Calan'hen ne i Duath

[Calan´hen ne i Duath]

Ein leises Sirren eines Pfeiles unterbrach die Stille in Ered Luin. Einige Finger neben dem Zentrum traf der Pfeil die aufgestellte Scheibe in knapp fünfzig Schritt Entfernung. "Der Schuss fängt nicht an. wenn du den Pfeil auf die Sehne legst Calan'hen, sondern schon beim Schnitzen deines Bogens und des Pfeiles. Dort entscheidet sich, wie treffsicher deine Pfeile werden. Sieh dir dieses schöne Stück hier an. Vor genau einhundertzweiunddreißig Jahren habe ich meinen Bogen geschnitzt und kaum ein Schuss von dieser Sehne hat je sein Ziel verfehlt. Das Handwerk der Pfeilsinger ist nicht leicht, aber in deinen Augen kann ich erkennen, das ich eines Tages stolz davon berichten kann, das ich dich einst als Schüler hatte." Unbemerkt hatte sich Calan'hens Lehrer genähert und die Übungen seines Schülers beobachtet. Trotz des Tadels huschte über das Gesicht des jungen Elfen ein Lächeln als er über die Schulter blickte. "Phanodain hat mir den besten Lehrer zur Seite gestellt, den ich mir wünschen kann. Aber vergiss nicht, das ich noch jung bin, auch wenn die Edain davon träumen mein Alter zu erreichen. Ich habe also noch viele Jahre vor mir um dein Geschick zu erreichen." Über das Gesicht seines Lehrers wanderte ein Lächeln. Dann gingen beide in Richtung des Meeres. "Sieh Dir den Adler an, der dort kreist. Seine Augen sehen noch weiter als ich es vermag. Er sollte Dein Vorbild sein. So scharf wie die Augen eines Adlers sollten auch die Augen eines Pfeilsingers sein. Auch wenn die Klingentänzer und Krieger ihre Schwester im Wind tanzen lassen und jeden Feind in die Schranken weisen können; ein guter Schuss vermag unsere Brüder und Schwestern vor Wunden schützen, noch bevor sie selber in den Kampf ziehen müssen." Calan'hen nickte und lies seinen Blick über durch Ered Liun schweifen.

Knapp hundert Schritt entfernt sass die Harfnerin des Volkes gerade unter einem Apfelbaum und schien tief in Gedanken über eine neue Melodie zu sinnieren. Mit einem schelmisch anmutenden Grinsen auf den Lippen drehte sich der junge Elf zu seinem Lehrer und deutete mit einem Pfeil in der Hand in Richtung jenes Baumes. "Was denkst du, treffe ich den Stiel des Apfels, der über Lamentinu schwebt? Und noch interessanter - wird sie den Pfeil hören können und den Apfel auffangen?" Der ältere Elf schüttelte nur den Kopf, wiedersprach seinem Schüler aber nicht. Dieser hatte inzwischen den Bogen gespannt und ein leises Knirschen ging von der einfachen Waffe aus, als der Bogen fast bis zum Brechen gespannt wurde. Calan'hen holte tief Luft und entlies der Sehne ihren Lauf. Der Pfeil schoss durch die Luft und traf über Lamentinus Kopf - den Apfel, der in dutzende Stücke brach und einen Regen von Äpfeln auf die Bardin niederrieseln lies. Lamentinu blinzelte und fischte sichtlich verwirrt ein Apfelstück aus ihrem Dekolté. Ihr blick wanderte erst hinauf zum ursprünglichen Platz des Apfels, dann bemerkte sie offenbar den Pfeil er etwas weiter entfernt davon im Gras steckte. Es dauerte nur einige Atemzüge da wand Lamentinu sich in die entgegengesetze Richtung der Pfeilspitze. Mit einem leichten Kopfschütteln wurden Calan'hen und sein Lehrer bedacht, bis der Wind die fast geflüsterten, aber deutlichen Worte der Bardin an ihr Ohr trugen. "Ich weiß Deine Treffsicherheit mit dem Pfeile durchaus zu schätzen, doch vermögen deine Hände nicht minder geschickt die Äpfelstücke aus meinem Kleid reinigen und als Entschädigung einen Obstsalat bereiten, wenn du die Früchte schon zerkleinerst?" Natürlich bekam die Bardin an diesem Abend einen Obstsalat, nicht nur aus Äpfeln sondern auch mit anderen Früchten gereicht.

Am nächsten Tag aber war Calan'hen nirgendwo zu finden. In Ered Luin war das aber nichts sonderbares. Inzwischen hatte man sich daran gewöhnt, das der junge Schütze manchmal tagelang durch die Wälder und Ebenen Gerimors streifte, ähnlich wie manche Wölfe ihr Rudel verliesen um allein durch die Wälder zu ziehen. In dieser Zeit genoss er es förmlich einmal weniger zu denken, sondern sich einfach der Natur hinzugeben, seinen Gefühlen zu folgen. An diesen Tagen lies er seine Schritte einfach die Richtung bestimmen und zog dorthin, wo er abends etwas zu Essen finden konnte und einen Schlafplatz fand. Am nächsten Morgen brach er dann einfach wieder auf, legte sich den Mantel um die Schulter und zog weiter in den Tag hinein. Als Kind, aufgewachsen in den geschützen Mauern Ered Luins, dauerten diese Ausflüge meist nur bis zum Abend und der Hunger trieb ihn meist ins elterliche Haus, aber je älter er wurde um so länger dauerten auch die Ausflüge durch Gerimor.

Als Kind war es sein Vater gewesen den er immer wieder versuchte nachzueifen. Immer wieder zog er mit seinem Vater, einem Jäger hinaus in die Wälder um nach Wild zu suchen, das ihr Volk als Nahrung brauchte oder um aus dem Leder Rüstungen zu schneidern. Von ihm konnte er auch den Umgang mit dem Bogen lernen, zumindest die Grundzüge, bis zu dem Tag als sein Vater ihn zu seinem späteren Lehrer schickte. Die Zerstreutheit, die Calan'hen von Kindsbeinen in sich hatte war offenbar das Erbe seiner Mutter - eine Dichterin, die manchmal tagelang scheinbar ziellos durch die Lande reiste, nur um dann mit einem neuen Gedicht wieder in ihre Heimat zurück zu kehren. Nun würde seine Mutter wohl ein Gedicht darüber schreiben, wie ihr Sohn ein eigenes Leben begann, geschützt wie in einen Wolfsrudel zu dem er immer wieder zurückkehren konnte, war ihr Sohn in Ered Luin und denoch wanderte er immer wieder in die Welt hinaus um frei zu sein ...