit, dass sie wagten einen freimütigen Angriff gegen sie zu führen. Der Gedanke, dass es sich bei dieser Person nicht um Nika handeln konnte, erreichte sein logisches Denken allerdings erst, nachdem er seiner Wut an dem beinahe reg- und vollständig wehrlosen Halbstarken ausgiebig Luft gemacht hatte und sich die noch immer blutende Sanna in seinen Arm warf, um ihn an Weiterem zu hindern. Nika gab vor niemanden gesehen zu haben, er behauptete aus Sorge um Tante vom Tisch gerollt zu sein, nachdem sie zusammengesackt war. Onkel glaubte ihm kein Wort. Der angetane Ausdruck in Tantes Augen verriet Nika, dass sie es tat oder zumindest wollte. Es verursachte ihm Übelkeit.
Der Frühling des Jahres 259 begrüßte Siebenwacht in jenem Jahr freundlich und mild. Es war bereits im Wechselwind angenehm und sonnig, Anfang Eluviar frühsommerlich warm mit einer sanften Brise, die über das Meer heranzog. Es schien als lächelte die Göttermutter selbst auf die Stadt herab, denn allerorts blühten Vergissmeinnicht, Ranunkeln, Stiefmütterchen und Tulpen. Selbst in der alten Hafenkante erhoben Blüten ihr Haupt aus dem Schlamm der ausgetretenen Gassen. Jene seltene Gnade des Schicksals, gleich ob sie nun Göttern, Gezeiten oder Geistern zugeschrieben wurde, hob die Stimmung der Bürger allerorts in Siebenwacht und machte sie freimütiger und nachgiebiger. Und dümmer.
Seit einigen Wochenläufen arbeitete Nika an seinem neuesten Auftrag. Wie immer hatte Onkel betont wie wichtig die Erfüllung desselben war, wie immer hatte er mit den Hintergründen gegeizt: Es galt die familiär vereinbarte Verlobung der ältesten Kinder zweier einflussreicher Goldschmiedefamilien, der Familie Revandell und der Familie Thiershaupt, aufzulösen, die durch den anstehenden Zusammenschluss stark an Macht und Einfluss gewinnen würden. Sollte dabei einer oder beide des angehenden Ehepaares in Ungnade fallen, wäre das durchaus erstrebenswert. Nika wusste, dass es mitnichten um eine schlichte Auflösung ging. Er hatte schnell herausgefunden, wer der "geheime" Auftraggeber war und was er wirklich wollte. Interessant daran war aber eher, warum Onkel investierte. Das galt es noch zu durchschauen.
Nika hatte angesetzt, wo er immer ansetzte, und seine Chancen für einen schnellen Erfolg erfahrungsgemäß am höchsten standen: Ladina Revandell war ungefähr in Nikas Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, und ein eher abwägendes, ruhiges Mädchen. Im Gegensatz zu ihrer jüngeren, aufgeregten Schwester Catina, deren Bedürfnis Nika überall hin nachzulaufen allmählich mehr als lästig wurde, zeigte Ladina wenig Interesse an seinen Annäherungen. Er sollte noch in Erfahrung bringen, warum.
In Überlegungen für eine Änderung des Plans versunken ging Nika die Goldschmiedegasse zur Werkstatt der Familie Revandell hinauf. Eingeschleust als Neffe eines langjährigen Edelsteinlieferanten, der zufälligerweise Onkel noch einen Gefallen schuldete, und etwas über das Feinschmiedehandwerk lernen sollte, hatte er freien Zugang zu den Arbeits- und dem Personal zugänglichen Wohnbereich der Familie. Gerade, als er in den Hof abbiegen wollte, nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und duckte sich weg. Er verfluchte sich für seine Unachtsamkeit. Raue, starke Hände packten ihn, dann wurde es schwarz.
Als Nika wieder zu sich kam, war es noch immer dunkel. Nein, nicht dunkel, er konnte die groben Maschen eines Sacks sehen mit dem durchscheinenden Sonnenlicht. Es roch nach Salz, Fisch, nach Tabakrauch und er spürte das leichte Schwanken des Meeres unter sich. Zweifellos war er auf einem Schiff. Rasch ging er die naheliegendsten Möglichkeiten für die Situation im Kopf durch, doch schien nichts Sinn zu ergeben. "Ich hab' euch gesagt ihr sollt ihn holen, ihr Bilgratten! Nicht ihn verschleppen! Ich will doch nur mit ihm palavern." Die Stimme klang wie die eines jungen Mannes, leicht rauchig. Dem Tonfall war zu entnehmen, dass er es gewohnt war vertraut-derbe Anweisungen zu geben. Das Sonnenlicht blendete ihn, als Nika der Sack vom Kopf gezogen wurde, und er kniff die Augen zusammen. Aus dem strahlenden Weiß schälten sich allmählich Konturen, ein Mast, die Umrisse von Männern und ein Gesicht nahe vor seinem.
"Ahoi, Bursche!" Es war dieselbe Stimme wie zuvor. Der junge Mann, dem sie angehörte, war wohl Anfang bis Mitte 20, braungebrannt mit schulterlangen ausgebleichten Haaren, strahlend hellblauen Augen mit einem amüsierten Blitzen darin und kantigen, doch ansehnlichen Gesichtszügen. Er wirkte sehnig bis athletisch, der passende Körperbau, um sich geschickt durch die Takelage eines Schiffes zu bewegen. Alles in allem war er wohl das, was man als verwegen und schneidig bezeichnen würde, das geformte Abbild eines Seemanns aus den unanständigen Träumen jedes jungen Mädchens mit Fernweh. Er grinste. Nika fand ihn sogleich sympathisch.
"'Tschuldige den Überfall, Ilyas. Offenbar hat die Mannschaft meine Anweisung missverstanden", erhob er dann erneut die Stimme und blickte kurz über die Schulter zu den fünf Seemännern, die wie auf Kommando in betretenes Gemurmel verfielen. Jedes Wort war gelogen. Es war alles inszeniert. Nika unterdrückte ein Schmunzeln und versuchte ein möglichst eingeschüchtertes Gesicht zu machen, er räusperte sich mehrfach. "Nein, der Herr, schon gut. Es ist schwer..." Der Blonde hob Einhalt gebietend eine Hand und verneigte sich. "Ich bin Thierry Siro Aurélien Juillard y Luque, erster Maat der Sirène d'or. Thierry reicht." Mit einem wachsamen Ausdruck in den Augen tangierte er Nika, dann setzte er wieder ein gewinnendes Lächeln auf. "Reden wir."
Thierry führte ihn in eine Kneipe am Hafen. Nika kannte sie als beliebte erste Anlaufstelle für frisch angelandete Seeleute mit ebenso frischer Heuer, um nach Wochen oder Monden auf See den festen Boden unter ihren Füßen mit einer Flasche Rum in der Hand und einem leichten Mädchen im Arm zu feiern. An jenem Vormittag jedoch war es verhältnismäßig ruhig. Thierry schob Nika zu einem Tisch in einer Ecke und orderte eine Flasche Rum. Das Gespräch drehte sich zunächst um einige Belanglosigkeiten, so schien es, vermeintlich um sich für das "Missverständnis" zu entschuldigen, während er versuchte Nika möglichst viel Rum einzuflößen. Nika gab den zurückhaltenden Sohn einer Kaufmannsfamilie, Ilyas Mireo Tomasi, die Figur, die er für seinen Auftrag spielte. Er merkte, dass Thierry öfter versuchte ihn herauszufordern oder zu einer unbedachten Aussage zu bewegen. Nach etwa einem Stundenlauf breitete sich Stille zwischen den beiden aus. Nika wollte sich gerade erheben und unter einem Vorwand entschuldigen, da griff ihn der Ältere am Handgelenk.
"Setz dich", meinte Thierry halblaut, seine Stimme nun ohne den jovialen Klang von zuvor, "Ich weiß nicht, wer du wirklich bist, ich weiß nur, dass du nicht bist, wer du behauptest zu sein." Nun wurde es endlich doch noch interessant! Nika neigte seinen Kopf leicht beiseite, sagte aber nichts. "Ich hab' eine Vermutung, was du bei den Revandells tun sollst. Ich hab' nichts dagegen, wenn du deine Arbeit machst, nur... nicht..." Seine Worte wurden langsamer, dann stockte er mitten im Satz und sah Nika fast schon verloren an.
Es war eindrucksvoll wie stark der Wechsel in Mimik und Intonation von Statten gegangen war. Thierry wirkte mit einem Mal unsicher, der selbstbewusste, überhebliche Mann verschwunden, dafür trug er nun Aufrichtigkeit und Ernst auf seinen Gesichtszügen. Eine Falle? "Angenommen, was Ihr sagt, wäre wahr. Warum? Was ist Eure Intention?", erkundigte sich Nika in seiner Rolle verhaftet.
Dann sagte Thierry etwas, was der Jüngere nicht erwartet hatte, insbesondere nicht bei jemandem wie seinem Gegenüber. Etwas, was in Nikas Welt keinen Platz hatte, nicht haben durfte, was er noch nicht einmal wollte. Es war nicht nur dumm und nutzlos, es war gefährlich.
"Ich liebe sie."
Zuletzt bearbeitet von Nika Cytian am 28 Aug 2023 22:19, insgesamt einmal bearbeitet |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 10 Sep 2023 15:00 Titel: |
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Das gefährlichste Gift
"Liebe ist Gift. Verabreicht über Augen und Ohren fließt es durch deine Adern in deinen ganzen Körper. Wenn es dein Herz erreicht, führt es zu Klopfen und Flimmern, wenn es sich in dein Gehirn bohrt, nehmen klare Gedanken Reißaus und machen dich zu einem Schmachthahn und Süßler. Alle Körperteile werden dadurch geschwächt... naja, alle bis auf eines." Onkel feixte bei seinem Scherz, wurde aber gleich wieder ernst, als er sich zu Nika herumwandte. "Jeder meint er wäre die Ausnahme. Jedes Milchmaul und jeder Bierhausschwätzer denkt er würde sich nicht die Hörner aufsetzen lassen und seine Liebe wäre was Besonderes, was Erhabenes, was Göttliches. Es muss ja anders sein als bei allen anderen hunderttausenden Menschen, immerhin geht es um die einzig bedeutsame Liebe dieser Ära, das müssen die Götter und der Rest der Welt doch auch mal anerkennen! Und ein Jahr später siehst du diese bescheuerten Tapen mit einem Gehörn bis zum Hausfirst hinter ihren fett gewordenen Gabelreiterinnen durch die Gassen schleichen. Alle geistig gebrochen und körperlich schwach von dem Gift ihrer einzigartigen Liebe."
Sole trat dicht vor Nika hin und packte ihn am Kinn, seine graubraunen Augen huschten über seine Gesichtszüge. Der Jüngere wehrte sich nicht, er wusste er würde seine Kraft noch brauchen. "Du wirst viel Begehren hervorrufen, viele zärtliche Gefühle. Tust du bereits...", murmelte er nachdenklich als spreche er zu sich selbst. Flüchtig erblickte Nika einen bitteren Ausdruck in dem gezeichneten Gesicht Soles, der allerdings rasch wieder schwand. "Tu dir selbst den Gefallen und verlieb dich nie", setzte er dann ruhig hinzu, ehe seine Miene wieder an Härte gewann und der Tonfall gewohnt scharf wurde. "Vor allem nicht, solange dein Arsch mir gehört!" Nika entwand sein Kinn aus Soles Griff und zog die Oberlippe angewidert hoch. Onkel lachte bei dem Anblick. "Dein Starrsinn wird dir das Genick brechen. Bis dahin werd‘ ich dein Feuer benutzen."
Sole trat um seinen schweren Schreibtisch herum und nahm in seinem Sessel Platz, ehe er Darrell und Frids, die derzeit wehrhaftesten Aufpasser im Nest, die zuvor schweigend in den Ecken gestanden hatten, bedeutete vorzutreten. Schweigend flankierten sie Nika, der den beiden zwar an Größe, nicht im Entferntesten aber an Umfang gleichkam. Nach den unzähligen Ausrastern und Wutanfällen des als unberechenbar verschrienen "Schlüssels" ergriff Onkel vor schwierigen Gesprächen mittlerweile Vorsichtsmaßnahmen. Zudem nutzte er gelegentlich auch gerne den qualvollen Nachdruck, den ihre Anwesenheit mit sich bringen konnte. Er lehnte sich zurück und begutachtete Nika mit jenem durchdringenden Blick, vor dem man sich besser in Acht nahm. "Und jetzt, Schandbalg, erzählst du mir mal ganz genau, was mit diesem Kapitänssohn, der Revandell und deinem Auftrag war."
Knapp zwei Stunden später schleppte sich Nika aus Onkels Arbeitszimmer und rieb sich die überdrehten Schultergelenke. Die Prellungen und wieder aufgeplatzten Wunden unter der Kleidung fühlte er kaum mehr, es war zu gewohnt. Er hatte Sole erzählt, was er ihm hatte erzählen wollen, was weder ihn, noch seine Pläne in Gefahr brachte, und sich so nah wie möglich an die Wahrheit gehalten. Wie Nika schon erwartet hatte, hatte er Onkel einiges preisgeben müssen und ein wenig seiner Geschichte verschieben. Aber er hatte für sich behalten, wovon nur er profitieren sollte. Onkel schien einigermaßen zufrieden mit den Ausführungen, ob er weitere Nachforschungen anstellen würde, war ungewiss. Er war nicht in seiner Position, nicht schon mehr als ein Jahrzehnt in dieser, weil er naiv oder leichtfertig gewesen wäre. Entsprechend erlaubte Nika sich kein Lächeln, im Nest hatten die Wände Augen und Ohren.
Nach Thierrys Eröffnung und dem folgenden Gespräch war mehr als ein Wochenlauf vergangen. Zunächst hatte Nika ihm und seinen Worten nicht getraut, erst als Ladina ihm all dies selbst bestätigt hatte und das Paar um seine Hilfe bat der Situation zu entkommen, hatte er angefangen einen etwas anders gearteten Plan zu entwerfen. Nika war schon lange bewusst, dass der Auftrag das offiziell verlobte Paar zu trennen vom jüngeren, nicht zur Hochzeit vorgesehenen Sohn der Familie Thiershaupt gekommen war. Vermutlich gab er bei der Erteilung desselben vor Onkel vor selbst Oberhaupt werden zu wollen, statt seines älteren Bruders, der wahre Grund aber war das Gift. Nika hatte das Begehren in seinen Augen gelesen, als er mit seinem älteren Bruder bei den Revandells zu Besuch war. Er wollte die geplante Verbindung ruinieren, um im letzten Moment einzuspringen und die Entehrte großmütig zu "retten". Er wollte Ladina für sich, gleich unter welchen Umständen. Das Gift würde ihn ruinieren, das war absehbar. Es ruinierte sie alle früher oder später.
Nikas Entscheidung Thierry und Ladina zu helfen war bei den ausstehenden Optionen eher willkürlich. Aus allen Möglichkeiten konnte er Vorteile ziehen, allerdings war dies die einfachste Handhabung Onkel außen vor zu lassen und zeitgleich die, die den wenigsten Widerstand mit sich bringen würde. Ihre Liebe war Nika gleich, sie war ein Umstand in seinen Abwägungen, ein überdies leicht zu berechnender Umstand. Sein Plan war riskant und es würde vor allem für ihn ein Drahtseilakt, allerdings konnte der Gewinn sich sehen lassen. Nika wollte kein Gold, keine Güter, er wollte Informationen und Thierrys Schuldigkeit. Sein Wissen war sein Pfand. Es war eine langfristige Investition, die nur ihm selbst zugutekommen würde. Eine Investition, die nicht nachzuweisen war, und entfernt von dem Einflussbereich von Onkel und ganz Siebenwacht war.
Lange genug hatte Nika die Methoden von Menschen wie Onkel, Tante oder der Spindlerin schweigend beobachtet, darüber hinaus genauer die Strukturen und Systeme der Grauen Schwingen erforscht. Er nutzte das Wissen für seinen Vorteil, für seine "Tricks" und Rache bisher allerdings nicht, um sich selbst ein Netz aufzubauen. Es war schlicht zu riskant, denn Onkel entging überaus wenig. Selbst, wenn er vieles nicht beweisen konnte, schien er meist eine Ahnung von allen Vorgängen um die Bewohner des Nests zu haben. Um jemanden zu strafen oder ruinieren, brauchte er auch keine Beweise, er handelte willkürlich und ohne Skrupel. Er hatte einfach die Macht dazu. Nika war sich der Tatsache sehr bewusst, dass Sole ihn ohne mit der Wimper zu zucken verschwinden lassen würde und zwar effektiv, sollte der Alte davon ausgehen, dass er betrogen wurde. Mach dich nicht nutzlos für mich. Es war alles andere als eine leere Drohung.
In den folgenden Tagen forderte Nika einige kleinere Gefallen ein, es verschwand etwas aus dem Haus der Spindlerin, die es bemerkte, aber ihrem Lehrling durchgehen ließ. Catina bekam etwas, was sie sich gewünscht hatte, ein Geweihter Temoras gewährte etwas, was andere sich gewünscht hatten. Und es ereignete sich eine schreckliche Tragödie im Haus der Familie Revandell.
An einem nebelverhangenen Morgen Anfang Schwalbenkunft, bei dem die durch die Nebel schimmernde Sonne einen schönen und warmen Tag versprach, stach die Sirène d'or in See. Während auf dem Friedhof im reichen Handwerksviertel Siebenwachts die verstorbene Ladina Revandell tränenreich zu Grabe getragen wurde, sah das frisch vermählte Ehepaar Juillard an Bord des Schiffes einer neuen und gestohlenen Zukunft entgegen, die noch vor wenigen Tagen nicht existiert hatte. |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 13 Dez 2023 23:16 Titel: |
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Gestirne
Der Sommer 259 ersparte der Stadt ungewöhnliche Wetterphänomene. Wie man es von der Hauptstadt des südlichsten Herzogtums von Alumenas erwarten durfte war es heiß und trocken. Dank der Lage am Meer stand die erhitzte, flimmernde Luft allerdings selten lange in den Schluchten der engen Gassen der sich an die Buchtwände hinauf schmiegenden Viertel. Die alte Hafenkante, wie der Namen schon sagte ganz unten am Hafen gelegen, stank. In dem, abgesehen vom Armenviertel, heruntergekommensten Viertel von Siebenwacht scherte sich die verwaltende Obrigkeit nicht sehr um die Einhaltung der sonst innerstädtisch geltenden Verordnungen zu Schwindgruben und Ehgräben, solange die Straßen und Plätze zum Hafen frei und zugänglich blieben. Ein Geruchsmosaik aus altem Fisch, verdorbenem Fleisch und überreifem Obst vom kleinen Markt am Löschplatz, verwesendem Fleisch und Pisse von den Gerbereien, beißendem Rauch der Fischräuchereien, scharfer Säure aus den Bleichen und dem allüblichen in den Gassen vergammelnden Unrat, Auswurf und den menschlichen Ausscheidungen. Die Bewohner des Viertels nahmen ebenso wie die Seefahrer den Gestank kaum mehr wahr, anders als die ankommenden und abreisenden Besucher und bürgerlichen Gäste, die das Viertel zumeist überaus eilig durchquerten.
An jenem ungewöhnlich drückenden Abend im Ashatar gehörte Nika zu jenen geschwind durch die Straßen gehenden Gestalten in der Hafenkante. Nicht, dass ihn der Gestank, die ihn abwägend beobachtenden Ansässigen oder das allgemeine Unwohlsein, das Viertelfremde hier zur Übereiltheit trieb, anspornten, doch hatte er noch eine Verabredung. Wie eigentlich dauernd!
Der Sommer war wie immer eine sehr betriebsame Zeit für die Geschäfte von Onkel und Tante. Der Warenhandel über See und Land florierte dann in Siebenwacht und das galt infolgedessen auch für alle anderen, weniger rechtmäßigen Händel. Jene unterstützend oder vorbereitend wurde Nika als ihr Schlüssel mit zahllosen Aufgaben betraut, in deren Umsetzung er bisher zumeist frei agieren konnte. Onkels Misstrauen gegen seinen Zögling allerdings war nach den Geschehnissen um die Verletzung seiner Frau und vor allem jenen um Ladina Revandell deutlich gestiegen. Er deckte ihn mit Arbeit ein und ließ ihn fast durchgehend beobachten und beschatten. Es störte Nika nicht. Es war der Preis, den er für seine Investition in Thierry zahlen musste. Deshalb entzog er sich der Überwachung nur, wenn es unbedingt notwendig war. Treffen mit Fiete, Cia und dem Jungvolk waren selten geworden, es war schlicht zu riskant geworden sie Onkels Blicken klarer zu offenbaren. Oder Tantes.
Jene näherte sich Nika unter dem wachsamen Auge ihres Mannes zwangsweise seltener. Was eine Erleichterung hätte sein sollen, führte in dem Fall allerdings zu einer emotionalen Eskalation von Sannas ohnehin leicht reizbarem Gemüt. Für die Kinder im Nest wurde sie zur unberechenbaren Furie, ihre Strafen unverhältnismäßig hart und es kam deutlich häufiger vor, dass jemand wegen Kleinigkeiten hungern musste oder verkauft wurde. Es hatte für Nika keine Bedeutung, wenngleich wohl sein "Mangel" ihre Grausamkeit gegen die Kinder und ihre Reizbarkeit befeuerte. Er trug sein Leben, die Kinder mussten das ihre ertragen, gleich wie ungerecht es sein mochte. Es war ungerecht, doch es war gleichwertig ungerecht für sie alle.
Nur unzureichend bedeckten die Splitter und Fasern noch sein Inneres, aus dem sein Überlebenswille leckte. Er konnte spüren wie der Wahnsinn, der gleißend blendende Fleck darüberstrich. Ihn zurückzudrängen, sich unter Kontrolle zu halten, was unter der Dauerbeobachtung und ohne anderen körperlichen und geistigen Ausgleich schwieriger war als sonst, verursachte ihm Kopfschmerz und Übelkeit. Dieser Tage konnte er kaum etwas zu essen behalten. Auf- oder Nachgeben stand allerdings nicht zur Debatte, niemals.
Der Sommerball im Hause der Hochedlen von Dornsee war ein berüchtigtes und unverzichtbares Ereignis in Siebenwacht. Alljährlich fand es in dem großzügigen Garten ihrer Sommerresidenz etwas außerhalb der Stadt statt. Keiner, der Rang und Namen hatte und etwas auf sich hielt, ließ es sich entgehen. Das Motto in diesem Jahr war "Gold und Silber", sodass sich in dem Schein der zahllosen verteilten Laternen nicht nur Aufbauten und Ausstattung, sondern auch die wandelnden Gäste schimmerten, glänzten und funkelten. Der Kontrast zur dreckigen, stinkenden Hafenkante hätte kaum größer sein können.
Nika trug eine dunkelblaue Damastlivree mit zahllosen, glänzenden Applikationen aus Silbergarn, die sich in eleganten Wirbeln und Schlingen über den Stoff zogen und um einen kunstvoll gestickten Sichelmond einen silbernen Nachthimmel formten. Er hatte wohl noch nie so etwas Kunstfertiges getragen, wenngleich ob der Hitze sein Hemd darunter auf der Haut haftete. Onkel hatte ihm eingebläut gut darauf zu achten, da die Kleidung laut seiner Aussage "mehr wert wäre als sein Arsch".
Aus der Ferne beobachtete Nika sein Ziel, eine Frau mittleren Alters, kräftig gebaut in einem schlichten, blasssilbernen Kleid, doch ließ die feine Abstimmung aller Details auf ihren erlesenen Geschmack schließen. Melancholie lag in ihren Augen und grenzte sie von dem Trubel des Festes ab. Gerade als Nika sich in Bewegung setzen wollte, erblickte er eine vertraute Gestalt auf der anderen Seite der Tanzfläche. Fiete war vollständig in Gold gekleidet, in einem Gewand, das offenbar der Sonne nachempfunden war. Welch Ironie des Schicksals! Seine langen, blonden Haare flossen in leichten Wellen über seine Schultern und unverkennbar war er für heute besonders geputzt und gepflegt. Neidlos musste Nika anerkennen, dass Fiete überaus stattlich aussah. Er war in Begleitung eines offenbar sehr wohlhabenden Ehepaares, zumindest ließ ihre Ausstattung darauf schließen. Die Frau neigte sich zu Fiete, strich ihm die Haare über die Schulter zurück und setzte ihm einen angedeuteten Kuss auf den seitlichen Hals. Offenkundig genoss sie es mit jener menschlichen Trophäe, die von vielen schwärmend beäugt wurde, zu kokettieren. Die Blicke der Brüder trafen sich. Nika hob einen Mundwinkel.
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen warf Fiete Nika die Flasche zu. Jener fing sie gerade noch ab, bevor sie am Rand des Springbrunnens zerspringen konnte, in dem sie zusammen mit einigen jungen Gästen des Fests und Fietes Kundschaft badeten. Sie hatten sich nicht zurückgehalten und waren, wenn auch unterschiedliche Mengen zu dem Ergebnis geführt hatten, völlig betrunken. Der Anblick wie die Frau des betuchten Ehepaares im Wasser auf Fietes Schoß stieg verschwamm vor Nikas Augen. Er ließ seinen Kopf nach hinten auf die Umrandung des Marmorbrunnens sinken und starrte in den dunklen Himmel, an dessen Rand eine Andeutung von Grau stand. Er hatte seinen Auftrag nur ansatzweise erfüllt, bevor sich die Brüder gegenseitig einmal mehr zu wachsendem Unsinn angestiftet hatten. Dass die beiden den jugendlichen Sohn des Hauses dazu gebracht hatten, sich ihrem exzessiven Gelage anzuschließen war im Vergleich zu anderem wohl noch als harmlos zu verbuchen. Jener hatte die letzte Stunde damit zugebracht Nika anzuschmachten, der dieselbe Zeit genutzt hatte es zu ignorieren.
Er blinzelte. Der Himmel war nicht dunkel und schwarz oder ohne Charakter, er war dunkelblau; - hindurch zogen sich Wirbel von Wind und durchbrechend das Licht der Sterne, leuchtend in dem Gleichgewicht von Schatten und Fluss. Gewiss war es der Benebelung, dem Schlafmangel, der Entkräftung und Anstrengung der vergangenen Wochenläufe geschuldet, doch sah er in jenem Augenblick das Himmelszelt nicht als starres Gebilde, sondern als eigenständig atmendes und sich veränderndes Wesen. Nika hätte sich in jenem Anblick verlieren können, doch riss ihn eine Berührung an der Seite aus seiner Betrachtung.
Offenkundig enthemmt von Schnaps, Wein und anderen Rauschmitteln sah der Sohn des Hauses Nika mit einem hoffnungsvollen Glimmen im Blick an. Der zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. "Nein", knurrte er den Jungen an, "Flossen weg!" Von dem harten Tonfall alarmiert hob Fiete den Blick und musterte die beiden abwägend. Der Jüngere zuckte kurz zurück, dann neigte er sich vor und meinte leiser: "Ich kann dir geben, was du willst..." Nika stellte die Flasche auf die Umrandung und drückte sich an ihr aus dem Wasser hoch, sich gegen die Kante lehnend, während das Wasser aus dem Stoff seines Gewands rann. "Ich will, dass du mir nicht auf den Sack gehst!" Kurzzeitig verdüsterte sich die Miene des Hochedlen. "Ach, mein Hübscher, schau doch nicht so! Der Kerl ist bisweilen ein Griesgram...", erklang Fietes versöhnliche und wie stets gewinnende Stimme, die Zunge schwer vom Rausch. Nika schnitt ihm eine Grimasse und setzte die Flasche an, noch einige tiefe Schlucke nehmend. "Nun, gegeben der unverbindlichen Gesellschaft...", versuchte sich der Junge in edlem Großmut, der wohl glaubwürdiger gewesen wäre, wenn er dabei nicht in einem Springbrunnen gesessen und eher gelallt als gesprochen hätte, "Verzeihe ich ihm die Wortwahl eines Gossenjungen und die Ablehnung eines jungfräulichen Mädch..." Fiete sprang sofort auf, war aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass Nika dem Hochedlen den Flaschenboden ins Gesicht rammte und damit die Nase brach.
Noch immer außer Atem von ihrer Flucht lehnten sich die ungleichen Brüder gegen einen Baum auf der Anhöhe über der Stadtmauer von Siebenwacht. Am Horizont kündete ein goldener Schimmer von der bald dem Meer entsteigenden Sonne. "Du bist ein Idiot!", meinte Fiete mit einem kurzen Auflachen beiseite. "Selber, du Arsch", erwiderte der Angesprochene mit einem belustigten Schnaufen. Eine Weile standen die beiden schweigend nebeneinander und beobachteten in stillem Einverständnis die aufgehende Sonne und die changierenden Farben, die dabei über den Himmel Siebenwachts flossen. Schließlich trennten sich ihre Wege.
Wie sich herausstellen sollte, war dies ihr letztes Treffen für die nächsten paar Jahre. |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 24 Jan 2024 17:49 Titel: |
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Ich sehe was, was du nicht siehst
Der Regen fiel in Bindfäden. Nässe und Wind löschten die meisten Laternen und Lichter der Straßen und machten diese Nacht zu einer vollkommen dunklen. Man hörte nur das Plätschern des Wassers, das hohe Heulen des Windes und ab und an das Klappern von Fensterläden und Schindeln, wenn ein Luftzug darunter fuhr und sie zum Wackeln brachte. Nika machte einen raschen Satz unter das Vordach der Hafenmeisterei, wo Cia auf einem Fass saß, und schüttelte einige Tropfen ab. Ihr Blick blieb entrückt auf den Kai gerichtet, beinahe so als habe sie seine Ankunft nicht bemerkt. Er fragte sich bisweilen, was ihre Gedanken beschäftigte, dass sie zugleich so nah und fern zu sein schien, in ihren Augen jene stille, unaufdringliche Schwermut, die sie um Jahre älter wirken ließ. Schweigend folgte er ihrem Blick zu den ankernden Schiffen hin.
"Wenn du könntest...", erhob Cia schließlich leise ihre rauchige Stimme, "würdest du mit mir abhauen?" Nika zog irritiert die Brauen zusammen, als er den Kopf zu ihr zurückwandte und sie von der Seite betrachtete. Sie hatte noch nie etwas geäußert, was darauf schließen ließ, dass sie mehr in ihnen sah als das, was sie waren. Ihr Tonfall und ihr besonnener Gesichtsausdruck ließen allerdings keinen Zweifel daran, dass sie die Frage ernst meinte. "Willst du wirklich eine Antwort darauf?", fragte er halblaut. Sie senkte die Lider leicht ab und neigte den Kopf in stummem Verstehen. "Ich weiß, was du..." – "Nein, weißt du nicht, Cia", unterbrach er sie dann und drehte sich gänzlich zu ihr hin, "Ich will..." Nika hielt kurz inne, als er ihrem bitteren Blick begegnete und verzog die Lippen, ehe er fortfuhr: "Ich will darüber nicht nur sprechen als etwas, was ohnehin nie zur Debatte steht. Ich will... ich will nicht gefesselt sein, nicht an das Hier, nicht an sie, nicht an mich selbst und das, worin ich keine Wahl mehr habe."
Eine Weile erklang nur das Plätschern und Klopfen des Regens, dann rutschte Cia von dem Fass und schlang die Arme um seine Mitte, ihn eng an sich ziehend, wobei sie flüsterte: "Es tut mir leid, Nika." Noch etwas, was sie nie zuvor gesagt hatte...
Es waren bereits mehr als ein Mond vergangen seit Fietes Nachricht Nika auf den üblich-unüblichen Wegen erreicht hatte. Zwar war der Inhalt denkbar kurzgehalten, doch bestand kein Zweifel, dass er sie selbst verfasst hatte und nicht unter Zwang. Er hatte keine Wahl gehabt Siebenwacht zu verlassen, verschlüsselt enthalten war sein Ziel: Gerimor. Fiete wusste nicht wie lange er fort sein würde, doch bat er Nika darum ein Auge auf Maus zu haben. Sie hatte er offenbar um dasselbe gebeten, zumindest konnte Nika es an ihrem achtsamen Blick in den folgenden Tagen ablesen.
Kurzzeitig war Onkels Wachsamkeit angestiegen nach Fietes Abreise, vielleicht fürchtete er sein Zögling würde ihm folgen. Als allerdings Woche um Woche verstrich und jener keine Anstalten machte irgendetwas an seinem Verhalten und den gewohnten Abläufen zu verändern, zog Sole schließlich seine Aufpasser ab. Es war das, worauf Nika gewartet hatte.
Bereits seit mehreren Monden plante Nika den nächsten Schritt gegen die Grauen Schwingen. Er hatte die letzten zwei Wochenläufe diese Nacht abgewartet, stürmisch und recht trocken, doch mit Aussicht auf starke Regenfälle vor dem Morgen. Seit der Dämmerung stand er reglos unter einem Baum nahe der Mauer des kleinen, dem Stadthaus zugehörigen Gartens und beobachtete die Silhouetten in den erleuchteten Fenstern. Die meisten Bediensteten verließen das Anwesen vor Einsetzen der Nacht. Einer von ihnen machte einen kleinen Schlenker und legte einen Schlüssel unter einen Stein im Beet. Es war erstaunlich, wie viele Türen schlicht Münzen öffneten. Selbst, wenn dieser Diener später, getrieben von Schuldgefühlen oder gebeugt von Drohungen, alles erzählen sollte, würde die Spur nirgendwohin führen außer zu einem Mann, der seit vielen Jahren tot war.
Es gab keinen makellosen Mord, kein spurloses Verbrechen, doch existierten Mittel und Wege sie zu verschleiern und verzerren. Die menschliche Natur, stets auf der Suche nach Mustern und Zeichen und versehen mit leicht zu weckender Furcht, war dabei ein bereitwilliger Komplize. Bloße Andeutungen bewirkten mehr als ausgearbeitete und präsentierte falsche Fährten. Der Verstand zweifelte zu gerne an den geraden und einfachen Wegen, streute man ihm jedoch einen winzigen Köder hin, wozu er aus Neugier, Befremdung oder Verlangen zurückschweifte, war er verlockt. Ein Reiz wie eine Entdeckung, ein kleiner Makel, ein winziger Splitter unter der Haut, gewürzt mit dem geheimen Stolz einem verschleierten Rätsel auf der Spur zu sein, blendete die Wahrnehmung für andere Spuren. Selbst für offensichtliche, versteckt im klarsten Anblick; – der blinde Fleck. Der Geist des Menschen war nun einmal so angelegt, dass der Schein mehr fesselte als die Wahrheit. Eine Tatsache, die Nika erlernt und verstanden hatte und die er in der Angelegenheit seinem Handeln zugrunde legte. Er lernte mit jedem Schritt.
Ein derartiges Vorgehen verlangte allerdings Planung, Zeit und Präzision, zudem viel Geduld. Jeder Tappschädel mit einem Messer konnte zum Mörder werden, jeder Verrückte mit gestörter Selbstwahrnehmung und einer vergifteten Klinge konnte sich für einen genialen Assassinen halten, doch nur jene, die analytisch dachten und akkurat planten wurden zu tödlichen Geistern.
Die Mitte der Nacht war überschritten, das Haus lag schon Stunden in Dunkelheit, als Nika es durch den Hintereingang betrat. Sein Ziel lag im Obergeschoss, das Schlafzimmer des Eigentümers, Wolfran Ebensee. Der Albatros, wie er sich innerhalb der Grauen Schwingen nannte, war nicht so leicht zu enttarnen gewesen. Nika hatte all die fallengelassenen Krumen der Schwingen, die schon seiner Klinge zum Opfer gefallen waren, zusammensetzen müssen, um eine Spur zu dem Verwalter der meisten Überseegeschäfte und der geheimen Lagerhallen in Siebenwacht zu finden. Der Zufall, eine falsch gesetzte Eintragung in einem Lagerbuch, hatte ihm dann schlussendlich den echten Namen offengelegt. Wenn diese Nacht erfolgreich verlaufen würde, wäre dies ein harter Schlag gegen das Syndikat, der ihre Einnahmen empfindlich mindern würde.
Im Schreibzimmer, das ans Schlafzimmer angrenzte, hielt Nika unwillkürlich inne. Das Haus war vollkommen still. Nichts hatte auf dem Weg sein Misstrauen geweckt und doch... Er spürte wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufstellten und ein Schauer wie ein kühler Windhauch seinen Rücken hinabstreifte. Was hast du übersehen? Ein leichtes Kribbeln wanderte von seinen Fingerspitzen in seine Hände, der Instinkt der Straße. Bereits mehrere Herzschläge stand Nika nun vollkommen reglos in dem stockfinsteren Zimmer, während draußen zunächst klopfend der erwartete Regen einsetzte. Denk nach... Er schloss die Augen. War das alles zu einfach gewesen? Zu glatt? Nein, nein... Das Geräusch war leise, so leise, dass es in dem kürzer werdenden Abstand des Klopfens beinahe untergegangen wäre und doch stach es in jenem Augenblick hervor wie ein gleißender Funke in der Finsternis. Nika machte einen langsamen Schritt zurück, dann einen weiteren. Wenngleich er sich bedacht und ruhig bewegte, brannte sein Körper, in ihm schrie es. Raus! Lauf, lauf schon! Plötzlich ein Rascheln von Stoff, eine raschere Bewegung. Es war der Moment, in dem Nika sich herumwarf und losspurtete. Er ignorierte den Stich in seinem Nacken und sprang die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Die Schwäche ergriff ihn so unvermittelt, dass er einknickte und vor der Tür auf die Knie fiel. Er griff nach der Klinke. Der Regen war rot, sein Rauschen hatte einen pulsierenden Rhythmus. Langsame, leichte Schritte näherten sich von der Treppe hinter ihm. In jenem Moment wurde ihm bewusst, dass er keine Chance hatte zu entkommen. Der Gedanke schreckte ihn nicht, sonderbarerweise. Pech gehabt, Blindgänger!
Das Grauen griff unvorbereitet nach seinem Inneren. Gleichsam einer Klaue aus schwarzem Eis grub es sich in sein Fleisch und Denken und presste ihm die Luft aus den Lungen, als er auf der Schwelle zusammensackte und sein Bewusstsein in die rot pulsierende Dunkelheit fiel. "Tut mir leid, Nika", sagte Cia.
Der blinde Fleck. |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 10 Apr 2024 23:18 Titel: |
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Konsequenz
Ein dumpfes Dröhnen erfüllte seinen Kopf und betäubte sein Denken. Der Atem brannte in seinem Hals, selbst die Ausdehnung der Lungen schmerzte. Nur sehr allmählich kehrte die Erinnerung zurück, Tropfen für Tropfen. Tut mir leid, Nika. Noch ein Atemzug. Er konnte nichts sehen. Er versuchte die Finger zu bewegen. Sie kribbelten schmerzhaft, taub von dem abgeschnürten Blut. Du kannst nicht gegen alles kämpfen. Er bemühte sich jenen bohrenden Gedanken an ihren Verrat beiseite zu schieben, selbst wenn er ihm wie ein Stachel im Fleisch saß. Er versuchte ein Bein zu bewegen, spürte aber sogleich die Seile um seine Fußgelenke, die die Regung eindämmte. Manchmal hat man keine Wahl. Er stöhnte leise.
All das, was ihn seit ihrem Kennenlernen vor mehr als einem Jahr befremdet hatte, fügte sich nun. Er hatte es immer wieder beiseite geschoben, hatte sich von ihr leicht ablenken lassen. Selbst ihr Aufeinandertreffen, ihr Zögern, der dunkle Ausdruck in ihren Augen, ihr Schweigen. Er war blind gewesen in seiner Arroganz. Es hatte so viele Hinweise gegeben, sie stürzten nun über seine Gedanken herein wie eine Horde ausgehungerter Wölfe. Er hatte sich täuschen lassen, bereitwillig in die Irre geführt von einem schönen Mädchen. Sie werden dich umbringen... Zweifelsohne würde er nun den Preis dafür zahlen.
Und dennoch... fühlte er nur den Verlust.
Die Zeit verstrich langsam. Es war kalt und still, abgesehen von dem leisen und entfernt klingenden Rauschen und Gurgeln des Regens. Nika konnte nicht einschätzen, wieviel Zeit vergangen war, als schließlich Schritte erklangen. Sie kamen vor ihm zum Stehen. Für einige Momente breitete sich erneut Stille aus, dann erhob sich eine weibliche Stimme, angenehm volltönend und mit ruhiger Intonation: "Nika Cytian, Sohn von Seoha Cytian, hier besser bekannt als der Kranich. Ich bedaure deine Verwicklung, doch musste dir klar sein, dass wir dich nicht einfach so weitermachen lassen konnten." Ihm wurde die Augenbinde vom Gesicht gezogen. Es war dämmrig, sodass Nikas Augen sich nicht an das Licht gewöhnen mussten und er die Gestalt vor sich sogleich erfassen konnte.
Eine Frau mittleren Alters, vielleicht Mitte Vierzig, hochgewachsen und schlank mit langen Armen und Beinen und ohne ausgeprägte Rundungen erinnerte ihre Statur an ein biegbares Schilfrohr. Jener Eindruck wurde von einem schmal geschnittenen Kleid zusätzlich noch unterstrichen. Ihr Gesichtszüge wirkten jung geblieben, doch klar geschnitten mit einer langen, schmalen Nase und ausgeprägten Wangenknochen. Gerahmt wurde ihr Gesicht von ebenholzfarbenen, weichen Locken, die offen über ihre Schultern flossen. Am eindrucksvollsten waren ohne jeden Zweifel ihre dunklen, fast schwarzen Augen mit jenem stechenden, kompromisslos bestimmenden Ausdruck darin. Es waren die Augen einer Person, die gewohnt war zu herrschen und die jeden Widerspruch ihrer Überlegenheit ausmerzen würde, auf die eine oder andere Weise. Jene aristokratische Präsenz wurde durch ihre aufrechte, unaufdringlich straffe Haltung verstärkt und umgab ihre Gestalt wie ein undurchdringlicher Schutzschild.
"Ebenso muss dir bewusst sein, dass du durch deine Entscheidung nicht aufzuhören dein Schicksal selbst gewählt hast. Solche Dinge, vielmehr alle Dinge haben Konsequenzen", erklärte sie in einem sachlichen, doch zugleich einfühlsamen Ton als rezitiere sie eine unumstößliche Tatsache, die bedauerlicherweise gerade auf den Gefesselten vor ihr zutraf. Ein feines Lächeln trat auf ihre Lippen, als sie Nika mit geneigtem Kopf betrachtete. "Du, zum Beispiel. Vor langer Zeit hat jemand eine kleine Entscheidung getroffen, dann noch eine, dann eine wichtige, dann eine völlig unwichtige und dann irgendwann wurdest du geboren. An diesem Tag warst du die Folge einer harmlosen Entscheidung, die jemand in einem Moment traf, in dem du noch gar nicht existiert hast. Und diese eine Entscheidung hat dein ganzes Leben bestimmt. Du bist eine Konsequenz, Nika Cytian."
Die Magistratin war zweifelsohne eine eindrucksvolle Erscheinung wie Nika ungeachtet seiner misslichen Lage anerkennen musste. Er bemerkte, dass er ihr für einen flüchtigen Augenblick bereitwillig zustimmen und damit jener sie so natürlich umgebenden Autorität folgen wollte. Dann erblickte er sie. Schräg hinter der Magistratin im Schatten stand Cia. Er hatte sie nicht mit dieser kommen hören, sie musste dort schon die ganze Zeit gestanden und ihn beobachtet haben, noch bevor er erwacht war. Ihre Mimik wirkte still, der Blick zu Boden gesenkt. Er fühlte den Stich. Was unfähig ist sich zu beugen, bricht... früher oder später. Aber eigentlich, erinnerte er sich in jenem Augenblick, hatte er es noch nie mit Autoritäten gehabt.
Er hob den Blick wieder zur Magistratin an, die ihn mit einem stillen, abschätzigen Ausdruck betrachtete. Leicht kräuselten sich ihre Lippen nach seinem Blick über ihre Schulter. "Mach dir keine Vorwürfe, dass Cia dich so spielend täuschen konnte. Sie ist schon seit ihrer Kindheit mein Werkzeug und hat einfach die Gelegenheit ergriffen sich über den Schlamm und Schmutz ihrer Herkunft...", setzte sie erneut zu sprechen an, doch war der Zauber ihrer Präsenz nun gebrochen.
"Leck mich!", fiel Nika ihr mit brüchiger Stimme ins Wort, "Und rede nicht über sie als wäre sie ein Ding, du aasige Schwätzerin." Er konnte sehen wie Cia hinter der Magistratin zusammenzuckte. Die Angesprochene spitzte die Lippen und für einen flüchtigen Moment flackerte Verärgerung in ihrem Blick auf, als ihre Maske bröckelte, dann wandte sie sich leicht beiseite und betrachtete den Gefesselten mit einem kühlen Ausdruck. "Gesprochen wie der dreckige Straßenköter, der du bist. Ich nehme an deine Mutter hat nicht lang genug gelebt..." Leere, graue Augen. "...dich Stil und Haltung zu lehren." Schwarze Haare auf dem Boden ausgebreitet. Ihre Gestalt verschwamm. Die Wände wankten und begannen zu schmelzen. "Vermutlich ist der Dreck ihrer Hurerei auf dich..." Die Laute wurden dumpfer, das Geräusch von knirschendem Glas bohrte sich in seinen Kopf. Feuer goss sich in seine Adern. Rot, dann Schwarz.
Nika kam wieder zu sich, als ihm alle Luft aus den Lungen gepresst wurde. Sogleich hätte ihm der Schmerz beinahe wieder das Bewusstsein geraubt. Durch einen undeutlichen Schleier erblickte er zwei hünenhafte Männer. Einer holte gerade mit einem Knüppel aus. Nika hörte das Knirschen in seinem Kopf, als ihm der Schlag die Rippen brach. Sein Körper schwang zurück und kurz blitzte die Erkenntnis durch seinen Geist, dass er an den Armen aufgehängt worden war. Unter dem nächsten Schlag platzte seine Haut auf, dann noch ein Schlag. Er konnte nicht schreien, er konnte nicht mehr atmen. Er spürte wie sich sein Körper unter der Tortur verkrampfte, alles war blendender Schmerz. Sie werden dich brechen und ausweiden. Noch ein Schlag. Er konnte nicht mehr bestimmen, was dies an ihm ausrichtete, seine ganze Welt war für diese kurz andauernde Ewigkeit beschränkt auf das alles bestimmende Lodern der Qual, das durch all seine Glieder, Muskeln, durch jede Sehne und Faser seines Körpers brandete. Mit einer entrückten Verwunderung stellt er fest, dass er immer wieder kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Ich sterbe.
Ein dumpfer Laut. Er schwang noch einige Male vor und zurück, als die Schläge aufhörten. Er konnte noch immer nicht atmen, sein Brustkorb weigerte sich Luft in seine Lungen zu ziehen, als wäre er unter Wasser gefangen. Einem eigenen Willen folgend wand sich sein geschundener Körper in jenem Kampf. Ein undeutliches Geräusch. Etwas griff unsanft an seine Brust, dann spülte es die erlösende Luft in seinen Körper wie flüssiges Eis. Alles war dumpf und rauschend. Er hörte sein Herz schlagen, es brannte.
"Die bösen Jungs mochte ich schon immer. Ich habe wohl auch so meine Schwäche", klang es dann geraunt, doch unerwartet klar, an sein Ohr. Nika schaffte es ein Auge zu öffnen. Die Magistratin stand schräg vor ihm, unter ihrer Augenbinde rann noch immer Blut hervor, ihre Lippe blutete. Aus jener einen Iris starrte sie ihn an, als sie sehr leise und bedrohlich flüsterte: "Du bist ein hübsches, hübsches, kleines Ding." Nika fühlte wie das Grauen nach seinem Inneren griff. Es war noch nicht vorbei.
Ihr kalter Blick verweilte noch kurz auf ihm, dann wandte sie sich ab. Ihre Kontur verschwamm vor seinen Augen. "Wenn du deinen Platz willst, Cia, töte ihn!" |
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Nika Cytian
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Verfasst am: 27 Mai 2024 23:41 Titel: |
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Zu nichts zerfallende Dunkelheit
Manche Geschichten sollten nie erzählt werden. Und manche Geschichten sollten es, doch sinken sie in den Nebel der Zeit, werden vom Wind verweht wie gefallene Blätter im Herbst, weil die Protagonisten und ihre Taten von keiner Bedeutung für die Welt sind. Doch schmälert dies ihr Handeln, da die Bühne, auf der es spielt, eine belanglose ist? Weil ihr Werk kein Trommeln war, kein Sturm und Lärmen, kein dröhnendes Echo hervorrief, das Wände zum Beben brachte und Gebäude einstürzen ließ.
Es war nur ein verblassendes Flüstern, gehaucht im Zwielicht der weltlichen Gleichgültigkeit, eine Ahnung von Etwas, nicht mehr als ein schwindender Schatten von dem, was hätte sein können. Und dennoch tragen diese Geschichten eine bittersüße, dunkle Schönheit in sich, die nur jene graue Vergänglichkeit, jene zarte Bedeutungslosigkeit bieten, die das größte aller Opfer beinhalten: Vergessen werden. Nur Geflüster und Staub in der zerfallenden Dunkelheit der Zeit, für die Welt nichts.
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Nur für wenige alles.
Das Prasseln von Regen drang an Nikas Ohr, lindernd und sanft. Es war warm, weich gebettet fühlte sich alles wattig und dumpf an. Er konnte die Struktur des Leinens unter seinen Fingerspitzen spüren, als er die Hand bewegte. Ein warmes, dämmriges Licht glomm durch seine geschlossenen Lider. "Es tut mir leid, Nika", erklang Cias Stimme. Sie hörte sich an wie ein Echo, sonderbar weit entfernt, undeutlich durch das Gluckern von Wasser. Er öffnete seine Augen, das Bild verschwamm flüchtig. Er lag in einem Himmelbett, er konnte ein Fenster am Fußende sehen. Samtene Dunkelheit griff durch das Glas in den Raum, auf ihrem Mantel der glimmende, prächtigste Sternenhimmel. Am Rande seines Blickfeldes, zunächst vage und undeutlich, gewann Cias Silhouette an Gestalt. Sie saß in einer lockeren Haltung auf der Bettkante, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, wie zumeist mit jenem spöttelnden Ausdruck im Blick.
Warum... Wollte er sagen, doch kam nur ein brüchiges Keuchen über seine Lippen. "Willkommen zurück, mein Hübscher! Ich dachte schon ich muss aufbrechen, bevor ich das Eisen wiedersehe", erhob sie dann die Stimme, doch schwang ein sonderbares Trübsal in jedem einzelnen Wort. "Was ist... was ist passiert?", hörte Nika sich selbst fragen, es schmerzte mit jeder Silbe. "Daran musst du dich selbst erinnern."
Es war dunkel in der Kammer. Das gleißende Feuer des Schmerzes verglomm und wurde ersetzt durch die matte Glut des Leids. Er spürte, sein Körper war beinahe gebrochen, sein Inneres eine offene Wunde. Von Cia konnte er nur den vagen hellen Fleck ihrer Haare sehen, doch rührte sie sich nicht. "Wenn ich dich töte, habe ich mir meinen Platz bei den Grauen Schwingen verdient." Ihre Stimme klang fahl. Zunächst ging nur ein kraftloses Krächzen über Nikas Lippen, bevor er es schaffte Worte zu formen: "Dann hör auf rumzulabern, Cia. Ich hab' mir heute wirklich genug Scheiße anhören müssen." Ihr Gesicht schälte sich aus dem wabernden, roten Nebel, als sie nähertrat. "Unbeugsam und dumm."
Allein bei der Erinnerung brandete der Schmerz durch seine Adern und bohrte ihm brennende Haken ins Fleisch, sein Bein pochte. Nur stückweise ließ jene Qual nach, als sich sein Blick auf sie richtete. Cia neigte sich etwas mehr über ihn und stützte sich mit einer Hand neben seinem Kopf in den Laken ab. Sie wirkte ernst, doch ruhig, nahezu gelassen.
"Du weißt wie die Welt ist, Nika", erhob sie gedämpft die Stimme, "Die Mächtigen denken sie bekommen immer, was sie wollen. Und meistens tun sie das auch, auf die eine oder andere Weise. Menschen wie wir... haben wenig Wahl und wir sollten jene ergreifen, die zumindest die Möglichkeit auf mehr Entscheidungsfreiheit bietet. Es ist keine Schwäche in stiller, vermeintlicher Gefügigkeit verborgen zu bleiben bis man mit geschonter Kraft an die Oberfläche bricht und all dem mit einem Schlag ein Ende setzt."
Unverwandt ruhte ihr Blick auf ihm, als sie ihm nun einmal sanft über die Wange strich. Ihre Hand fühlte sich kalt an, doch sonderbar lindernd. "Du hast viele schmerzhafte Entscheidungen getroffen, vieles von dir selbst geopfert, verborgen, weggesperrt, getötet, um zu überleben. Das alles tut mir so leid." Ihre Stimmen schienen sich in seinem Kopf zu überlagern. Hatte sie das schon einmal gesagt?
"Ich habe meine Wahl vor sehr langer Zeit getroffen. Nicht zu sterben, nein... nicht in der Scheiße dahinzusiechen, nicht meiner Schwester beim Verrecken zuzusehen. Als sich mir die Möglichkeit bot, habe ich sie ergriffen. Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum bist du...?" Ihre Gestalt verwischte vor seinen Augen, alles wurde dumpfer, dann ein helles, metallisches Klimpern.
"Du weißt doch, ich bin ein Idiot", brachte er mühsam hervor. "Das bist du", flüsterte sie leise, beinahe tonlos. Deutlich konnte er nun ihr Gesicht sehen mit den nur leicht zusammengezogenen Augenbrauen. Es war Schmerz. Nika erkannte es in jenem Moment. Der dunkle Schatten in ihren Augen, der sich immer so rasch dem Blick entzogen hatte. Keine laute, schrille Marter, sondern eine stille, stetig erfüllende Qual. "Und ich wohl auch."
Nika knallte auf den Boden, es presste ihm alle Luft aus den Lungen. "Aber ich bin kein Schlächter, der sich seine Sporen damit verdient einen Wehrlosen aufzuschneiden", hörte er ihre Stimme mit einem Mal wieder hinter sich, ehe sie sich neben ihn kniete und seine Fesseln löste. Sein Körper schrie unter der veränderten Position, seine Schultergelenke brannten. Nika konnte nun spüren, dass seine eine Schulter ausgekugelt war, seine Rippen an- oder gebrochen, irgendetwas stimmte mit seiner Hand nicht, sein Körper fühlte sich unendlich schwer an.
Schwer drückte die Decke auf ihn, die Matratze fühlte sich hart an. Reglos verblieb Cia über ihn geneigt. Trotz des schwachen, fahlen Lichts konnte er ihre Gestalt zureichend erfassen. Ihre dunklen Augen, das spitze Kinn, die weißblonden Haare, als leicht abgedunkelter Schatten die Narbe, die sich von ihrer Augenbraue auf die Wange herabzog. Wie oft hatten sie zusammen getrunken? Die Menschen beobachtet? Wie oft hatte er den feinsinnigen Spott in ihrer Stimme gehört? Wie oft hatte er sie geküsst? Die Leere des Verlusts all dessen, was für ihn in seinem, wie er nun erkannte, hoffenden Verlangen nach ihrer Nähe eine Bedeutung gehabt hatte, drückte auf seinen Brustkorb. Es war etwas, was für alle Zeit verloren war. Und da war noch etwas, noch mehr. Eine Wahrheit verborgen in seinem Augenwinkel, entzog sie sich seinem Blick. Schwerer, immer schwerer wurde das Gewicht, das ihn herabpresste in die verschlingenden Laken. Nika konnte nicht verhindern, dass brennende Tränen in seinen Augen aufstiegen.
"Du erinnerst dich, nicht?", fragte sie mit einem empfindsamen Lächeln auf den Lippen.
Die Wände wogten und bebten, schienen die beiden eilenden Schemen zu umfangen. Aneinander gestützt, festhaltend, jeder Schritt mit reinem Willen erkämpft und doch zur Eile getrieben. Die Schatten folgten ihnen durch die Gänge wie Geister. Die Luft schmeckte nach Rost. Nika brannte. Jede Faser seines Körpers loderte noch von der erfahrenen Pein, flüssiges Feuer wurde durch seine Adern gepumpt, während ihm zugleich immer wieder die Sicht schwand und seine Knie drohten unter ihm wegzusacken. Sonderbarerweise erinnerte er sich an die Struktur des Mauerwerks, als es undeutlich wie eine verklingende Resonanz an seinem Blick vorbeizog. Ihnen folgte ein vages Echo von Schritten, Rascheln, Stimmen in der zu nichts zerfallenden Dunkelheit hinter ihnen. Dort war der Tod, dort war er immer gewesen. Es gab nichts mehr als ihren Weg, kein davor, kein danach. Und es gab keinen Ausweg.
Cia drückte ihn an die Mauer. Er konnte die kalten Steine in seinem Rücken spüren. Nichts hatte mehr Farbe, alles war Schwarz und Weiß und Grau, nichts außer das Gold in ihren Augen. Es existierte keinerlei Kontur, nur der Schwung ihrer Lippen, als sie sprach. Es gab keinen Laut mehr, nur ihre Worte. Keine Bedeutung mehr als ihre Bitte. "Versprich es mir, Nika, bitte! Du musst es versprechen!"
Nika spürte noch das plötzliche Heben in der Brust, welches er gefühlt hatte, als er gefallen war. Er streckte die Hand aus und versuchte sie zu fassen. Sie wie sie dort an seinem Bett saß mit jenem mitfühlenden Ausdruck in den Augen, gerahmt von dem prächtigsten Sternenhimmel. Er streckte die Hand aus und versuchte sie zu fassen, als sie auf dem Boden zusammensackte. Er fiel. Nah und fern. Die Bilder überlagerten sich. Selbst in seinem geschundenen Körper schnitt Verlust am tiefsten.
"Du bist tot", flüsterte Nika tonlos.
Es gab kein Bett, keine Decke, kein Laken. Dort war kein Fenster, keine Sterne standen darin. Nur Cia saß noch immer neben ihm und sah ihn an. In ihren Augen stand Bedauern, kein Schatten mehr, doch Zuneigung. Regen rann in seine Augen und verwischte ihr Bild. Nein! Wollte er schreien. So vieles wollte er ihr sagen, wollte ankämpfen gegen ihr unwiderbringliches Verblassen. Geh nicht! Ich hasse dich nicht! So vieles war unausgesprochen und würde es nun auf immer bleiben. Wissend, dass es zu spät war, als er versuchte sich aufzurichten und sie zu fassen. Bitte nicht! Schwindel und Übelkeit überkamen ihn, als er ins Leere griff. Kraftlos sackte er auf die nassen Felsen zurück, ihre Silhouette verschwamm vor seinen Augen und wurde zu dem leblos aufragenden Gesteinsbrocken, der sie immer gewesen war. Er schrie.
Es tut mir leid, Nika.
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Die Sommernacht kleidete sich in jene samtene Dunkelheit, die in der sonst lärmenden und schmutzigen Stadt nur selten mit der milden Wärme und der dumpfen Stille zusammentraf. Über Siebenwacht wölbte sich der prächtigste Sternenhimmel, zu jener nachtschlafenden Zeit ungesehen von den meisten Bewohnern. Auf der Kaimauer saßen zwei junge Erwachsene, ein Mann und eine Frau, scheinbar versunken in der Betrachtung des teerschwarz schimmernden, nächtlichen Meeres. Sie verweilten dort bereits eine geraume Weile ohne zu sprechen in einer scheinbar stillschweigenden Übereinkunft.
"Aventia", flüsterte schließlich die Frau. "Warum?" – "Es ist der Ort, der am Weitesten von hier fort ist." |
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