FAQ Login
Suchen Profil
Mitgliederliste Benutzergruppen
Einloggen, um private Nachrichten zu lesen
        Login
Glaubst du an ein Leben vor dem Tod?
Gehe zu Seite 1, 2  Weiter
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Alathair - Online Rollenspielshard Foren-Übersicht » Chargeschichten » Glaubst du an ein Leben vor dem Tod?
Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  
Autor Nachricht
Mairi Wolfseiche





 Beitrag Verfasst am: 19 März 2020 16:31    Titel: Glaubst du an ein Leben vor dem Tod?
Antworten mit Zitat

Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.
(Shakespeare)


Ich hasste es, wenn der Schnee schmolz. Ich liebte dieses glitzernde, blendende Weiß. Ich mochte die Abdrücke der festen Winterstiefel nicht, die die perfekte Decke durchbrachen und ihre Spuren hinterließen, doch ich nutzte sie, damit ich es nicht selbst sein musste, die sie setzte und das Bild somit zerstörte. Jetzt war er weg und mir wurde einmal mehr bewusst, dass schon wieder ein Jahr vergangen war. Ich richtete mich nicht nach den Daten, die den Jahreswechsel vorgaben. Ich richtete mich nach dem Schnee. Es war das dritte Jahr, das wir ohne ihn verbrachten. Es war das dritte Jahr, das ich ohne sie beide verbrachte. Und das sechste, in dem ich nicht wusste, wie es ihm ging. Das wurde mir erst jetzt wirklich bewusst. Wie viel Zeit schlichtweg vergehen konnte, dass man es überhaupt nicht merkte. Und wenn man sich bewusst daran erinnerte, wie viel länger es einem selbst vorkam.

Ich setzte mich ganz bewusst auf den kalten Steinboden inmitten des Raumes, ließ mich langsam nach hinten fallen und streckte dann Arme und Beine von mir. Die Kälte half ein wenig, den Winter noch etwas bei mir zu behalten, als ich ganz bewusst, die sorgsam verwahrten Stimmen in meine Erinnerung rief.
„Du siehst scheiße aus, Mairi.“
„Du musst da selber raus wollen, ich kann dich da nicht rauszerren.“

Ich atmete tief durch. Das war die eine Stimme, die ich vermutlich nie wieder hören würde. Es gab sicherlich Mittel und Wege. Aber wenn es doch ein Nileth’Azur gab, sollte er dort seine Frieden finden. Er war der Ritter. Der Freund. Er war der große Bruder. Ein Stück Familie.

Beinahe genauso lange wie Dazen, hatte ich die ganz ähnliche Stimme nicht gehört. Doch anders als sein großer Bruder, lebte er. Nicht mehr hier auf Gerimor, sondern zuhause auf dem Hof, den auch ich als ein Stück Heimat betrachtete. Vielleicht war Fann auch da und sie standen zusammen, eine Zigarette rauchend an eine Mauer gelehnt. Natürlich alles verborgen vor den Augen von Aalya und Iydia. Garvin. Den Namen zu denken, versetzte mir immer noch einen kleinen Stich. Doch so lange ich wusste, dass er in Sicherheit war und es ihm gut ging, war meine eigene Welt ein Stück weit in Ordnung. Die Briefe hatten nie aufgehört, auch wenn sie unregelmäßig kamen.
„Ich liebe dich, Mairi Wolfseiche.“
Der Klang seiner Stimme, auch wenn sie nur in meiner Erinnerung war, ließ mich unweigerlich schmunzeln. Das Versprechen, das wir uns vor einer gefühlten kleinen Ewigkeit gegeben hatten, war ungebrochen. Doch auch wenn ich ihn vermisste, war mein Platz hier. Für jetzt.

Hier warteten genug Aufgaben auf mich. Ich fühlte, dass die beiden, die meinen Geschwistern und mir am letzten Abend in Nimmerruh Gesellschaft geleistet hatten, nicht die einzigen waren, die sein Mal trugen. Es war schon eine Weile her, seit so etwas das letzte Mal passiert war, aber es war ähnlich und es war kein Einzel- oder in dem Falle Zweierfall. Ich wusste nicht, wie viele noch genau kamen. Allerdings bereitete es mir auch ein wenig Kopfzerbrechen. Die älteren Brüder waren alle weg. Den Wanderer hatte ich schon ewig nicht mehr gesehen. Drakhon, wie vom Erdboden verschluckt und auch die letzte Begegnung mit Fames lag nun schon wieder ein paar Wochen zurück. Es blieben am Ende nur ich und die jüngeren Geschwister, die ihren Teil dazu zu tragen hatten. Auf die eine oder auf die andere Art und Weise.
„Finde deinen Weg, Mairi.“
Es war die dritte Stimme und jene, die am meisten verblasst war im Laufe der Zeit. Das sechste Jahr. Ob er noch immer auf der Flucht war? Ob er eine Möglichkeit gefunden hatte, sie los zu werden? Ich ging davon aus, dass er noch existierte. Seit damals schon hatte ich mir eingeredet, dass ich merken würde, wenn dem nicht mehr so war. Die Kälte kroch mir langsam in die Knochen, doch noch einen Moment wollte ich ausharren und meine Erinnerungen schweifen lassen.
Der Wanderer. Der Soldat. Der Leidende. Das fühlende Herz. So hatte er uns genannt. Passende Namen und keiner von ihnen war mehr hier. Bis auf mich. Sollte er am Ende doch recht behalten?
„Deine Stärke erwächst daraus es zu fühlen und es trotzdem zu tun.“
Ich hatte die Gezeichneten am gestrigen Abend beobachtet. Hatte ihren Worten gelauscht. Rache war etwas Giftiges.
„Jeder Tote viele Bücher voller Geschichten, jeder ruhelose Geist eine tiefe Tragik. Es ist nichts, woran wir etwas ändern können, doch wir können den Hauch von Achtung bewahren.“
Ich hatte meine Abscheu gegenüber der Kälte und vermeintlichen Emotionslosigkeit nicht gezeigt.
„Du musst mit dir und deinen Taten leben können.“
Ob sie es auch konnten, wenn sie in vielen Jahren noch hier waren? Ich machte ihnen keinen Vorwurf. Sie wussten es schlichtweg nicht besser. Hatten es nie erlebt. Niemand von denjenigen, die am Tisch gesessen hatten, verstanden, was wirkliche Emotionslosigkeit bedeutete. Niemand hatte es gefühlt. Und ich wünschte es niemanden von ihnen. Doch ich erinnerte mich. An die Stille. An die allumfassende Leere, die mir auch nach so langer Zeit noch immer die Kehle zuschnürte
„Du weißt nicht, wie schön es ist etwas zu spüren.“
„Doch.“ antwortete ich laut, ohne dass mich jemand hören konnte „Doch, ich weiß es.“
 Nach oben »
Mairi Wolfseiche





 Beitrag Verfasst am: 11 Apr 2020 18:24    Titel:
Antworten mit Zitat

Die Menschen glauben fest an das, was sie wünschen.
(Gaius Julius Cäsar)


Sechs. Ich musste schmunzeln, weil ich dachte, dass eigentlich die Sieben die verfluchte Zahl war. Oder die Dreizehn. Da verging mir das Schmunzeln wieder. Dreizehn Gezeichnete hätte ich im Leben nicht ausgehalten. Die Kopfschmerzen gingen halbwegs vorbei, als wir alle gefunden hatten. Vorher plagte mich das stete Pochen und der Druck und ließ mich wenig schlafen. Vielleicht auch, weil ich wusste, dass sie nicht schliefen. Oder zumindest nicht gut. Wir hatten sie gemeinsam gesucht, gemeinsam gefunden und sie gemeinsam eingewiesen in ihr neues Leben. Vielleicht konnte man tatsächlich von einer Gemeinschaft reden in den letzten Wochen. Es waren nur zwei Frauen dabei. Eigenartig, wie seine Wahl manches Mal ausfiel, aber darauf würde ich vermutlich nie eine vernünftige Antwort bekommen. Selbst die Mohnblume mit ihrem güldenen Haar war aufgekreuzt, um uns mitzuteilen, wie viele es waren. Und um uns ein Geheimnis zu verraten. Eines, das bei uns bleiben musste, bei denen, die schon länger diesen Weg beschritten. Wie viele von den Sechs am Ende übrig blieben, wir wussten es nicht. Ich wusste es nicht. Und doch war es wichtiger als sonst. Und es war anstrengender als sonst. Sonst war jemand neben mir. In den meisten Fällen Brüder oder ganz früher noch eine Schwester, zwei. Jetzt stand ich alleine an dieser Klippe und blickte alleine darauf herab, was kommen würde.
„Leg dir eine harte Schale zu, um das zu bewahren, was in dir ist.“
„Und wie?“ hallte die leise Frage durch das vom Mondlicht beschienene Schlafzimmer. Vielleicht wusste ich die Antwort aber selbst. Die letzten Abende, die letzten Aufeinandertreffen hatten es doch gezeigt, oder nicht? Ich hatte mein Mitgefühl in den Hintergrund gestellt. Es war jetzt kein Platz dafür. Ich konnte es beiseite schieben, wenn ich es musste. Wenn sie um mich herum waren. Gerade, wenn die eine um mich herum war. Und auch wenn es mich mit seiner Last fast erdrückte, sobald ich wieder alleine war, musste es sein. Die Gefahr war schlichtweg zu groß. Wir brauchten keine Irren. Wir brauchten keine Gebrochenen. Wir hatten genug, die glaubten, Emotionslosigkeit wäre eine Gabe oder die jenen Mangel an Gefühlen vorspielten. Wie es ihnen wohl ging, wenn sie alleine waren? Wir hatten genug Verrücktheit unter uns, die für viele Leben reichte. Deshalb konnten wir keinen Wahnsinn brauchen. Mir war bewusst, dass ich ihr weh getan hatte, nicht körperlich, nein. Nur ihrem verwirrtem Geist. Mir war vollkommen bewusst, was ich tat, als ich diese feinen Fäden meines Bewusstseins ausstreckte, um in ihren Geist einzudringen. Und auch wenn alles in mir bei ihrer Reaktion aufschrie, wusste ich, dass ich nicht aufhören konnte oder durfte. Es sträubte sich in mir, laut zu werden oder sie wegzuschicken. Aber sie musste es lernen. Und zwar schnell.
„Trage meinetwegen zwei Masken übereinander, eine für die Welt und eine für deine Geschwister.“
Seine Stimme hallte wie so oft durch meine Gedanken. Manche Erinnerungen verschwanden so schnell und manche waren schlichtweg der Zwischenwelt zum Opfer gefallen. Nur jene an ihn wollten nicht weichen. Immerhin das konnte ich mir merken. Und ich war froh darum.
„Aber werde zu keiner.“
„Und was ist, wenn ich werde, wie der Rest?“ fragte ich wieder in die Stille meiner eigenen vier Wände und schlang die Arme um meine angewinkelten Beine. Ich hatte den Vorhang etwas zur Seite geschoben, um die sternenklare Nacht und den vollen Mond sehen zu können, die die Gassen Rahals in fahlem Licht erstrahlen ließen. „Der Rest von denen hier. Nicht der ganze Rest.“ Müde hoben sich meine Mundwinkel. Es waren nicht alle nur Masken. Es waren nicht alle gefühllos. Manchen merkte man es mehr an, manchen weniger, doch glaubte ich, die kleinen Feuerchen von Menschlichkeit, die in dem ein oder anderen loderte, noch zu erkennen. Manchmal.
„Kann die Jagd nicht endlich beendet sein? Können sie nicht einfach davon ablassen?“ Ich rieb mit meinen kalten Fingern über mein Gesicht. Es trieb mich nun seit Jahren um. Und doch fand ich schlichtweg keinen Weg. Alle Gedankenspiele, die ich gespielt hatte, endeten in einer Sackgasse. Alle scheinbaren Lösungen, entpuppten sich als noch mehr Probleme. „Ich würde dir so gerne helfen.“ In der Zwischenzeit hatte ich aufgegeben, war resigniert, weil ich nicht voran kam. Doch es musste eine Lösung geben. Es gab immer eine. Nur sah ich sie noch nicht. Zumindest sah ich noch keine, die ich mich getraut hätte, anzugehen. Ich hatte mir die Frage, ob ich damals etwas hätte anders machen können, schon tausende Male gestellt. Die Antwort blieb immer die gleiche: Ja. Hätte es etwas am Ausgang der Geschichte geändert: vermutlich nicht. Ich nahm das abgegriffene Lederbüchlein vom meinem Nachtschrank und kritzelte noch zwei Sachen hinein. Morra. Und ein schlichtes C. Weiter würde ich diesen Namen nicht schreiben. Nicht heute. Nicht allzu bald.
„Es ist die Unendlichkeit dessen, was niemals war und doch hätte sein können.“
„Wenn du nicht ständig in Rätseln gesprochen hättest, hätte ich dir vielleicht mehr helfen können.“ brummte ich dann, als ich das Notizbuch wieder beiseite legte und mir die Decke bis zur Nase hoch zog. Es wurde eine unruhige Nacht. Geplagt von Träumen, die ich schon lange verdrängt hatte. Ein Traum im Traum. Oder schlicht eine Erinnerung.
Anstelle des ruhigen Atems neben mir, dröhnte mir der sanfte Flügelschlag der Raben in den Ohren. Es war das Geräusch, das mich geweckt hatte und letztendlich aufstehen ließ. Ich spürte das Holz der Dielen unter meinen nackten Füßen, selbst die nächtliche Kühle nahm ich auf meiner Haut wahr. Ich wusste, dass dort die Kommode und nicht weit daneben das Bett stand.
Doch gleichzeitig sah ich etwas ganz anderes. Die verschwommenen Schemen der Raben, die den wolkenverhangenen, grauen Himmel verdunkelten, dort, wo unser Dach schützend über dem Haus lag. Das Dröhnen der Flügelschläge überlagerte alle anderen Geräusche.
Ich selbst zwang mich zur Ruhe, auch wenn mein Verstand ausweichen, fortlaufen wollte, wie ich es unzählige Male in meinen Träumen getan hatte. Ich wich nicht aus, blieb standhaft, obwohl mein Herz nach wie vor sein stetiges Pochen beschleunigte.
Ich glaube in dieser Nacht sogar zu spüren, wie die Flügel mich streiften, die Krallen über meine Haut ritzten, die Schwingen mich umfingen.
Und dann war es vorbei. Und doch erwachte ich erst am nächsten Morgen, gerädert, als hätte sich in dieser Nacht keine Erholung eingestellt. Mein Kopf tat wieder weh. Ich musste raus, raus in die kühle Morgenluft, noch bevor die Sonne aufging. Im Rucksack lagen die Steine schwer, die das nötige Gewicht mitbrachten. Ich kontrollierte noch einmal die Schnallen der Stiefel und dann rannte ich los. Richtung Düstersee, durch den Wald und wieder zurück. Es lief niemand mehr mit mir. Es schrie mich niemand an, dass aufgeben keine Option war. Es war niemand mehr da von der alten Truppe, die unter dem Kommando des Ritters losgestürmt waren. Jeden Morgen, noch vor Sonnenaufgang, bis zur Erschöpfung, die zumindest die Kopfschmerzen und die Gedanken an die Dunkelheit vertrieb.
 Nach oben »
Mairi Wolfseiche





 Beitrag Verfasst am: 18 Mai 2020 16:24    Titel:
Antworten mit Zitat

Wer am Tag träumt, wird sich vieler Dinge bewußt, die dem entgehen, der nur nachts träumt.
(Edgar Allan Poe)


Die Sonne ging gerade auf und ich sank in das viel zu heiße Wasser des Zubers. Meine Muskeln entspannten sich fast augenblicklich und ich schloss die Augen. Das Laufen am frühen Morgen, noch vor dem ersten Hahnenkrähen, lenkte mich ab. Es beförderte meine Gedanken in eine Zeit, in der vieles noch in Ordnung war. Eine Zeit, in der ich noch halbwegs in Ordnung war. Sein Besuch war gerade zwei Wochen her. Der Nachhall der vertrauten Stimme klang noch in meinen Ohren. Die Wege, die seine Finger auf meiner Haut hinter sich gelegt hatten, brannten immer noch nach. Kein unangenehmes Brennen, wie wenn man einer Flamme zu nahe kam und die Haut sich drohte in der Hitze aufzulösen zu schwarzem, verbranntem Fleisch. Das seichte, vertraute Brennen der Erinnerung und Sehnsucht ließ mich, mich selbst viel zu sehr spüren. Das war immer so, wenn wir uns sahen. Und jedes Mal wurde mir bewusst, warum ich ihn nicht verlassen würde. Nicht nur die Versprechen hielten mich davon ab. Oder die Tatsache, dass er mein Anker in dieser Welt war, meine Familie. Es waren tausend andere Kleinigkeiten. Die Unaufgeregtheit unserer Bindung. Andere fielen sich schluchzend in die Arme, wenn sie sich nach Monden wieder sahen. Wir taten das nicht. Es war die schlichte Berührung seiner Lippen an meiner Schläfe, die die Welt wieder zurecht rückte. Es war die Tatsache, wie er mich mit seiner ernsten Miene betrachtete, wenn er glaubte, ich kriegte es nicht mit. Wie seine Arme mich nachts immer wieder fanden und zu sich zogen. Es war nur eine Woche, aber wir nutzten unsere kleine Ewigkeit, so gut es eben ging.
Und nun saß ich hier wieder, angekommen in der kalten Realität, versuchte die Erinnerungen festzuhalten und die Kopfschmerzen loszuwerden. Immerhin gab es niemanden mehr zu finden. Immerhin waren sie alle dort, wo sie sein sollten, weil Er es so wollte.
War es ein eigenartiges Zeichen, dass gerade jetzt der Wanderer wieder durch die Straßen schlenderte? War es ein Zeichen, dass die kleine Schwester nach einer halben Ewigkeit zurück gekehrt war? Oder dass andere, die man Jahre nicht gesehen hatte, plötzlich wieder vor mir standen? Wenn ich das schimmernde Haar der Mohnblume betrachtete, war ich mir sicher, dass es eines war. Wir würden auf die Probe gestellt. Wir standen wieder vor einer rätselhaften und vermutlich schwer lösbaren Aufgabe. Sie würde vermutlich in Schmerz und Leid enden. Mein Gefühl ließ einfach keinen anderen Schluss zu. Zumindest würde uns niemand stören. Äußere Einflüsse wusste ich abzuhalten. Das war mein Steckenpferd, bei dem ich schlichtweg wusste, was ich tat. Ohne Zweifel. Ohne Zögern. Ohne Angst. Was allerdings innerhalb des Schutzes passieren würde, war so klar wie getrübtes, beschlagenes, angelaufenes Glas. Nämlich gar nicht. Wie man den Anker legte, auch ohne Gegenstand, konnte ich mir vorstellen. Es musste nur alle so viel Kraft und Fokus an den Tag legen können, damit er hielt. Das war meine größere Sorge. Und was
Ich hoffte nur, dass am Ende wieder jemand wie Batair da wäre, der einem den Strohhalm reichte, bevor es zu spät war. Meinetwegen auch, um sich selbst den Arsch zu retten. Das war mir gleich. Dass er das damals mit eben meinem tat und das kein Akt der Freundlichkeit war, war mir schon klar. Er hatte ebenso seinen Profit daraus geschlagen – und seinen Dämonenarsch in Sicherheit gebracht. Diesem Gesellen noch einmal zu begegnen, wäre mir zumindest eine Freude. Aber wer weiß, jetzt, wo so viele zurück kehrten, vielleicht würde auch der vorlaute Freund mal wieder durch die Grabkammer schlendern und große Sprüche klopfen.
Ich musste zugeben, dass die Rückkehr des Wanderers mich am meisten überrascht hatte und ich irgendwo zwischen Freude und Verwunderung umher trieb. Freude, oder vielleicht auch Genugtuung, dass ein Stück der alten Zeiten heim gekehrt war. Diese alten Zeiten, in denen noch Ordnung herrschte. Verwunderung, wie alt man eigentlich werden konnte, ohne tot um – oder in seinem Falle – auseinander zu fallen und einfach zu Kra’thor heim zu kehren.

Meine Haut brannte mittlerweile nicht mehr ganz so sehr und hatte beinahe wieder ihre normale, helle Farbe angenommen. Seufzend erhob ich mich aus dem Zuber, wickelte mich in ein dickes Tuch und setzte mich mit einem der unzähligen Bücher vor den Kamin. Trotzdem wanderten meine Gedanken wieder woanders hin, zu ihm. Es gab nur einen anderen Mann, abgesehen von meinem, an den ich immer mal wieder dachte. Mit dem ich mich unterhielt, ohne Antworten zu bekommen. Es war keine tiefe Liebe, ganz sicher nicht. Es war schlichtweg ein Gefühl der Verbundenheit, das sich eingenistet hatte wie ein kleiner Parasit und nicht mehr schwinden wollte, seitdem meine Hand durch die Schlieren des Schemen gewandert war. Es war nicht das Gefühl an meiner Hand, wie wenn man durch dichten Nebel fasst, was die Verbundenheit zurück gelassen hatte, oder die erschrockenen Gesichter oder Stimmen meiner Brüder, die mich warnen wollten und doch zu spät waren. Es war das, was danach kam. Das, was er mit mir teilte, vermutlich ganz bewusst. Leere. Die Abwesenheit jeglicher Gefühle. Es war nur ein kurzer Moment und doch fühlte ich ihn bis heute in aller Deutlichkeit. Kein schwacher Abdruck, wie wenn man sich die Hand verbrannte und Jahre später nur noch wusste, dass es weh tat. Nein, ich fühlte es, wie heute. Mit dem Handrücken wischte ich die Tränen weg.
„Irgendwann finde ich dich.“
„Irgendwann nehme ich dir diese Bürde ab. Irgendwie.“
 Nach oben »
Mairi Wolfseiche





 Beitrag Verfasst am: 12 Jun 2020 21:30    Titel:
Antworten mit Zitat

Zwei Münzen für den Fährmann in der Hand, die Erde hinter dir ist längst verbrannt.

Ich stand an der Reling am Heck des großen Schiffes und sah zu, wie der Hafen Rahals immer kleiner wurde. Dieser Anblick war nichts neues für mich und doch war er dieses Mal ein anderer. Ich blickte bewusst mit Erinnerungen dem hölzernen, schwindenden Steg entgegen und wie die Wellen sich am Gemäuer des Hafens brachen. Es waren Jahre, die ich hier verbracht hatte. Jahre, in denen ich Unzählige kommen und wieder gehen sah. Es waren Jahre, in denen ich eine Familie und mich selbst gefunden hatte.

Ich betrachtete die anderen Schiffe und fragte mich, ob sie ihre Passagiere auch nach Hause brachten. Nach Hause zu meinem Mann und meiner Nichte, zu meinen Schwiegereltern und dem Hof, der zu einer Heimat geworden ist, würde mich ein anderes Schiff bringen. Erst in ein oder zwei Monaten. Dieses Schiff hier setzte Segel in Richtung Festland. Den übrigen Weg würde ich mit der Kutsche oder zu Pferd zurücklegen. Nach Aschenfeld und dann zu meinem Geburtsort. Den Schandfleck, in dem ich aufgewachsen war, gab es nicht mehr. Dennoch wollte ich noch einmal die Gassen meiner Kindheit betreten. Ohne Angst. Und dann würde ich die restlichen Monate auf dem Hof bleiben. Bei meiner Familie. Bis ich bereit war, mein Versprechen einzulösen.
„Ich werde dich finden und dir helfen.“

Meine linke Hand lag auf dem hölzernen Geländer des Schiffes, meine rechte auf meinem Bauch. Die leichte Übelkeit schwang schon eine Weile mit und mir war nur allzu bewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich das, was ich zu mir genommen hatte, nicht mehr bei mir haben würde. Trotzdem riss ich mich zusammen, bis die Küste Gerimors mit dem Wasser am Horizont verschwamm.
 Nach oben »
Mairi Wolfseiche





 Beitrag Verfasst am: 17 Jun 2020 17:50    Titel:
Antworten mit Zitat

Wozu zwei Münzen? – Wie willst du sonst zurück kommen?

Tiefe Atemzüge halfen gegen die Übelkeit und die Konzentration auf irgendetwas anderes, als das Schaukeln des Schiffes. Als es zu dämmern begann, hatte ich mich in meine Kajüte zurückgezogen, mich in die Koje gelegt und versuchte, einen Punkt an der hölzernen Decke zu fixieren, bis ich langsam wegdöste. Dass ich nicht den ruhigsten Schlaf finden würde, war mir von vornherein klar gewesen, aber es nützte ja nichts. Ich fiel aber dennoch in den Schlaf, wie immer, langsam und dann mit einem Male. Es war nicht das erste Mal, dass die verschwommenen Schemen der Raben mich im Traum begleiteten, das Dröhnen ihrer Flügelschläge alle anderen Geräusche überlagerte. Mittlerweile war es kein Albtraum mehr, ich lief nicht mehr weg und mein Herz setzte keinen Schlag mehr aus, als die Krallen meine Haut streiften oder die dunklen Schwingen mich umfingen. Das stete Dröhnen blieb, verschwamm aber zum Hintergrundgeräusch, als die Stimmen wieder in meinen Traum oder vielleicht auch meine Erinnerung drangen.
„Ich habe meine Emotionen nicht geopfert für meine Unsterblichkeit, sondern für die, die ich geliebt habe. Um ihr Leben zu schützen...“
Ich merkte, dass mir mein Traum zu entgleiten drohte, gestört durch etwas anderes. Andere Stimmen, andere Geräusche. Ich schlug die Augen auf, als ich den Schrei wahrnahm. Nicht nur einen. Viele. Ich war es leid, Schreie zu hören. Es waren schon viel zu viele und sie reichten für mehrere Leben. Also schob ich die kratzende Wolldecke zur Seite und setzt mich auf die Kante der Koje. Wollte ich nachsehen? Nein. Würde ich nachsehen? Natürlich. Also drückte ich mich auf in den wankenden Stand. Und dann folgte das Geräusch, das man auf keinem Schiff hören wollte - das Bersten von Holz, das Splittern der Planken, als Stein sich hindurch bohrte. Und die Angst, die in meinem Traum gefehlt hatte, war in der Realität ganz plötzlich da und wurde auch nicht besser, als ich den Weg auf Deck gefunden hatte. Chaos. Das war das erste Wort, das mir einfiel, als ich die hektischen Seeleute sah, die schreienden Händler, die panischen Passagiere und bereits da schlich sich die Gewissheit in mein Bewusstsein, dass dieses Schiff sicherlich nicht in Drakon ankommen würde. Es würde auch sonst keine Küste erreichen. Vielleicht ein paar Teile davon, zerbrochene Holzbretter, leere Fässer, Leichen.

Ich hatte nicht das Gefühl, mich bewegen zu können. Was hätte ich auch tun können, wenn nicht einmal die Seeleute zu wissen schienen, was sie da taten. Ihm stand keine Panik ins Gesicht geschrieben. Sein Schiff würde untergehen. Während andere seiner Mannschaft und die Passagiere sich noch an die Hoffnung klammerten, wie an den sprichwörtlichen Strohhalm und wie ein verrückt gewordener Ameisenhaufen über Deck rannten, sich gegenseitig Sachen zubrüllten und doch kein Stück weiter kamen, in dem verzweifelten Versuch irgendetwas zu reparieren, stand er am Steuerrad. Die Fingerknöchel weiß, weil er es so fest hielt, wie er nur konnte und den Blick in die Dunkelheit nach vorne gerichtet. Trotz des festen Griffes und der Erkenntnis, dass nichts mehr zu retten war, war er ruhig. Und ich mit ihm. Ich stand an Ort und Stelle, meine Hände an dem Teil der Reling, der noch halbwegs intakt war und beobachtete jenen, der seinem Ende entgegen steuerte.

Ich kann nicht mehr sagen, was es war, das mich traf. Es war ein harter Schlag, der mich ins Straucheln brachte und zusammen mit der Schieflage des berstenden, sinkenden Schiffes über Bord beförderte. Ich hatte nur einen kurzen Moment, in dem mir klar wurde, dass das Wasser hier draußen nicht allzu warm sein dürfte und ich nicht die allerbeste Schwimmerin war, was aber total egal war, wenn man sich mitten auf dem Meer befand. Trotzdem raubte mir der Aufprall auf dem Wasser und vor allem die Temperatur den Atem. Ich kniff die Augen fest zusammen und auch wenn das Dröhnen des Wassers meine Ohren betäubte, hörte ich die Worte klar und deutlich.
„Ist meine Geschichte schon erzählt? Oder deine? Vorher ist es kein Ende.“

Ich dachte immer, ich könnte das Ende einfach hinnehmen, wenn es kommen würde. Ich hatte lange gedacht, ich sei bereit dafür. Eigenartig, wie sehr man sich täuschen konnte, wenn es tatsächlich soweit war. Meine letzten Gedanken waren nicht jene an meine Familie oder mein Zuhause. Mein Leben zog nicht an mir vorbei. Stattdessen galten sie jenem, dem ich diente. Dessen Weg ich so lange beschritten hatte. Kra'thor.
Noch bevor die Kälte des eisigen Wassers mein Bewusstsein ganz rauben konnte, war das Gefühl des Traumes wieder da. Dunkle Schwingen, dich sich um mich legten. Nicht bedrohlich oder furchteinflößend, es war wie heimkehren. Ich riss die Augen auf und schnappte nach Luft und war selbst überrascht davon, dass sich meine Lungen nicht mit Wasser füllten, sondern mit der kühlen Nachtluft Rahals und meine Knie und Hände auf die Kieselsteine schlugen, die auf dem Friedhof als Trittsteine dienten.

Es dauerte eine Weile, bis ich es realisierte. Meine Macht, die Gabe, die er mir verliehen hatte, war nicht grenzenlos. Aber sie war weitreichender, als ich es für möglich gehalten hatte.
„Du hast vollkommen Recht. Vorher ist es kein Ende.“
 Nach oben »
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 18 Jan 2022 20:18    Titel:
Antworten mit Zitat

Death is not the greatest loss in life. The greatest loss is what dies inside while still alive.


Gerimor
Cirmiasium 262 bis Alatner 263


Ich hatte sie lange beobachtet. Brüder, Schwestern. Sie kommen und gingen. Und doch schienen sie alle irgendwie… zufrieden. Schienen zur Ruhe zu kommen. Ihren Frieden gemacht zu haben. Vielleicht täuschte es. Vielleicht trugen sie die Masken einfach überzeugender als ich es vermutete. Emotionslosigkeit kleidete Menschen nicht. Aber das war auch nur eine Geschmackssache. Sie lernten und manchmal musste man loslassen, damit sie Flügge wurden, die Küken. Ich schätze, das hatte der Einzige, der sogar etwas länger dieses Dasein fristete, auch verstanden. Es hatte sich so viel verändert in den letzten Jahren, sogar alleine in den letzten Monden.

Und doch gab es einen Gedanken, der mich nicht loslassen wollte. Seit Jahren nicht. Und noch immer hatte ich keine Lösung gefunden, hatte nicht einmal einen Ansatz. Aber Versprechen sollte man halten. Ich hatte nie eines gebrochen und hatte es nicht vor. Schon gar nicht dieses eine. Dafür hatte ich ihm zu viel zu verdanken, dafür war er einfach zu sehr Teil meines Daseins. Die Leere, die er mir gezeigt hatte, die mir, immer wenn ich versuchte, sie neu zu erfassen, den Atem raubte, hatte mich geprägt. Mein ganzes Denken, meine Ziele, mein Leben.

Und auch wenn es sich eigenartig anfühlte nach dem letzten Mal wieder auf ein Schiff zu steigen, gab es keinen anderen Weg. Ich hatte keine Angst davor, dass es unterging in einem tosenden Sturm. Das letzte Mal hatte mir gezeigt, dass ich sicher war. Dass ER seine Schwingen über mich gehalten hatte. Doch ich wusste, dass die Rastlosigkeit mich hier auf Gerimor nicht loslassen würde. Vielleicht auch woanders nicht. Deshalb war es an der Zeit, dass ich endlich etwas unternahm. Ich hatte keine Anhaltspunkte, wo ich beginnen konnte, doch irgendwo müsste ich anfangen und wenn ich jeden noch so winzigen Winkel dieser Welt durchsuchen musste.


Drakon
Eluviar bis Cirmiasum 264


Ich hatte keine Ahnung mehr, wie lange ich nun genau weg war. Vier Monate? Fünf vielleicht? Es spielte keine Rolle. Ich war nicht nach Seranyth gefahren, war nicht in die Heimat der Brüder und meiner verbliebenen Familie zurückgekehrt. Und auch wenn ich sie vermisste, schmerzlich, hätte es mich nur abgelenkt, aufgehalten. Wer wusste schließlich, wieviel Zeit mir noch blieb, bis die Jäger den Gejagten einfingen. Wenn mich jemand gefragt hätte, ob sie das nicht vielleicht schon längst hatten, hätte ich nichts anderes antworten können, als dass ich es wüsste, wenn es so wäre. Ob sie von ihm abgelassen hatten? Ich zweifelte daran. Sie liebten die Aussicht auf das Ende der Jagd viel zu sehr. Und ich liebte den Gedanken viel zu sehr, ihnen das Ende zu vermiesen. Es war beinahe zur Obsession geworden für mich. Manchmal, an ganz bestimmten Orten, streifte mich für einen Herzschlag lang das Gefühl, dass er dort war. Ganz kurz auf der Durchreise, auf der Flucht. Oder vor Monaten schon. Vielleicht auch nur vor Tagen. Es war als fasse man durch kalten Nebel. Jedes Mal ließ es mich innehalten, für einen kurzen Moment keinen Atemzug mehr tun und für meine Mitmenschen vermutlich eine eigenartige, nervige Angewohnheit, einfach irgendwo auf einer Torschwelle stehen zu bleiben, in Gedanken, in Erinnerungen.

Ich hatte mittlerweile so viele Bibliotheken, Wissenshorte, Tempelbüchereien durchforstet, dass meine Liebe zum geschriebenen Wort beinahe abhandenkam. Immerhin gab es ein paar wenige niedergeschriebene Berichte, die mir zumindest beim Rätsel, das die Alben noch immer waren, weiterhalfen. Nicht so weit, wie ich es gerne gehabt hätte, aber immerhin. Ich lernte, mich mit kleinen Schritten, kleinen Erfolgen anzufreunden. Und ich lernte vor allem, einige Dinge besser zu deuten. Manchmal musste man die Menschen… oder Wesen… aber doch schlicht beim Wort nehmen.
„Dort existieren mächtigere Wesen, als du oder ich es sind. Alte Wesen. Gefährliche Wesen.“

Natürlich war es leichtsinnig. Aber wenn man mit aller Vernunft und allen Entscheidungen, die nicht an Lebensmüdigkeit grenzten, nicht mehr weiterkam, musste der Schritt eben sein. Da war ich mich recht sicher. Das Schlimmste an der Sache war nur die Angst selbst. Und ja, ich musste und konnte mittlerweile auch zugeben, dass ich Angst vor ihr hatte. Jeder, der das anders sah, war ihr entweder nicht begegnet oder… verrückt. Aber ich war vermutlich auch nicht die Richtige, um den mentalen Zustand von anderen zu beurteilen. Ich konnte sie förmlich hören. Der Einäugige, wie er missbilligend schnaufen würde. Die kleine Schwester, die vor Sorge nur noch piepsen würde und alle Sicherheitsvorkehrungen hundert Mal überprüfen würde. Ravena, der man es nicht ansehen würde, was sie dachte, die sich aber insgeheim fragen würde, warum ich das eigentlich tat. Viktorya, die vermutlich mit einer eigenartigen Mischung aus Freude und Wahnsinn mitgekommen wäre. Ars, der sicher irgendwas von dort mitnehmen würde, um es irgendjemandem oder irgendetwas annähen würde. Seyar, der vermutlich mehr Sorge um Morra hätte und mich insgeheim verfluchen würde. Die Jüngeren, die keine Ahnung hätten, worauf sie sich einließen.

Und doch stand ich jetzt alleine und war froh darüber. Ich hatte meine Angst vor ihr beiseitegeschoben. Hatte ganz in Morra-Art meine Vorbereitungen zweifach überprüft. Der doppelte Kreis war kein Vergleich zu denen, die wir unzählige Male in der Grabkammer gezogen hatten. Nicht vom Durchmesser her. Er musste aber auch nicht mehr sein, als der perfekte Ring, der um mich und den Spiegel herum lag. Nur beiläufig strich ich mit den Fingerspitzen über den blutenden Schnitt inmitten meiner Handfläche und fragte mich dieses Mal gar nicht, ob das notwendig war. Ich hatte aufgehört zu zählen, wieviele Bannkreise ich gezogen hatte im letzten Jahrzehnt. Ich wusste aber, wann ich das letzte Mal selbst in einem wie diesem gestanden hatte.

Ich hatte den Preis dabei, den Tauschhandel, um das Gleichgewicht zu wahren. Ich hatte meine Verbindung zu meinem Anker fest in der unverletzten Hand. Einen Augenblick betrachtete ich die kleine, gefüllte Phiole noch, ehe sich meine kühlen Finger wieder darum schlossen und sie in Sicherheit hielten. Und dann machte ich den letzten Schritt. Über die Grenze, die nur wenige überschritten, in eine Welt hinein, aus der noch weniger zurückkehrten. Ich trat durch den Spiegel und musste nicht lange suchen, um sie zu finden.


Andere Welten
Ashatar 264 bis Hartung 265


Es war genauso farblos und kalt, wie ich es in Erinnerung hatte. Es überraschte mich nicht einmal mehr. Und sie überraschte ohnehin nichts. Weder mein Vorhaben, noch mein Tauschangebot. Sie gewährte mir die Zeit, vielleicht wenige Tage in meiner Zeitrechnung. Wie die Zeit hier verlief, wusste ich nicht. Ich war schon einmal dort, doch wenn es weder Tag noch Nacht gab, konnte man nur schwer fassen, wie der Verlauf war.

Sie ließ mich auf die Suche gehen. Es waren die Mächtigen, die nach noch mehr Macht strebten. Doch es galt jene zu finden, die für Macht über Leichen gingen, denen der Geifer von den Lefzen tropfte, weil sie nach Kraft lechzten.
Ich wusste nach dem ersten Wort, dass ich fündig geworden war und dass jene den Handel eingehen würden, die nun vor mir standen. Es bedurfte nicht vieler Worte. Es war schnell klar, dass er, ihr Anführer, das wollte, was ich besaß. Und dass er mir helfen konnte, denn er war ein Wesen, wie sie, gegen die ich auf Hilfe angewiesen war. Und so reichte ich ihm meine Hand. Meine schmalen Finger, die sich um die mächtige Pranke des Wesens schlossen, sahen beinahe lächerlich klein aus. Wie eine Kinderhand.
Möge Siegel diesen Pakt anerkennen.
Und ich lächelte. Das erste Mal seit einer kleinen Ewigkeit. Ich spürte, wie er sich das nahm, was ich ihm versprochen hatte. Und ich wusste, dass ich das bekäme, was ich dafür verlangt hatte, wenn ich es verlangen würde. Alles hatte seinen Preis. Vielleicht hatte es nicht den Anschein, aber er hatte den höheren bezahlt.

Ich setzte meine Suche noch fort. Vielleicht gab es noch mehr Wesen, die geeignet waren. Vielleicht ergab sich das ein oder andere hier. Solange sie mir noch Zeit ließ, würde ich sie nutzen. Doch was, wenn Zeit gar nicht mehr das Problem war? Was, wenn Verbindungen rissen? Wenn Anker nur noch ein unbedeutendes Wort war. Ein metallener Gegenstand ohne große Bedeutung. Ein Teil eines Schiffes, dessen Seil im Sturm gerissen war, sich losgemacht hatte von der haltenden Stütze und nun vom Wind gepeitscht in Dunkelheit trieb. Ich betrachtete die zerborstene Phiole in meiner Hand, das Karminrot, das mir von den Fingern tropfte. Und ich wusste, dass es nicht das zerbrochene Glas war oder das Blut, was verloren ging, was meinen Weg zurück abschnitt. Es war das, was dort passiert war, in meiner Welt. Mit meinem Anker. Für eine Weile blieb ich reglos, während meine Gedanken sich wieder neu ordnen mussten. Ich wappnete mich für das, was ich bereits kannte und versuchte, meine Erinnerungen so gut es ging zu verschließen. Und dann suchte ich mir einen Ort, an dem ich zumindest etwas sicherer war vor dem, was in dieser Welt existierte, um herauszufinden, wie ich diesen klaffenden endlosen Abgrund überwinden konnte, der mich von der Rückkehr abhielt…


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 18 Jan 2022 21:22, insgesamt 2-mal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 22 Jan 2022 21:03    Titel:
Antworten mit Zitat

You never left. I always heard you.
Shadows in the streets, prickles on the back of my neck.
Your voice, pushing me, picking me up when all the colors were black.
You're the reason I'm still alive.



Gerimor
Hartung 265


Nur langsam sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein, wie ein kleines Rinnsal, das sich unaufhaltsam seinen Weg bahnte, auch wenn es Zeit brauchte, die Hindernisse zu umwinden. Die Zeit in der Welt der Wächterin hatte ihre Spuren hinterlassen, äußerlich, aber auch nicht sichtbar. Ich hatte offenbar ein neues Problem mit Namen. Gesichter, wenn auch verschwommen und unsicher, kamen mir bekannt vor, wobei ich mir unsicher war, ob ich mich täuschte oder ob das Sehen mancher Mimiken wirklich das Wiedererkennen war. Ich wusste es an dem Abend, als ich ihre Welt verließ – als sie mich zurückholten, dass ich die meisten Gesichter der Dunkelberobten kannte. Ich erinnerte mich unklar, dennoch wollten mir ihre Namen nicht einfallen. Es war, als wären sie ausgelöscht und zwar alle. Fast. Ich erinnerte mich an meinen Namen. Immerhin. Ich erinnerte mich an die Namen meiner Familie. Das waren jene, die ich nie losgelassen hatte, auch wenn sie zu verblassen drohten. Es war nur ein Name ganz klar, der sich so scharf abzeichnete, wie die Kanten zerborstenen Glases.

Ich blickte also seit vielen vielen Mondläufen wieder in die namenlosen Gesichter meiner Geschwister. Es war überraschend, wenn meine Emotionen mich auch nicht übermannten. Vermutlich waren sie auch geschwunden und mussten erst wieder gefunden werden. Doch war ich ihnen zu Dank verpflichtet? Vermutlich. Also dankte ich ihnen. Sie hatten mich schließlich zurück geholt und einen Preis gezahlt, der zumindest einem von ihnen leid tat. Vielleicht hatte ich hier wieder etwas gut zu machen, obwohl ich um nichts gebeten hatte, aber sei es drum. Dazu war noch genug Zeit.
So stand ich also in der altbekannten Grabkammer. Mit namenlosen Geschwistern um mich herum. Und dann war es die Kleinste in der Runde, abgesehen von mir, die mir Rätsel aufgab. Vielleicht war es auch schlicht zu lange her, dass ich wirklich mit einem lebenden Wesen gesprochen hatte. Oder menschliche Stimmen vernommen.
Hmn, du stehst da, wo dein... dein Verbündeter stand.
Ich wusste nicht, wen sie meinte. Hatte ich Verbündete in dieser Welt? Bathair vielleicht? Und dann folgte der eine Name, der so tief schnitt wie Glasscherben. Er war dort. Vor wenigen Tagen. Ich war noch nicht klar genug, um das alles zu fassen. Diese Welt war so viel… schärfer, bunter… als die der Torwächterin. Und anstrengender. Wenn man Monate in einer farblosen Blase gefangen war, strapazierte es die Sinne, plötzlich Farben, Töne, Stimmen, Gerüche um sich zu haben.
Ich denke euch beide verbindet ein sehr inniges... festes Band.
Der Schlaf hatte mich nach dem ersten Abend tatsächlich übermannt. Ich konnte mich nicht erinnern, das letzte Mal so fest und so lange geschlafen zu haben, wie in dieser Nacht in der Grabkammer. Und doch, kaum dass ich wach war, nagten die Fragen wieder an mir. Woher hatte er gewusst, wo ich war? Warum war er hier? Weshalb schickte er meine Geschwister, mir zu helfen? Wusste er nicht, weshalb ich dort war?
Er hatte noch immer den Körper, den ich ihm ausgesucht hatte. Der seinem früheren Ich ähnlich war. Erleichterung traf mich, als ich davon erfuhr. Und er war noch immer auf der Flucht. Das war weniger überraschend. Im Gegenteil.
Er war hier, um mich zu befreien. Er forderte es ein. Ja, das passte zu ihm. Meine Gedanken kreisten immer wieder darum, dass Jahre vergangen waren und er dennoch nicht vergessen hatte. Im Gegenteil. Nicht nur nicht vergessen, er wusste, beobachtete und half. Es war also nicht nur der Körper, dem wir ihm damals gegeben haben. Es war auch das zurück, was ihm genommen wurde. Ich lächelte bei dem Gedanken. Nicht nur, weil es mich freute, dass er fühlte, sondern auch, weil das bedeutete, dass die Vier noch mehr verloren hatten, als sie glaubten. Es war eine Genugtuung.

Es würde ganz sicher noch einige Fragen dauern, bis die Geschwister meinen Wissensdurst, was ihn anging, gestillt hatten. Ich hoffte, sie erinnerten sich genau. An seine Worte, seine Art. Jedes Detail war wichtig. Und vermutlich musste ich ihnen die Geschichte auch noch ein, zweimal erzählen. Es war keiner mehr da, der sie damals miterlebt hatte, außer der Einäugige. Aber ich empfand es als meine Aufgabe, diese Geschichte zu erzählen. Es war meine Verbindung. Und mein Verbündeter.

Ich wusste noch nicht, wieviel ich ihnen von meinem Aufenthalt in den letzten Monaten preis gab. Doch brauchte es Vertrauen und noch mehr Bindungen, damit die Zeit dort nicht verschwendet war. Damit mein Handel nicht umsonst war. Ich hatte viel eingebüßt. Das wussten sie noch nicht. Aber ich hatte mehr gewonnen, zumindest in diesem einen Punkt war ich mir sicher. Und seit langer Zeit wusste ich ganz genau, welcher Weg zu gehen war. Meine ganze Aufmerksamkeit lag nur dort. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, einen Schritt nach dem anderen zu tun, während ich versuchte, zu ignorieren und zu vergessen, dass es einen Grund gab, weshalb mein Anker gebrochen war.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 24 Jun 2022 12:35    Titel:
Antworten mit Zitat

Fear has a large shadow, but he himself is small.


Manchmal fragte ich mich, ob Kra’thor selbst auch die Wege seiner Diener voraussah und ihnen vor die Füße legte, mit allen Stolpersteinen, die sie zum fallen bringen konnten. Vor allem jagte der Gedanke in den letzten Tagen immer wieder durch meinen Kopf.

Öfter als früher noch schaute ich nun in die Gesichter der jüngeren Geschwister – wobei die Unterscheidung nicht einmal mehr einen Unterschied machte. Sie waren alle jünger als ich in dem Sinne. Es gab nur einen, der vor mir da war und der ging seinen eigenen Wegen und Gedanken nach. Doch so lehrte ich sie alles, was sie erst einmal wissen mussten. Damit sie erstarkten. Damit sie lernten, die Macht unseres Herrn zu nutzen. Nicht ganz uneigennützig, musste ich da doch zugeben. Doch hatte ich im Laufe der vielen Jahre genug geopfert, dass es irgendwann an der Zeit war, zu fordern. Nicht jetzt. Nicht in den nächsten Wochen. Doch bald.

Und ich würde auch die Gefahr in Kauf nehmen, stellte ich fest. Es könnte so viel passieren, so wie es neulich erst mit der Rosenschwester passierte. Wer wusste schon, wer sich danach alles in irgendeiner Zwischenwelt wiederfinden würde und seinen Weg zurück finden musste. Wobei das noch die bessere Alternative war. Vielleicht würden wir auch ganz andere Dinge einbüßen und die Frage, ob es das Wert war, stellte ich mir nicht mehr. Ich hatte ein Versprechen gegeben. Ich war einen Pakt dafür eingegangen. Hatte Monate meines Lebens damit verbracht. Die Frage nach dem Ob stellte sich schon lange nicht mehr, bereits zu dem Zeitpunkt, an dem ich die Wächterin vor ziemlich genau einem Jahr erneut besucht hatte. Dass er es dann war, der mich aus ihrer Welt holen ließ von meinen Geschwistern, bestärkte mich nur noch mehr. Manchmal war es fast erheiternd, zu sehen, wie wir uns immer wieder im Kreis drehten und uns gegenseitig retteten. Die Zeit, die es noch galt, Geduld zu bewahren, war nur noch ein Herzschlag im Vergleich zu der Zeit, die wir bereits das Dasein des jeweils anderen beeinflusst hatten.

Aber die Zeit hatte mir auch die Angst geschmälert, vor Wesen, die anderes waren, als wir sie kannten, vor Mischwesen, vor Angriffen. Ich verspürte Respekt und wusste, dass man niemals sein Gegenüber unterschätzen sollte. Doch das Vertrauen in den einen Gott, dessen Weg ich beschritt und der offenbar eine schützende Schwinge über mich hielt, und damit auch das Vertrauen in mich selbst, in meine eigenen Fähigkeiten, ließ die Angst schwinden und die Unsicherheit, wozu ich in der Lage sein könnte.

Nur noch ein wenig Geduld. Jetzt war ohnehin erst einmal Qaram wichtiger, als meine eigenen Versprechen und Bündnisse. Nicht nur, dass Kra’thor selbst uns recht eindeutig hat wissen lassen, dass es an der Zeit war, den Lich auszuschalten, das war auch eine persönliche Sache. Er hatte mir etwas genommen und damit kam ich nicht gut zurecht. Auch wenn ich selten Wut verspürte, er hatte es geschafft in dem Moment, in dem er mich lähmte und ich ihm nicht viel entgegen setzen konnte und mir etwas gestohlen hatte. Es rüttelte an etwas in meinen Gedanken, was lange vergraben war und das vermutlich zurecht. Es blieb nur die Frage, wie ich mein Dasein vor den übrigen Beteiligten so gut verschleiern konnte, damit niemand es bemerkte – bis auf diejenigen, die es ohnehin wussten. Glücklicherweise hatte ich mehr als eine Hand voll Geschwister um mich, Templer, denen ich vertraute und Rashar, deren Fokus etwas anders lag, aber ein anderer Blickwinkel war grundsätzlich nichts Schlechtes in allen Lebenslagen. Zudem war der Schutz der Bruderschaft und die Beteiligung der Liedwirker ein weiterer Vorteil. Qaram war sogar überrascht, dass ich wusste, wer er war. Er würde überrascht sein, wenn die geballte Einigkeit dreier Götter und des Liedes auf ihn einprallte.

In der Zwischenzeit, wenn ich doch mal Zeit allein verbrachte und die Gewissheit drohte, sich einzunisten, konzentrierte ich mich auf etwas ganz anderes. Die erste Begegnung mit Amagar hatte mich geprägt, so sehr, dass sich selbst mein klerikales Wirken darin spiegelte. Es waren die gleichen Schemen, durch die meine Hand damals glitt, in dem Moment, in dem unsere Verbindung geschaffen wurde. Es waren die gleichen Schlieren, die mich manches Mal umfingen. Vermutlich war ich deshalb so fasziniert vom Reif des Templers, auch wenn jene anders waren.
Also versuchte ich sie festzuhalten, mir zu eigen zu machen, bei jeder Wandlung, bei der sie mich einhüllten, ihnen näher zu kommen, sie mir zu eigen zu machen. Sie wurden ein wenig wie die Luft zum Atmen. Unabdingbar.

Und dann war da noch die Vergangenheit. Nicht die letzten Jahre. Nicht das Verdrängen, das bröckelte, wenn ein Templer andere darauf hin wies, wie meine richtige Anrede war oder ein ehemaliger Ritter sie schlichtweg richtig in Erinnerung hatte, und die feinen Narben in meiner Handfläche, verursacht durch das dünne Glas eine Phiole, die genau dort zerborsten war, für einen Augenblick brannten. Es war die Erinnerung an Schwarzwasser und Siebenwacht, wenn ich in die beiden fremden Gesichter blickte, die die gleichen Gassen und Orte kannten, wie ich. Ob wir uns schon einmal begegnet waren, konnte ich nicht einmal sagen, vermutlich wäre ihnen das schmächtige, zu kleine Gör auch nicht einmal aufgefallen. Trotzdem fühlte ich mich den beiden angenehm verbunden. Und ich musste zugeben, auch die Zeit dort, die derben Sprüche, die kleinen Sticheleien waren eine willkommene Ablenkung von allen Herolden, Alben und Lichen dieser Welt und aller anderen.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 03 Aug 2022 21:08    Titel:
Antworten mit Zitat


I'm in a box, but I'm the one who locked me in, suffocating and I'm running out of oxygen



Gerimor
Cirmiasum 265

Das Kapitel Qaram war geschrieben. Kurz und unspektakulär, wenn auch trotzdem lehrreich für meinen Plan. Mischwesen. Ein Albtraum, aber immerhin einer, der mich wieder einen kleinen Schritt weiter brachte.
"Keine Sorge. Es ist keine Frage mehr von Jahren oder Monaten." Ein leises Versprechen in der Dunkelheit des neuen Hauses in Rahal. Ein kleines Stück Heimat, das ich mir wieder geschaffen hatte.

Der Geschmack, der auf meinen Lippen lag, war nicht mein eigener. Und er brachte so viele Erinnerungen mit sich. Nicht die Art, über die man Lächeln würde, manche davon viel zu dunkel und doch versuchte ich, sie festzuhalten. Denn sie waren nicht mehr nur meine. Die Hafenbucht, das Hafenviertel, die Gassen, das Waisenhaus. Geteiltes Leid war ganz sicher nicht halbes Leid. Es war eher doppeltes. Und auch wenn ich nicht wusste, welche Schicksale die beiden Siebenwachter mit mir teilten, hörte ich an bestimmten Worten, dass auch dort eine Dunkelheit lag. Vielleicht weniger schwarz als die meine, vielleicht noch viel undurchdringlicher. Ich musste die Geschichten nicht bis ins Detail gehört haben. Manche Formulierungen reichten aus, um zu wissen, dass da mehr war, als man mit dem blossen Auge jemals sehen würde.
Kurz keimte der winzige Gedanke auf, zurückzukehren und einfach die ganze verdammte Stadt niederzubrennen. Die Erinnerungen würden dennoch bleiben. Auch meine waren nicht verschwunden, als ich den Flammen zugesehen hatte, wie sie das Haus, die Heilige Amyra, verschlangen. Und mit ihm vier Körper, die leblos, ausgeblutet und alles andere als heilig in ihren Betten lagen. Hatte ich mir gewünscht, dass damit meine Vergangenheit ausradiert wäre? Sicher.
Es waren dunkle Erinnerungen und trotzdem war der Geschmack nicht mehr nur bitter. Er fühlte sich lebendig an.

Ich schmeckte die salzige Luft der Hafenstadt. Und öffnete klemmende, staubige Schubladen des alten, instabilen Schrankes, der den Namen Kindheit trug. Ein Schrank, der von den Raubzügen der Spiegelwelt verschont war. Vielleicht, weil ich es überlebt hatte, damals. Und vielleicht war das der Grund seiner Wahl. Doch hielt ich die Erinnerungen wie ein Buch. Ein Buch über andere, das man las, mit denen man sich identifizieren konnte und doch war man jemand anderes. Ein Schutzmechanismus, den ich mir über die Jahre zugelegt hatte.


Siebenwacht
Rabenmond 238

Das winzige Bündel, in Lumpen gewickelt, in einem alten Korb mit gebrochenen Streben und Löchern im Flechtwerk abgestellt, lag still und betrachtete aus den noch hellen blauen Augen eines Säuglings die Schneeflocken, die sich aus dem grauen Himmel auf die Welt herab senkten. Doch dauerte es nicht lange, bis die Kälte doch in die kleinen Knochen kroch, und der Schrei einsetzte, der die Eigentümer des Hauses alarmierte. Keine Familie. Tatsächlich lag das Bündel vor dem Haus, das den Namen einer Götterstochter trug. Den Namen einer Heilerstochter. Den Namen einer Heiligen. Mit wenig Begeisterung wurde das Mädchen in die zumindest etwas wärmeren Räumlichkeiten gebracht, doch scherte es niemanden so wirklich. Für die Verantwortlichen war es ein Mäulchen mehr zu stopfen, wenn sie überlebte. Wenn nicht, wäre es auch egal. Es würde niemanden scheren. Der vergilbte Zettel, auf dem nur ein Name stand, fünf unbedeutende Buchstaben, wurde kaum eine Stunde später den Flammen übergeben. Immerhin blieb er.
Es war noch in dieser Nacht im Rabenmond, als das erste Mal grau-blaue Augen über den Rand der alten Kinderwiege schauten, das kindliche Staunen darin war noch nicht ganz erloschen und doch lag viel zu viel Kummer und Sorge darin, als es in der kurzen Lebensspanne sein sollte. Es war der erste Moment, in dem zarte Bande geknüpft wurden, die sich im Laufe der Jahre zu einem beinahe undurchtrennbaren Faden verwickelten.


Siebenwacht
Cirmiasum 252

"Pst, Mairi" kurz grinste das Mädchen. Sie wusste, was dieser kleine Flüsterer bedeutete. Es waren nicht mehr die hellen blauen Augen eines Säuglings, die das andere grau-blaue Paar suchten, es war Bernstein, der in der schummrigen Kammer versuchte, die Umrisse des Vertrauten auszumachen. Nur Sekunden vergingen, bis sich die Hände fanden und die halb geschmolzene, bittere Schokolade geteilt wurde. Es war einer der wenigen Momente, die sich so ähnlich wie Glück anfühlten. Und sie konnte sich tatsächlich an keinen erinnern, ohne ihren Freund, ihren Seelenverwandten, ihren Bruder, auch wenn sie nicht das gleiche Blut teilten. Als die Stufen zur alten Kammer draußen knarzten, war ihnen beiden klar, dass es mit dem winzigen Moment des Glücks schon wieder vorbei war. Bernstein fand Regengrau in der Dunkelheit, zwei leise Versprechen, die nicht unterschiedlicher sein konnten, lagen in dem letzten Blick. Schon an den Schritten konnten sie beide ausmachen, dass er betrunken war. Nicht so wie sonst, nicht grob und laut, sondern gewalttätig und brutal. Es gab keinen Grund dafür. Die Gegenwehr war lange ausgeblieben, seit Jahren schon. Dennoch schien der alte fettleibige Leiter schlicht gefallen an der Pein zu finden. Einfach aus Spaß. Oder Machtgier. Sie würde nie eine Antwort auf das Warum erhalten. Das war ihr bereits in ihren zarten Jahren klar. Genauso klar wie die Tatsache, dass Micah den Blick abgewendet hatte. Er würde nicht zusehen, wie sich das Messer zum unzähligsten Male in die blasse Haut drückte und eine Spur von dunklem Rot hinterliess. Er würde die Wunden so gut es ging am nächsten Morgen versorgen. So wie er es seit mehreren Jahren tat. Er hoffte schlicht, dass die Bewusstlosigkeit schnell kommen und ihr zumindest für eine kleine Weile den Schmerz und die Erkenntnis nehmen würde. Oft hatte er sich gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, dieses kleine schmächtige Ding sich selbst zu überlassen, sie nicht zu beschützen. Er wusste keine Antwort darauf und konnte es ohnehin nicht mehr ändern.
Als sie wieder zu sich kam, war sie halbwegs versorgt, auch wenn die Schmerzen unter dem aufgelegten Leinentuch brannten. Es war kurz vor Morgengrauen, doch die Arme des Freundes, die um sie lagen wie jeden Morgen, gaben ihr nur kurz Geborgenheit. Nur für den Bruchteil des Wachwerdens, bis die Erkenntnis einsetzte, dass sie zu kalt waren. Die Brust zu reglos. Die Augen zu tot. Der Schmerz auf ihrem Rücken, die Narbe, die über die Jahre gewachsen war, immer wieder geöffnet, mehr als sie zählen konnte, war nichts gegen das, was das Mädchen in diesem Augenblick verspürte. Aber es war auch das letzte Mal, dass sie vor Wut, Trauer, Verzweiflung aus vollstem Leibe schrie.
Vermutlich fragte niemand nach ihr, als sie am nächsten Tage nicht mehr im Hause war. Sie würde es ohnehin nur noch einmal betreten.


Siebenwacht
Schwalbenkunft 258

Die laue Sommernacht lag über dem Hafenviertel, in dem sich die junge Frau, vielleicht gerade einmal zwanzig Lenze, einquartiert hatte. Sie war erst gestern angekommen und würde morgen schon wieder abreisen. Es war aber auch nicht wichtig, sie war für die meisten nicht interessant und hielt das auch gerne weiter so. Schließlich war sie nicht dort, um alte Freundschaften wieder aufblühen zu lassen. Es würde sich vermutlich ohnehin niemand an sie erinnern, eine willkommene Unsichtbarkeit.
Sie hatte keine Eile, als sie die alte Spelunke spätabends verliess, auf dem Weg in ein anderes Viertel, nicht weit entfernt. Die dunklen Gassen, die Abkürzungen waren nicht unbekannt. Sie wusste recht genau, wie sie ungesehen blieb auf ihrem Weg zu den vier Gesichtern, die sie nie vergessen hatte.

Die ersten drei Kehlen waren schnell durchtrennt. Es waren saubere, schnelle Schnitte der scharfen Klinge. Die Zimmer hatten sich seit Jahren nicht verändert und auch sie waren schlicht älter geworden, die Haare grau, die Haut faltiger. Die Schnitte waren präzise, sie machten nicht einmal einen Laut, außer das leise Gurgeln, bis der stille Kampf verloren war. Sie machte sich keine Mühe, die wenigen Spuren zu verwischen. Sie würden sie nicht finden, sofern es überhaupt jemanden interessieren würde. Doch sie waren nur die, die nichts unternommen hatten. Sie hatten es gewusst und es zugelassen, wo ihre Pflicht darin lag, die unschuldigen Seelen zu schützen. Sie waren ebenso schuldig und verdienten es, vom Rabenherrn selbst verschlungen zu werden. Sollten ihre Seelen auf ewig in Pein und Angst schmoren.

Das vierte schlafende Gesicht liess sie zögern. Sie wollte sich nur das Gesicht noch einmal genau einprägen, das sie zwölf Jahre des jungen Lebens verfolgt hatte. Und der bekannte Geruch nach alten Tabak gemischt mit Schweiss und der Note billigen Fusels liess Übelkeit in ihr aufsteigen.
Sie betrachtete also die runzlige, fette Haut, das Doppelkinn, den halb geöffneten Mund und letztendlich das Gesicht, das bald zu einem Toten gehören sollte. Einen Moment zu lange. Mit einem Aufwachen hatte sie nicht gerechnet, auf Gegenwehr oder gar einen Kampf war sie überhaupt nicht vorbereitet. Und was sollte man tun, wenn man von jemandem angegriffen wurde, der beinahe dreimal so schwer war, wie man selbst? Man musste erfinderisch sein. Der Aufprall auf den Spiegel, der unter ihr zersplitterte, raubte ihr erst einmal den Atem und doch schaffte er einen Moment der Klarheit. Die Scherbe schnitt sich tief in ihre Handfläche, noch tiefer aber in seinen Brustkorb und letztendlich sein Herz.
Sie glaubte, für einen Augenblick Erkenntnis in seinem sterbenden Blick ausmachen zu können und drehte die Scherbe noch etwas, schob sie weiter in seine Brust, durch sein Herz. Und hoffte insgeheim, dass er sich erinnert hatte.

Im Berstein spiegelten sich die Flammen, die das Haus nach und nach verschlangen, während sie im Schatten der alten Seitengasse stand. Sie lächelte nicht, ihre Miene blieb ungewöhnlich hart. Rache war bittersüß, sagte man doch. So wie die Bitterschokolade in ihrer Erinnerung. Die Löschunternehmungen waren kläglich, doch versuchte man es zumindest. Weil man an die armen Kinder dachte, denen das Haus der Heiligen, als Obdach diente. Sie blieb nicht lange genug, um die Verwunderung darüber zu erleben, dass man in den Überresten des niedegebrannten Waisenhauses lediglich die Körper vier Erwachsener fand. Von den Kindern fehlte jede Spur.


Gerimor
Cirmiasum 265

Ich war seitdem nie wieder nach Siebenwacht zurückgekehrt. Dachte nicht oft daran, hätte es verdrängt. Nicht einmal mein Mann hatte alles über meine Kindheit und Jugend gewusst.
Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Schwachsinn. Was dich nicht umbringt, verletzt dich und wenn du es überlebst, trägst du es für immer mit dir herum. Es war nicht der Schmerz, nicht die Demütigung, nicht die Verletzungen, körperlich und seelisch, die mich gestärkt hatten. Das war ich ganz alleine.

Ich war überrascht, als ich von der Herkunft des ungleichen Gespanns erfuhr. Für einen Moment wollte ich sie nur beobachten. Abschätzen, aus welchem Teil der verhassten Heimat sie stammten. Und ich fühlte mich irgendwie zu ihnen hingezogen. Die Frage nach dem Warum blieb unbeantwortet. Ich hätte es niemandem erklären können, weder die hingenommene Umarmung des einen, als es um einen kurzen Abschied zur Expedition ging, noch die brennende Berührung des anderen.
Vielleicht war es schlicht die Herkunft, die ein feines Band zwischen uns weben wollte, vielleicht auch irgendwas ganz anderes. Und möglicherweise hatte sich das alles auch schon wieder erledigt, als sie die Schritte auf das Schiff wagten.
Falls sie wiederkehrten, würde ich versuchen, mein Misstrauen abzulegen. Sie waren nicht der Teil Siebenwachts, der mich verletzt zurückgelassen und über Jahre gequält hatte. Sie waren auf meiner Seite der Erinnerungen. Nicht auf jener scheinheiligen, die vorgab, gut und edel zu sein und im Endeffekt schlimmer war, als alles, was man sich in seinen Albträumen ausmalen konnte. Und vielleicht waren sie das Licht im Dunkel, das sich Siebenwacht nannte. Und ausserdem hing da ein kleines Versprechen in meinen Gedanken, das ich nicht leichtfertig gegeben hatte. Ein wenig Vertrauen, ein wenig die Kontrolle aus den Händen zu geben, würde mir sicher nicht schaden.


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 01 Mai 2023 11:18, insgesamt 3-mal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 06 Okt 2022 23:40    Titel:
Antworten mit Zitat

Es kommt nicht darauf an, sagen zu können, man habe alles erreicht, sondern sagen zu können, man habe alles versucht.



Germinor
Searum 265


So viele Warnungen, so viele Ratschläge und doch hatte ich offenbar einen der wichtigsten vergessen. Ich hatte mich in den letzten Wochen oft nach Begründungen und dem Warum gefragt, für vielerlei Dinge, nach irgendetwas, das mir doch einen Grund geben könnte, mich aus allem heraus zu ziehen. Wenn ich es wirklich gewollt hätte, wäre mir aber schon ein Ausweg eingefallen, ganz am Anfang, vor den Schritten, die nun getan waren. Ich hätte ihn gefunden, einfach für mich, hätte ihn nicht einmal erklären müssen und hätte mich erneut zurücklehnen und beobachten können. Still, nur für mich. Mit allem, was in meinem Chaos tobte. Mit allem, was ich versuchte, im Zaum zu halten. Hätte weitermachen können mit leeren, tauben Gliedern, mit Gedanken, die sich mit allem beschäftigten, nur nicht mit mir. Das Chaos war eine willkommene Ausrede, die ich aber nicht mehr brauchte. Oder wollte.
Kleine Momente gab es, wenige, in denen die Maske verrutschte, in denen ich sie vielleicht auch bewusst kurz abnahm, nur um sie dann direkt wieder aufzusetzen und mich wieder zu verstecken, hinter zu viel Ruhe, zu vielen Beobachtungen und zu viel Distanz. Und das alles nur für die Illusion eine Art von Kontrolle zu haben über das, was um mich herum passierte?

Es waren alle Vorkehrungen getroffen, in aller Sorgfalt. Ich hatte nicht einmal jemanden zu Hilfe gebeten in der Grabkammer. Es war mir zu unsicher, mein Vertrauen in die anderen Fähigkeiten zu unstet. Ich würde keinen Fehler an diesem Bannkreis dulden und so zog ich ihn lieber selbst in einer so genauen Weise, dass alle Eventualitäten ausgeschlossen wären. Wenn ich selbst den Fehler machte, war es erträglicher – nicht für mich, aber für alle anderen. Ich würde es nicht verzeihen.

Andere Hilfe hatte ich stattdessen gefordert. Die eine ganz schlicht für mich selbst. Aus reinem Egoismus. Ich wollte neben dem Anker etwas anderes haben. Eine winzige Erinnerung meiner Muskeln, Abdrücke, die einem unausgesprochenen Versprechen nachhingen, das ich bei jeder Bewegung spüren konnte. Damit ich nicht vergessen konnte, selbst wenn der Anker brach.
Es war unwahrscheinlich, denn dieses Mal hatte ich nicht die kleine Phiole fest in der Hand, die mit einem Male gesplittert war. Ich hatte die blutende Handfläche in die des Vertrauten gedrückt, hatte unsere Verbindung durch meinen Gott und er durch seinen gefestigt. Dunkle Nebelschlieren hatte sich um blutrote Fäden gelegt, sich verbunden und verwoben. Er würde sehen und spüren. Würde versuchen, einzugreifen im Ernstfall. Und würde irgendwann meinen Preis dafür einfordern und bekommen.

Die beiden Gegenstände lagen dagegen schwer in meiner Tasche, die quer über meinen Körper gelegt war. Die Waage, ein antikes Stück mit so viel Geschick und Filigranität gefertigt, dass jeder Liebhaber solcher Dinge verzückt wäre über die Arbeit. Meine Begeisterung, oder eher Erwartung, hielt sich aber in Grenzen. Die Wächterin war unberechenbar und mir war klar, dass es lediglich ein nettes Symbol war, das sie hoffentlich akzeptierte und hinnahm.
Der Spiegel hingegen war eine andere Geschichte. Poliertes Silber, eingefasst in dunklem Metall mit einer Sollbruchstelle mittig hindurch. Die fragenden Blicke der Geschwister waren nicht verwunderlich. Warum sollte man auch einen Spiegel fertigen, der zum Brechen gedacht war. Sie würden es erfahren, wenn wir dort wären. Wenn wir auf diejenigen trafen, die auf ihren Teil warteten. Es war ein kleiner Schritt auf dem Weg, ein ganz anderes, altes Versprechen einzulösen.

So war ich die Erste, die durch den Spiegel trat, als der Durchgang sich öffnete…



Andere Welten
Searum 265

Das Grau überraschte mich nicht. Ich hieß es willkommen, ließ mir Zeit, bis die anderen Geschwister folgen wollten, mich an die bekannte Umgebung zu gewöhnen. Es war hier nicht kälter oder wärmer. Dennoch lief mir ein kurzer Schauer über den Rücken. Keiner von der angenehmen Sorte, aber auch keiner, den die Angst manchmal mit sich brachte. Die Farben fehlten und mit ihnen so viel anderes, Emotionen, Erinnerungen… Vielleicht tat ich mich deshalb so schwer damit. Dennoch war ich zu oft und zu lange hier, als dass es mich gewundert hätte. Es dauerte einen Augenblick, bis die Stimmen und damit die Fragen der jüngeren Geschwister an meine Ohren drangen. Ich war zum einen froh, dass die kleine Schwester geblieben war, um zu wachen. Ich hätte zu sehr auf sie und ihr Empfinden hier geachtet. Zum anderen, stand ich nun alleine, erklärte und beantwortete und bewegte mich nur langsam voran. Hier und dort hob sich meine Hand, machten die Finger Anstalten, die kargen, farblosen Bäume zu berühren, ließen es aber am Ende doch und hielten einen kleinen Abstand.
Es brauchte nur einen Ruf. Vielleicht nicht einmal den, als die kühle Stimme an mein Ohr drang – und an die Ohren der anderen.
Ich bin geneigt, dich diesmal zu behalten.
Ich bin nicht gekommen, um zu bleiben, Wächterin.
Was... kannst du mir geben, was ich mir nicht nehmen könnte... Mairi, Kind.

Meine Antwort war ehrlich. Ein schlichtes Wort. Nichts. Und so reichte ich ihr mein Geschenk. Das Symbol ihres Daseins. Das, was sie immerdar wahrte. Und sie gewährte uns eine Stunde. Mir. Aber ihre Bedingungen waren kein Spaß. Würde ich versagen, würden meine Geschwister mit gefangen sein.

Es dauerte nicht lange, bis Newenars Stimme oder vielmehr seine aufgeregte Vorfreude an mein Ohr drang. Wenn man seine Gestalt sah, vermutete man nicht die gespielten, wiederholten Worte, die Fragen, die Neugier. Er war einer von vielen. Und doch war er der eine, der mein Paktbruder war. Mit dem ich verhandelt hatte. Vielleicht war er auch viele. Seinen Worten nach zu urteilen ganz bestimmt sogar. Und so brach ich den zweiten Gegenstand, der mir blieb, entzweite den Spiegel. Die kindliche Freude Newenars dabei im Blick, Vorfreude auf die Jagd, auf das Sehen. Auch wenn sie im Grau bleiben wollten, sich hier wohl fühlten. Ich würde sie mitnehmen, nur einen Teil, damit sie beobachten konnten. Aufspüren. Jagen. Reißen. Sie erhielten den einen Teil der glänzenden Spiegelscherbe, umschlossen ihn in freudiger Erwartung. Und dann umfingen seine Arme mich, nicht bedrohlich oder schmerzend, beinahe liebevoll, als er mir auftrug, meine Geschwister fort zu schicken. Es sträubte sich in mir, alles daran schien falsch und doch war mir bewusst, dass ich keine Wahl hatte, als ich es tat und die vertrauten Roben der anderen Welt verschwanden und kurz nach ihnen das Wesen, das mich eben noch in seinem vorsichtigen Griff hielt.
Wir werden sehen und suchen, Spiegelmaid.

Statt der vielen Arme Newenars legte sich nun nur die kalte, dünne Hand der Weißen auf meiner Schulter ab. Mir war bewusst, dass ich mich ihr nicht entziehen konnte. Vermutlich wäre ich auch gar nicht fähig dazu, erst recht nicht, als der knochenkalte Frost sich langsam in meiner rechten Seite ausbreitete und mit ihm die Angst, aber auch das lange vermisste und vor Monaten abgegebene Gefühl der bekannten Macht, die mit der Kälte in mich kroch. Und dann blieb mir nur, der kühlen, klaren Stimme, deren Worte wie Eis schnitten, zu lauschen und dem klirrend kalten Gefühl nachzugeben.

Dass du hier noch so leicht ein und ausgehst aber, Mairi, ist einem einzigen Umstand geschuldet: Ich mag die Alben nicht. Meines Feindes Feind, nicht wahr? Und doch wirst du sie so nicht schlagen können. So gebe ich dir das, was du zuletzt hiergelassen hast, zurück, denn das wirst du brauchen.

Zum ersten Mal entspannte ich mich etwas. Nur wenig. Es wäre dumm, es ganz zu tun. Und so stand ich ruhig, mit ernster Miene, das Unbehagen in den Knochen unterdrückend. Ein Gefühl von weichender Anspannung, das nicht lange währte, als die eisigen Fingerspitzen meine Wange hoch wanderten. Die Zuwendung an sich hätte man als Beobachter vielleicht sogar als liebevoll ansehen können. Vielleicht. Sie war es nicht.
Weißt du, warum ich sie nicht selber jage? Weil sie Wesen der Gefühle sind, Mairi. Weil sie schwarz, grau, weiß gegen grelle Farben getauscht haben. Die Sicht deiner Gefühle. Du hast sie, du fühlt sie und siehst doch am liebsten mit...
Sie beendete den Satz nicht. Ließ ihn offen und mit ihm die Rätsel, die sie voran gestellt hatte.
Sanfte Heimreise, Mairi. Lerne... Lerne die Sicht aus einem anderen Licht.



Gerimor
Searum/Goldblatt 265

Erst als ich zurück gezogen wurde, unsanft, schwindelerregend und den kalten Stein der Grabkammer unter meinen Knien und Händen spürte, setzte langsam die Erkenntnis ein. Ihre Worte waren nie leere Floskeln. Würden sie nie sein. Die Spiegelscherbe entglitt meinen Fingern und ich blinzelte, versuchte, die Schwärze zu durchdringen. Für einen kurzen Moment dachte ich, es würde mir gelingen, als sich in die beängstigende Dunkelheit Grau mischte, Schatten und Schemen frei gab. Es sollte heller werden, Farben sich in das Grau mischen, Gesichter, Linien. Sollte. Panik schlich sich in meinen Geist und meinen Körper, als mein Blick bei den vagen Umrissen, Schatten und Schemen blieb, als habe das Zwielicht Einzug gehalten. Und doch stahl sich etwas anderes, seltsam klar hinter das Grau. Ich haderte, der stechende Schmerz in meinem Kopf wollte mich nicht dazu kommen lassen, meinen ersten Gedanken zu Ende zu denken, als ich hinter den Schemen der Geschwister das graublaulila Schimmern eines jeden Einzelnen dort erkannte, wie ein Nachbild einer Blendung auf der Netzhaut.

Die Panik aber ließ ich erst in meinen eigenen vier Wänden zu, ließ die Fassung aus meinen Händen gleiten und mir war kalt, so unendlich kalt. Selbst das Herdfeuer, das sonst die Küche wärmte, schien nicht zu reichen. Manche Berührungen brannten einfach noch zu lange nach und die, die ich gerade spürte war nicht das angenehme, ersehnte Brennen, sondern unangenehm, kalt, hervorgerufen durch Eis. Die Beruhigung, die ich mir nach einer Weile selbst wieder auferlegt hatte, fiel den Tränen aber doch wieder zum Opfer, als das klackende Geräusch des Türschlosses die nächste Erkenntnis mit sich brachte. Ich hatte lange, Jahre sogar, vermieden, dass mich jemand so sah, doch für den Moment gab ich einfach auf, das Bröckeln meiner Maske zu unterbinden und ließ sie fallen in der kurzen, unverbindlichen Sicherheit, die die ersehnte Wärme mit sich brachte. Mit der Wärme kam auch die Schwere des Vertrauens, die gegen die leisen Zweifel nach dem Wie siegen wollte. Es kam die Aufruhr, die dann doch der Ruhe zum Opfer fiel. Und am Ende die Erschöpfung, die alle zweifelnden Worte meiner eigenen Stimme erstickte.

Es war kein unruhiger, beängstigender Traum, der mich am nächsten Morgen weckte. Das taten sie allgemein nicht mehr jede Nacht. Es war vielmehr das Bild von mir selbst, in undurchdringliche Schwärze gehüllt, die zäh um mich lag. Ich wusste, wenn ich meine Hand ausstreckte, in der Hoffnung, dass sie zum wiederholten Male ergriffen wurde, dass ich mehr geben musste. Man bekommt nichts geschenkt.

Ich wollte mich nur abstützen, mir selbst etwas Sicherheit geben, als ich die neue Erfahrung das erste Mal ganz bewusst alleine testete. Statt nur das raue Holz des Tisches unter meinen Fingern zu fühlen, war da aber noch etwas anderes. Weicher, feiner Stoff. Seide vielleicht. Ich hatte nichts dort abgelegt, nicht, dass ich mich daran erinnern könnte zumindest und tastete vorsichtig den weichen Stoff des Bandes. Wir hatten darüber gesprochen. Die Worte der angenehmen Stimme alle sehr deutlich in meinen Ohren. Viele davon lagen schwer, bewegten sich kaum und noch weniger, je mehr ich versuchte, sie beiseite zu schieben. Die Sicht deiner Gefühle. Du hast sie, du fühlst sie und siehst doch am liebsten mit... die Kälte verdrängte einen Moment das tiefe Timbre, das doch wieder aufbegehrte Als würde dein Gefühl dir eines sagen, dein Kopf etwas anderes… Sie hatten beide Recht.
Ich hatte mich selbst in einen Käfig gesperrt. Hatte die Festung um mich errichtet, deren Mauern hoch und schwer zu durchdringen waren und in der ein unmögliches Chaos tobte. Aus Fragen, aus Gefühlen, aus Gegenwehr und Achtsamkeit, vor allem aber aus einem Kampf mit mir selbst. Ich hatte mich so fest eingeschlossen, dass mir drohte, die Luft auszugehen und ich zu ersticken.
Trage meinetwegen zwei Masken übereinander, eine für die Welt und eine für deine Geschwister. Aber werde zu keiner.
Werde zu keiner.


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 06 Okt 2022 23:50, insgesamt 2-mal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 27 Okt 2022 22:17    Titel:
Antworten mit Zitat

You may have to fight a battle more than once to win it.


Gerimor
Goldblatt 265


Es waren nur wenige Wochen vergangen. Wochen, in denen ich mich der Tarnung wegen selbst noch mehr eingeschränkt hatte, als die Wächterin es für mich getan hat. Ich trug die Augenbinde länger als nötig, aber stellte fest, dass es auch eine willkommene Erleichterung war, vor allem, wenn ich unter vielen Menschen war. Nur die Schattierungen von Grau in der Morgendämmerung zu sehen, war anstrengend genug. Wie oft ich meine Augen zusammenkniff, in dem Versuch, mehr zu erkennen, konnte ich nicht mehr zählen, aber ich gewöhnte mich viel zu schnell daran. Mir fehlten Farben und manchmal fragte ich einfach nach, damit mein Kopf sich selbst die Bilder malen konnte, in anderen Nuancen als Schwarz, Weiß und Grau.

Was viel anstrengender war, war die andere Sicht. Dieses Bild der feinen Lichtlein, die sich über das Grau legten. Es war in Ordnung, solange es Unberührte waren. Solange ihre Seelen niemandem gehörten. Es war beinahe schmerzhaft, wenn es meinesgleichen waren. Oder die Templer. Oder alle anderen, wobei ich dem noch versuchte, aus dem Weg zu gehen. Dann waren da noch die kleine Schwester mit ihrem unbeständigen Nebelflackern und Ravena mit ihrem blutverschmiertem Leuchten. Zumindest bei der zweiten wusste ich, woher es kam. Aber hatte keine Lösung dafür. Bei der ersten sollte ich es dringend herausfinden. Es konnte nicht daran liegen, dass Er seine Finger im Spiel hatte. Der Bruder sah auch nicht anders aus, als alle anderen. Irgendetwas störte ihr Leuchten, wenn ich mir auch unsicher war, ob stören das richtige Wort dafür war. Vielleicht war ändern der bessere Ausdruck. Was noch nahezu unerträglich war, war das Wirken selbst. Ich sah alles. Nicht in dieser vagen Wahrnehmung, die uns sonst leitete, nicht in der verschleierten Welt, in die wir wagten einzudringen. Ich sah. Wortwörtlich. An mein eigenes klerikales Bild hatte ich mich mittlerweile gewöhnt, schließlich konnte ich mich dem ständig aussetzen und probieren. An die anderen weniger, auch wenn die Bilder seltsam vertraut waren. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie es aussehen musste, einem Ritual der Priester zuzusehen. Allein der Gedanke versetzte mir einen schmerzhaften Stich im Kopf. Doch dann war da noch der Gestaltlose, den wir nur hörten und fühlten. Bis jetzt. Ich glaubte, dass ich zusammengezuckt war, als ich das kleine dunkle Licht aufflammen sah. Angriffslustig, zumindest für einen Augenblick zum Sprung bereit, als er auch schon wieder verschwind. Nagel, vermutlich. Zumindest hier war die Gewissheit sicher, dass ich ihn bald wiedersehen würde und das nächste Mal besser vorbereitet war.

Trotz aller Anstrengung, trotz des Gewöhnens an die zweite Sicht durfte ich meine eigentliche Aufgabe nicht aus den Augen verlieren. Ich hatte ein Versprechen gegeben, war einen Pakt eingegangen und wollte die Geduld Newenars nicht überstrapazieren. Er… sie waren in heller Vorfreude und es dauerte, vielleicht nicht für ihren, aber für meinen Geschmack schon wieder viel zu lange. Schließlich war es auch mein Fortschritt. Es machte nur keinen Sinn, die Klinge schmieden zu lassen, wenn die Geschwister ihrem eigenen Wachsen nachhingen und ich nicht los konnte, ohne mein Dasein in Rahal zu gefährden. Es würde sich eine Lösung finden. Im Zweifel musste ich um Hilfe bitten und einen kleinen Teil meiner Pakterfüllung in die Hände der Geschwister legen. Wenn es mir besser ging. Wenn ich bereit war. Und vor allem, wenn ich meine Gedanken wieder ordnen und klarer fassen konnte als in den letzten Tagen ohne viel Schlaf und Ruhe.

Ich hatte den Mohnsaft noch nicht angerührt, vielleicht aus Vorsicht, vielleicht aus Selbstbestrafung oder weil ich schlicht nicht verpassen wollte, wenn doch etwas passierte, was ich nur für wenig möglich hielt. So nahm ich den unruhigen, traumbehafteten Schlaf, der mir aber keine Erholung brachte oder nur wenig. Ich träumte von Micah, von Siebenwacht, von der Hafenbucht. Wachte auf von brennenden Schnitten auf meinem Rücken oder zu kalten Armen, die um mich herum lagen. Vom Geschmack von bitterer Schokolade, der damals Glück bedeutete und heute nichts Gutes mehr. Von grau-blauen Augen, die zusichernd zuzwinkerten. Von Sturmgrau, das mich lesen konnte, wie niemand anderes.
Es war kaum noch zu ertragen, hier zu sitzen und nichts zu tun. Also machte ich mich auf den einzigen Weg, den ich im Moment antreten wollte. Auch mit der Befürchtung, nicht zu finden, was ich suchte. Schon eigenartig, wie menschliche Gedanken und Ängste funktionierten. Noch vor wenigen Wochen stand ich in einer anderen Welt und hatte keine Angst. Respekt, ja. Bewusstsein für die Gefahr. Aber Furcht? Nein. Nicht als Newenar seine vielen Arme um mich geschlossen hatte, nicht, als die Wächterin ihre vermeintlichen Zärtlichkeiten austauschte. Anspannung war alles, an das ich mich erinnern konnte und doch ging ich jetzt mit langsamen Schritten, meine Knie weich, bis ich mein Ziel erreichte.
Ich schloss die Augen. Und mit einem Mal stand ich wieder mitten auf einem Feld, umgeben vom unberührten, schimmernden und blendenden Weiß, das der Winter zurückgelassen hatte. Ich stand mittendrin, um mich herum nichts als stilles Glitzern. Man hätte es schön finden können, wenn es zum einen nicht so verdammt blenden würde. Und wenn meine Umgebung nicht frei von jeglicher Spur wäre. Ich hasste es. Jede Faser meines Daseins sträubte sich, mich zu bewegen, einen Schritt zu setzen und das leise Geräusch der knirschenden, brechenden Kristalle hervorzurufen. Ich erstarrte, war gelähmt von mir selbst.
Als ich die Augen wieder öffnete, war da kein Schnee. Kein Feld von unberührtem Weiß. Nur das Gefühl der lähmenden Hilflosigkeit blieb. Ich konnte die schweren Kisten nicht klar sehen, konnte nur ihre Konturen ausmachen, mehr mit den Fingern als mit meinen Augen. Ich wusste, dass es nichts nützen würde, sie zu verschieben, den Weg frei zu räumen. Warum auch. Es war mir klar, dass ich dahinter nicht finden würde, wen ich suchte und wollte.
Ich musste vertrauen, auch wenn ich schon dabei war, alles in Frage zu stellen, vor allem mich selbst. Wie immer. Ich musste. Es reichte einfach nicht mehr, die Hand in der Dunkelheit auszustrecken und vorsichtige, kleine Schritte auf Zehenspitzen zu machen, in der vagen Hoffnung, die vertrauten, warmen Finger würden sich um meine legen. Das Bild war schon beinahe Ironie. Wenn jemand sich in der Dunkelheit aus Schwarz und Grau auskennen sollte, sollte dann nicht ich es sein? Es war an der Zeit, dass ich diejenige war, die nach der anderen Hand griff, sie suchte und festhielt. Gebrannte Kinder scheuten das Feuer, ja. Doch auch, wenn ich mir tausendmal die Finger verbrannte, war ich nicht bereit, diese Hand loszulassen.


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 27 Okt 2022 22:27, insgesamt 3-mal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 21 Jan 2023 18:51    Titel:
Antworten mit Zitat

Dreams are a funny thing. One little twist, and it all turns dark.


Gerimor
Rabenmond 265

Oh, wie gerne hätte ich den alten Freund angeschrien. Für all die Worte, wie in Ordnung es für mich war, zu fühlen, weil es mich ausmachte. Für all die Lehren und Lektionen. Weil ich wusste, dass er im Recht war. Weil ich die Leere, so verlockend sie manches Mal war, niemals haben wollen würde. Trotzdem blieb die Wut. Wut auf ihn. Auf seine Worte. Wut auf die Geschwister. Auf die Herolde. Ich hasste Kontrolllosigkeit und diese Situation war der Inbegriff dessen.

Ich konnte nicht mehr machen, als den Schutz um uns zu ziehen, musste die Kontrolle schon wieder aus den Händen geben und ich tat es alles andere als freiwillig. Wie sollte ich sonst schützen, wenn ich selbst nicht geschützt war. Ich hinterfragte nicht mehr, ob Er es gut hieß. Das hatte ich aufgegeben, als mich seine Schwingen aus dem kalten, dunklen Wasser nach hause schickten, ehe mich seine ewige Dunkelheit umfangen konnte. Ohnehin würde Er es mich wissen lassen, wenn ich zu weit ging in meiner Menschlichkeit. Trotzdem fand ich keinen Weg, noch nicht. Ich konnte nicht einschreiten, konnte nicht heimlich den unsichtbaren Mantel meines Schutzes um die wenigen Schultern legen, die es in meinen Augen wert waren. Es blieb nur, zu warten. Ich wusste, es würde vorbei gehen und ein Ende finden. Und ich wusste, es wäre keines, das mir nehmen würde, was ich gerade gewonnen hatte. Vertrauen war ein alter Freund und Betrüger, lange verloren und doch wiedergefunden, auch wenn der abgestandene Geschmack des Bruches mir noch frisch auf der Zunge lag. Hier galt es jedoch nicht, das fragile Gut in die Hände anderer zu legen, sondern schlicht mit meinen zu umfassen und sicher zu halten. Schon wieder.
Ängste waren mir nicht fremd. Albträume ein stetiger Begleiter, auch wenn sie in den letzten Monden mehr in den Hintergrund gerückt waren, nicht mehr jede Nacht den leichten Schlaf zerfetzten, um sich an die Oberfläche zu kämpfen. Selbst in den Stunden, in denen nicht die Erschöpfung überhand nahm und mich in die traumlose, erholsame Dunkelheit entkommen ließen oder die Zeit, in denen nicht die neu gefundene Wärme die kühlen Glieder umfing, wurden sie dumpfer. Es waren ohnehin seit vielen Jahren, seitdem die Flammen das Gebälk zum bersten gebracht hatten, seitdem das Symbol der heiligen Heilerin in Feuer gestanden hatte und die vier ausgebluteten Körper verschluckt hatte, nicht mehr die Art von Träumen, die mich hoch schrecken ließen, mit dem seichten Film kalter Angst auf der Haut. In den meisten Nächten, in denen die Erinnerungen durchsickerte, war es die unangenehme Unruhe, die eigenen Worte, die mich wach werden ließen. Trotzdem war mir nur allzu bewusst, dass ein einzelner Satz, eine gewisse Stimmlage oder ein Griff den Schrecken wieder heraufbeschwören konnten. Es gab Dinge, die vergaß man im Handumdrehen. Und dann gab es jene, an die man sich für immer erinnern würde. Der Geschmack von Bitterschokolade. Grau-blaue Augen von Tränen verschleiert und von Schmerz und Angst durchzogen. Hilflosigkeit in einem Griff, der so viel stärker war als ich es je sein würde. Schwielige Finger, die sich zu fest in meinen Kiefer drückten, um meinen Blick dort zu halten, wo er nichts verloren hatte. Heute würde ich mich wehren. Heute konnte ich mich wehren und ich wusste, dass ich es nie wieder sehen musste. Hoffentlich.

Sie nährten sich davon. Labten sich daran. Ich hatte die Auswirkungen gesehen. Hatte den Erzählungen der wenigen anderen gelauscht. Vielleicht konnte ich ein kleines Stück der eingebildeten Kontrolle wiedererlangen, nur ein winziger Fetzen, vielleicht konnte ich es lenken oder locken, weit genug. Ich wusste nur noch nicht, wohin. Zu einem lohnenderen Ziel, das sich noch finden lassen musste, das stand fest. Und doch ließen die Worte der kleinen Schwester meine finstere Stimmung etwas verfliegen. Meine Nähe reichte aus. Ein Echo meiner Kraft würde ausreichen. Ich tappte immerhin nicht mehr im Dunkeln, wusste, was ich zu tun hatte für den Moment und gleichzeitig wusste ich, dass es nicht ohne Erklärung ginge.


Mein Plan war nicht perfekt, aber er musste reichen, für jetzt, also versuchte ich es. Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn ich es nicht wenigstens probiert hätte. Doch zunächst erklärte ich, legte Geheimnisse offen, die ich seit Jahren nicht ausgesprochen hatte und eigentlich nicht vor hatte, jemals wieder zu offenbaren. Es gab einfach keinen Grund dazu. Vielleicht gab es den noch immer nicht und ich fragte mich mehrmals, warum ich diesen Weg gehen wollte, analysierte und nahm auseinander. Auch wenn ich die Antwort insgeheim kannte, traute ich mich nicht einmal, sie zu denken, geschweige denn auszusprechen.
Es ändert nichts... nicht für mich.

Natürlich ging mein Vorhaben nicht auf. Und auch wenn ich drängen und schimpfen und schreien wollte, tat ich es nicht. Es musste nicht schwerer werden, als es ohnehin manchmal war. Aber die kleine Schwester hatte mir eine andere Möglichkeit offenbart. Wenn mein Schutz nicht reichte, musste ich eben dafür sorgen, dass er gar nicht erst gebraucht würde. Es kostete mich ein paar Tage und ich mochte die Abwesenheit in dieser Zeit nicht, aber es musste sein. Wie so oft. Und so lockte ich sie woanders hin, zog sie fort von dem Ort, an dem ein Stück meiner alten Heimat weilte. Wenn sie Angst wollten, sollten sie sie woanders suchen. Und finden. Nur für ein paar Tage, dann würde es vorbei sein. Die kleine Schwester hatte es versprochen und ich hoffte.


Traumwelt
Rabenmond 265

Mein Schädel dröhnte schon, bevor ich dem Schrei der kleinen Schwester folgte und über die von ihr hinterlassene Leiter in eine neue Welt eintrat. Es wunderte mich kaum noch, auch der Anblick nicht. Vielleicht hätte es mich mehr fasziniert ohne die Schmerzen und wenn ich die Farben und Formen hätte klar sehen können. So ähnelte sie einfach der Geisterwelt, die ich besser kannte, als ich es wollte. Grau in Grau in Traumnebelschlieren. Was nicht im Schwarz-Weiß-Mischton lag war allerdings die Wand, die sich vor mir und den Geschwistern auftürmte. Eine Barriere, die uns den Weg abschnitt. Die Reaktion der anderen verriet mir, dass nur ich sie wahrnahm, ein weiterer schriller Schmerz, der sich zu dem Dröhnen in meinem Kopf gesellte. Ganz kurz fragte ich mich, wie lange es dauern würde, bis ich mich endlich an diese Sicht gewöhnte. Es war eine der Fragen, die ich abgelegt hatte, nicht mehr darüber nachdenken wollte. Manchmal gab es keine Erklärungen oder Antworten. Das lernte ich in den letzten Monaten immer wieder. Manchmal brauchte man auch keine. Das hatte er mir beigebracht.
Sie waren keine wirklichen Wände. Sie waren Barrieren aus Angst. Die Erkenntnis kam viel zu schnell und ich fragte mich insgeheim, ob es noch normal war, dass solche Schlüsse so schnell fielen. Ohne großes Nachdenken. Jede Wand war eine alte Erinnerung der Geschwister, jede Barriere ein Wall aus Hilflosigkeit, Schmerz. Sie hatten schnell verstanden, sich gegenseitig zu schützen. Berührungen halfen. Ruhige Worte. Die Zusicherung, dass es nur eine Täuschung war, keine Wirklichkeit. Ich nutzte die Worte, die mir selbst vor ein paar Tagen zugeflüstert wurden. Aber alles ist einfacher, wenn man nicht selbst betroffen war. Ich war nicht vorbereitet, ich hatte schlicht vergessen, mich selbst zu wappnen gegen das, was mich treffen könnte. Wie immer gab ich anderen Vorrang vor mir selbst. Wie so oft, sorgte ich mich weniger um mich, als um diejenigen um mich herum. Und es traf mit voller Wucht und ohne meine eigene Vorahnung. Ich wusste schon beim ersten Geräusch, das an meine Ohren drang, ein leises Weinen, von wem es stammte. Ich hatte es hunderte Male gehört – in der hellen Stimme des Jungen, in der dunkleren des Heranwachsenden. Die Worte lähmten mich und ich stand nicht mehr in der Traumwelt vor der Barriere aus Angst und Schmerz aus meiner Erinnerung. Ich stand in Siebenwacht, fühlte den alten Holzboden unter den nackten Füßen, spürte die Finger sich zu stark in mein Kinn drücken. Es hätte mich wachrütteln sollen, dass die Welt plötzlich wieder Farbe hatte, doch ich konnte mich nicht bewegen. Oder klar denken. Wie oft hatte ich diese Szene durchlebt, ich wusste es nicht. Wie oft ich sie in meinen Albträumen gesehen hatte, noch weniger. Micahs Stimme war zu klar, zu deutlich, die Worte schnitten mich wie eine Klinge aus Eis.
Sie... ist noch so klein, sie träumt schlecht... sie...
Ich hatte die Geschwister um mich herum vergessen, nahm die Berührung wahr, aber nicht mehr, von wem sie kam. Ich schüttelte sie ab, es war zu einfach. Es war nicht mehr die Hand meines Bruders, es waren die Finger des Aufpassers, der mein Kinn umklammert hielt, meinen Blick lenkte. Er wusste es nicht besser, als er sich in mein Blickfeld stellte, wollte mich nur zurück holen aus meiner ganz eigenen Angst.
Sie... ist noch so klein…
Doch ich war nicht mehr das kleine Mädchen, das in verdreckten Sachen dort stand und zusehen musste, wie ihrem Freund weh getan wurde. Ich war nicht mehr hilflos und musste keine Angst haben. Stattdessen machte sich Wut in mir breit und ich ließ einfach los. Dass mein Ziel das falsche war, wurde mir erst viel später bewusst. In dem Augenblick, in diesem einen Moment mit Micahs Stimme in meinem Ohr, mit dem Gefühl der schwieligen Finger an meinem Gesicht, war es nicht einer meiner Wegbegleiter. Immerhin schützten sie sich gegenseitig. Wie Geschwister es tun sollten.

Danach funktionierte ich nur noch. Tat das, was mir logisch erschien, um Morra aus ihrem Käfig zu holen und zurückzukehren. Mit allen Geschwistern. Unversehrt. Unverletzt. Gestärkt. Doch manche Wunden sah man schlichtweg nicht. Ihr Seelenschimmer hatte sich verändert. Eine kleine Sorge mehr, die ich irgendwo einzuordnen versuchte. Ich fragte mich, ob das auch in der Absicht der Wächterin lag, mir diese Dinge zu offenbaren. Ich traute ihr keine Versehen zu, dennoch blieb die Frage, was ich alleine daraus zusammenreimen sollte. War es ein Stück des Rätsels, das sie mir aufgetragen hatte?

Gerimor
Rabenmond 265

Die Bilder hafteten an mir, wollten nicht loslassen. Selbst die ersehnte Erschöpfung vertrieb sie nicht ganz. Und so vermied ich, so gut es ging, zu schlafen. Beschränkte mich auf das, was ein Mensch so brauchte an einem Mindestmaß an Ruhe, die mir keine Erholung mehr brachte. Aber es war nicht an der Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Ich schob es beiseite. Wenn ich es Jahre ausgehalten hatte, warum nicht noch etwas länger. Es würde schon gehen. Und im Moment gab es wichtigeres. Im Moment sah ich zu viel Schmerz um mich herum, den ich beinahe noch weniger ertrug, als meinen eigenen. Nach dem Grund traute ich mich schon gar nicht mehr zu fragen. Dafür war hinterher Zeit. Hoffentlich. Wie schön es doch war, wenn man sich nicht mit sich selbst beschäftigen musste und Sorgen vorschieben konnte, um nicht über sich selbst zu reden. Wie schwer es doch war.
Die Ablehnung schnitt tief, hinterließ Spuren, die ich erst einmal zu verdecken versuchte, solange bis ich bereit war, mich mit meinen Dämonen auseinanderzusetzen. In der hilflosen, stillen Verzweiflung der albtraumbehafteten Unruhe, fragte ich mich sogar, ob es sinnvoll wäre, zurückzukehren, um mit eigenen Augen zu sehen, was ich eigentlich wusste und so meine eigene Gedanken zu überlisten. Ich entschied mich letztlich dagegen, wollte keine Wunden aufreißen, an die ich vielleicht schon gar nicht mehr dachte.
Es wird wieder besser.


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 28 Jan 2023 17:23, insgesamt einmal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 29 Jan 2023 20:05    Titel:
Antworten mit Zitat

Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.


Gerimor
Alatner 265

Die Schemen waren verschwunden nach unserer Rückkehr. Mit ihnen die lebendig geworden Albträume, die traumatischen Erinnerungen. Ich hätte ohnehin keine Ruhe gegeben, zumindest nicht bis die wenigen Menschen, die ich noch schützen wollte, von ihnen verschont waren. Welchen Preis die kleine Schwester dafür gezahlt hatte, sah ich recht deutlich in meiner Welt aus Grau. Vielleicht sollte ich es ihr sagen.
Was blieb waren meine ganz eigenen Nachtmahre. Lebendiger, als viele Monde davor, lauter. Es waren nicht mehr meine eigenen Worte, die mich aus dem Schlaf rissen, wie sonst, sondern die Stimme des Jungen, des Jugendlichen, des Freundes, des ersten Vertrauten. Trotzdem rührte ich den Mohnsaft nicht an, vorerst. Ich wollte mir die Betäubung gerade nicht leisten, wollte meine Gedanken nicht benebeln. Anfangs dachte ich, es läge an mir. So wie ich es immer tat. Ich zerdachte jeden kleinen Schritt und jedes kleine Wort, das ich gesagt hatte, aber abgesehen von meinem Unvermögen, klare Worte zu finden, bekam ich nicht zu greifen, was die Ablehnung hervor rief.
Du hast mich gesehen. Ich lebe, also verschwinde.
Es war ein langsamer und tiefer Schnitt. Trotzdem gab es nur eine Antwort für mich. Vielleicht würde manch einer es Dummheit nennen, jemand, der mich kannte, vermutlich eher Sturheit. Aber ich verschwand nicht, kam der Aufforderung nicht nach. Nicht, weil ich mich nicht abwenden und gehen konnte. Sondern weil ich es nicht wollte. Und so ließ ich alle Ablehnung scheinbar an mir abprallen, baute kleine Wände auf, wo ich es für nötig hielt, auch wenn ich so gut wie schutzlos war. Erst, als die ruhige Bewusstlosigkeit die leisen Worte der Erinnerung verklingen ließ, erlaubte ich mir selbst, zurück zu denken an den einen Menschen, der alles für mich gewesen war. Lange, bevor ich Gerimor das erste Mal betrat, lange bevor die Rabenschwingen mich umfangen und mir die Hilflosigkeit genommen hatten.
Ich pass auf dich auf.
Heute waren die Worte wahr und ich wünschte, ich hätte sie damals sagen können.


Siebenwacht
Wechselwind 251

Der Geschmack der bitteren Schokolade lag noch auf der Zunge des Mädchens, das im Schneidersitz auf dem Lager aus mit Stroh gefüllten Jutesäcken saß. Die Mundwinkel waren zu einem Grinsen gehoben, während sie beobachtete, wie der Freund, der nur wenige Jahre älter war als sie selbst, versuchte, die Tür des alten, halb zerfallenen Schrankes wieder in die Angeln zu hängen. Er hatte verboten, zu helfen, weil sie sich ja doch nur Splitter einfangen würde. Oder schlimmeres. Außerdem war sie eh viel zu klein. Und zu schmächtig. Manchmal ärgerte sie sich darüber, wenn er so etwas sagte oder andeutete. Aber an manchen Tagen, so wie an jenem, schaute sie ihm dann einfach mit einem wissenden Schmunzeln zu, wie er sich allein abmühte, bis sie ihm dann doch mit einem triumphierenden Ausdruck helfen konnte und sich trotzdem Splitter einfing. Die letzten Wochen waren ruhig. Zu ruhig vielleicht. Der alte Fette hatte sich das Bein gebrochen und war nicht hier. Die Narbe auf ihrem Rücken zog noch vom letzten Mal, aber sie hatte endlich Zeit, zu heilen. Und Micah… er ließ sich seinen Schmerz ohnehin nicht anmerken. Nicht, wenn er wusste, dass der Bernsteinblick auf ihm lag und sich die Stirn des Mädchens doch in Sorgenfalten zog.
Micah? Es war nur ein Gedanke, der ganz plötzlich wieder aufkeimte, wie immer mal in den letzten Jahren. Bei ihrer Tonlage zogen sich die Brauen des Vierzehnjährigen doch etwas zusammen, als die Blicke sich fanden. Können wir… nicht einfach weglaufen? Die Arme schlossen sich etwas zu fest um den zierlichen Körper, das Kinn legte sich auf dem Schopf ab, als ein tiefer Atemzug folgte. Er dachte noch, dass sie viel zu klein ist für ihr Alter und es verging ein Moment, bis die Antwort folgte. Und wo willst du hin? In die alte Hafenkante? Du weißt… du kennst die Geschichten. Er merkte, wie sich der Körper anspannte und seufzte leise, der Blick der regengrauen Augen haftete sich irgendwo auf die Wand in ihrem Rücken. Es wird nicht mehr so schlimm, hm? Und was sollen die anderen denn ohne uns machen? Er spürte, wie sie an seiner Brust nickte. Sie würde sich in den nächsten Jahren oft fragen, warum er nicht gehen wollte, warum sie ihn nicht einfach mehr gedrängt hatte. Die Gelegenheit, ihr die Wahrheit zu erzählen, würde sich nie ergeben.

Sie gewöhnte sich an die Ruhe der letzten Wochen. Es war das erste Mal, dass sie nicht auf Zehenspitzen herumschleichen mussten, um bloß nicht die brutale Grausamkeit auszulösen, auch wenn sie nicht einmal wussten, was sie hervorrief. Vielleicht gab es auch gar keinen Punkt, sondern es war einfach eine Laune. Einen Unterschied machte es ohnehin nicht. Seine Abwesenheit brachte mehr Leichtigkeit, mehr Ruhe. Das Schlimmste, was in den Wochen des Frühlings und herannahenden Sommers passierte, war, dass einer der Erzieher entschied, sie könnten das kleine Zimmer nicht mehr teilen. Er behauptete, Micah sei zu alt dafür. Sie verstand es nicht, nahm es nur widerwillig mit unterdrückten Tränen hin, die sich erst in der einsamen Dunkelheit ihren leisen Weg bahnen würden und sie war so wütend, dass ihr Freund es einfach hinzunehmen schien. Es dauerte nur wenige Stunden, bis sie wieder mit ihm redete und spätestens, als die Stufen zur heruntergekommenen Kammer am späten Abend knarzten, verflog der Ärger langsam wieder. Hör auf zu schmollen. Ich lass dich doch nicht allein.
Der Zorn traf sie bei der Rückkehr des Alten doppelt, als er Micah nicht in seinem Bett vorfand, sondern in der alten Kammer schlafend, mit den Armen fest um das Mädchen geschlossen.


Gerimor
Alatner 265

Es dauerte lange, zu lange, bis ich die Albträume wieder halbwegs abstreifen konnte und sie wieder zu dem stummen Begleiter wurden, der sie in den letzten Jahren waren. Und es war Mühe. Ich musste mich mit mir selbst beschäftigen und das schmeckte mir nicht. Aber es gab auch keinen Grund mehr, den ich vorschieben konnte und der Blick, der mich ohnehin durchschaute, lag wieder aufmerksamer auf mir. Anstatt nach Siebenwacht zurückzukehren, entschied ich mich für einen anderen Ort. Nicht so weit weg, dass ich nicht schnell zurück sein konnte, wenn ich es für angebracht hielt, aber doch so weit, dass ich nicht direkt wieder nach hause kehrte. Nur für ein paar Tage. Wenn ich schon zu kämpfen hatte mit mir selbst und meinen Erinnerungen, dann wollte ich wenigstens sicher gehen, dass ich meine willkommene Ablenkung nicht nur in der Erschöpfung fand, die mir manchmal vergönnt war und mich sonst ebenso schlaflos zurück ließ. Und, wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, rückte ich meine Aufgabe in den Vordergrund, um den Rest etwas auszublenden.
Lerne die Sicht aus einem anderen Licht.
Es war eigentlich ganz logisch. Wenn man sich im schemenhaften Grau verlor, musste man sich halt eigene Farben und Umrisse schaffen. Dass ich das im Alltag nicht konnte oder vielmehr wollte, war eine Sache. Schließlich konnte ich nicht um jeden, bei dem es mir grad in den Sinn kam, ein feines Netz aus Graulilablau legen. Zumal ich nicht gut darin war, daraus ein positives Gefühl hervor zu holen. Vielleicht war uns das einfach vergönnt und wir waren nicht dazu geschaffen, hatten nicht die Kraft ohne Weiteres unser Wirken so zu verändern, dass es nicht zerstörerisch war. Zumindest nicht, wenn ich sehen wollte. Also nutzte ich die Zeit der Abwesenheit, in der ich nicht durch meine eigene Schwäche abgelenkt war und testete die Grenzen meiner neuen Sicht immerhin soweit, wie ich es für die jetzigen Zwecke brauchte. Zumindest für eine Lösung, die meine Freizeit wieder etwas spannender gestalten würde.


Gerimor
Hartung 266

Es lag noch immer kein Schnee im ersten Jahr, in dem ich den friedlichen Anblick des schimmernden Weiß nicht vermissen würde. Nur den Anblick, denn das Gefühl, das über mich herein brach, wenn ich die unberührte Glitzerdecke mit einem zarten Knirschen durchbrach, war eines, das mir niemals fehlen würde. Auch die Erinnerung nicht an das unberührte Feld, in dessen Mitte ich stand und mich nicht bewegen konnte. Lustigerweise schien der Großteil der Menschen den Winter weniger zu mögen. Aus anderen Gründen sicherlich. Micah hatte Schnee geliebt. Er hatte immer gesagt Du kamst mit dem ersten Schnee, an den ich mich erinnere. Und hatte jedes Jahr bei den ersten Flocken, die fielen, ein kleines Fest daraus gemacht, mich mitten in der Nacht in viel zu große, abgetragene Kleidung zu stecken und auf die Straße zu zerren, um die feinen Kristalle im Gesicht zu spüren, wenn sie schon bei der ersten Berührung schmolzen und nur den winzigen Stich der Kälte hinterließen. Ja, ich hasste Schnee.
Als meine eigene Anspannung sich mehrte, war ich froh, dass es zumindest um mich herum ruhig war. Vielleicht zu ruhig und ich traute dem Frieden nicht ganz, beschloss aber, ihn hinzunehmen und ihn nicht zu zerdenken. Zumal meine Gedanken ohnehin in Aufruhr waren, als sich zwei Jahrestage näherten. Eigentlich hätte ich den einen davon als etwas Gutes empfinden können. Vermutlich sogar beide. Der aufkommende Tag, an dem ich mich vor Jahren im Tempel wiederfand, unwissend und doch mit Vorfreude, als ich wusste, was vor sich ging, ließ ein paar wenige Erinnerungen in mein Bewusstsein kriechen, auch wenn er mich nicht aus der Bahn werfen würde. Ich war gerade Neunzehn. Jung, unerfahren, gerade anderthalb Jahre auf meinem neuen Weg, der vor mir ausgelegt wurde. Neben all der Ungewissheit und Dunkelheit, den neuen Erfahrungen als Dienerin eines Gottes, bedeutete er Leichtigkeit. Es war einfach mit ihm zusammen zu sein, obwohl er um mein Dasein wusste. Er fragte nicht, was mich jetzt wiederum zurückließ mit dem Gedanken, ob er es aus falscher Vorsicht nicht tat oder weil er mehr Angst hatte, als er zugeben wollte, vor dem, was ich vielleicht offenbaren konnte. Es war einfach und bedeutete Wärme. Und er forderte nicht heraus, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Er ließ mich in meiner Verschlossenheit in Ruhe. Es war das Richtige zu der Zeit. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, war es das lange vor seinem Tod schon nicht mehr. Ich vergrub die Gedanken recht schnell wieder.
Ich war nun ein Jahr zurück. Ganz am Anfang, im Kreis der Geschwister, die mich zurück geholt hatten, zweifelte ich für einen Moment daran, ob das gut war. Ich hätte sie verurteilt, wenn sie alleine es gewesen wären. Erst die Beteiligung meines alten Vertrauen ließ mich nicht mehr darüber grübeln, ob ich noch mehr Zeit in der Welt der Torwächterin gebraucht hätte, die ich hätte nutzen können. Die Tage vergingen dort ohnehin anders. Ich könnte nicht einmal sagen, ob schneller oder langsamer. Das Gefühl für Zeit war das, was als erstes verloren ging, wenn man dort war. Ich haderte mehr mit den Erinnerungen, die ich dort zurück lassen musste. Es waren Namen. Manchmal Gesichter. Und sicher auch das ein oder andere Erlebnis, das meinem Gedächtnis entglitten war. Manchmal frage ich mich, warum immer die Sachen blieben, die besser weg wären. Vermutlich wusste darauf nur die Wächterin eine Antwort. Mittlerweile war ich froh, zurück zu sein. Es bedeutete aber auch, dass ein weiteres Jahr für meinen alten Freund vergangen war. Es wurde wirklich Zeit.
Dass meine Anspannung über die Jahrestage sich nicht in Spitzfindigkeit und Ablehnung ausdrückten, wunderte mich aber am meisten. Ich verspürte nicht einmal den kleinsten Impuls dazu, die Nähe von mir zu schieben oder den Fragen auszuweichen und misstraute mir selbst am meisten.

Ganz offenbar war der Hartung aber der Mondlauf der Rückkehr. Und ich begann langsam, ihn richtig scheiße zu finden. Qaram. Der Name rüttelte an mir und meiner Geduld.
Fürchtest du dich?
Ich musste kurz nachdenken über die Frage. Ich hatte keine Angst vor ihm. Nicht mehr, als ich es haben sollte zumindest. Aber ich war wütend. Qaram erinnerte mich an die Alben, auch wenn er ein ganz anderer Fall von alter Macht war, die sich mischte mit Dingen, gegen die ich wenig ausrichten konnte. Trotzdem blieb die Verbindung in meinen Gedanken. Und die Wut. Vielleicht hatten die Geschwister mehr Informationen. Auch wenn ich der Begegnung nur zu gerne aus dem Weg gehen wollte, wusste ich, dass ich es nicht tun würde. Im Gegenteil, ich würde sie vermutlich sogar herausfordern.
Der zweite Name forderte nicht so sehr meine Geduld und Wut, vielmehr schürte er Sorge, wobei es nicht der Name an sich war oder das Auftreten, sondern viel mehr die Reaktion, die darauf folgte. Sie ließ mich aufmerksam werden, vorsichtig. Immer, wenn ich gerade dachte, ich kannte ihn ein bisschen mehr, überraschte mich doch etwas, wie eben an jenem Abend. Ich wusste, dass er keine Hilfe brauchte oder wollte. Er brauchte keinen Schutz von mir. Trotzdem würde ich mit meinem gewohnten Misstrauen beobachten. Nicht aus dem Grund, der am naheliegendsten war. Es ändert nichts für mich. Aber er hatte auch ein ungewöhnliches Talent dafür, mir solche Sorgen einfach zu nehmen.
Nichts beeinflusst das hier.
Und ich hab nicht vor dich gehen zu lassen...

Zum ersten Mal seit langer Zeit steckten mir Worte im Hals, bei denen es mir schwer fiel, sie wieder herunter zu schlucken, sie nicht auszusprechen. Ich wagte mich ja kaum, sie zu denken, als die Erkenntnis langsam in mein Bewusstsein sickerte. Ich glaubte, dass er es ohnehin wusste, dass es ihm sowieso klar war mit seinem Blick, der wissend hinter alle Mauern und Fassaden blickte, die ich irgendwann einmal glaubte zu haben. Und doch schnürte mir die Angst die Kehle zu. Für heute musste es reichen, es zu zeigen, in der Form, die unser stilles Verständnis widerspiegelte. Für heute. Ganz kurz nur erinnerte ich mich an das leise, winzige Versprechen, das diese beiden Worte schon vor Monaten am kleinen Teich in sich trugen, ehe mein Verstand ganz abschweifen konnte und endlich die ersehnte Ruhe in die Gedanken einkehrte.


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 29 Jan 2023 22:35, insgesamt einmal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 08 März 2023 14:46    Titel:
Antworten mit Zitat

Wie oft sind es erst die Ruinen, die den Blick freigegeben auf den Himmel.


Gerimor
Hartung 266

Erleichterung machte sich breit, als es immer klarer wurde, dass nicht Qaram unser Problem wäre. Es waren einige, die seinen Namen ausgesprochen hatten und überzeugt waren. Es hätte mich nicht gewundert und es brauchte einige Tage der unterschwelligen Wut, bis jene in Trotz umschlug. Qaram war ein wunder Punkt. Schon alleine sein Name schaffte es, Unwohlsein auszulösen.
Um so erlöster war mein Atemzug, als sich herausstellte, dass er nichts damit zu tun hatte, dass wir nichts mit ihm zu tun haben müssten. Ob die neue Situation nun besser oder schlechter wäre, das wollte ich noch gar nicht beurteilen. Während die Geschwister lauschten, schaute ich. Ich hörte die gleichen Geräusche, wie sie, hörte das Rauschen und Flügelschlagen, spürte den leichten Luftzug, der über uns alle streifte. Und ich beobachtete. Wenngleich die Einschränkung meiner Sicht in der meisten Zeit ein Nachteil war, war sie hier ein Vorteil. Sie verlagerte sich auf den anderen Raum, die andere Ebene. Ich neigte das Haupt vor dem Bekannten, der uns außergewöhnlich oft zur Seite stand und fragte mich insgeheim, was der Preis dafür sein würde irgendwann. Das Angenehme war, dass ich ihn sehen konnte. Nicht in grauen Schemen, nicht in verschwommenen Umrissen. Ich musste unweigerlich schmunzeln, als er uns wieder ein Rätsel aufgab, oder viel mehr eine Aufgabe. Dieses Mal war es nicht die Ungewissheit, die durch seine Worte klang, als er aus seinem Buch vorlas. Wir würden die Boten sein, nicht mehr eingreifen, als wir es aufgetragen bekamen. Ganz gleich, wohin wir damit gehen mussten.
Vier sind es und vier werden benötigt. Vier Geschwister der Ewigkeit, die nur gemeinsam eine Einheit bilden und sich gegenseitig vervollständigen. Vier Heiligtümer, den Vieren jeweils zugeschrieben beherbergen vier Funken. Einen hoch in den Wolken voller Atem und Kälte sollen jene bergen, die diesen Auftrag bereits erhalten haben. Einen voller Flammen, Hitze, Sand und Sommer sollen jene bergen, die diesen Auftrag bereits zugesprochen bekamen. Einen versteckt zwischen Bäumen, Gras, Flora und Fauna sollen jene bergen, die eine Vision des Fuchses erlangten. Den Letzten, unter dunklen Fluten voller Kraft, sollen jene bergen, die angefangen haben zu träumen. Nur einen einzigen Zeitpunkt aber gibt es, um die Funken zu entsenden, die eine sterbende Göttin retten können. Zeitgleich an vier verschiedenen Orten, nach ihrer Heiligkeit auf Gerimor erwählt. Vier Merkmale werden genannt: Drei Läufe des silbernen Himmelslichts! Sechs Wechsel des goldenen Himmelslichts! Acht Läufe der Uhr, in die Dunkelheit hinein! Wenn der Mond den Himmel in roten Lebenssaft taucht! Nur zu dieser Zeit muss das Ritual an den vier Orten zeitgleich beginnen, sonst wird sie verloren und vergehen.
Ich wunderte mich nicht darüber, dass die Geschwister nach einfacheren Wegen fragten. Es lag in der Natur des Menschen, den wenigsten Widerstand zu suchen. Er war nur Schreiber und Leser, war nur Gesandter. Es war schlicht nicht seine Aufgabe. Manchmal fragte ich mich, ob wir alle dort landeten, irgendwann. Oder ob wir es vielleicht schon längst waren. Am Ende blieb uns nicht viel Wahl.
Ich wusste bereits, an wen ich die Worte des Gefiederten weitergeben würde, als sie gesprochen wurden. Und danach lag es schlichtweg nicht mehr in unserer Hand. Auch wenn mir das nicht schmeckte. Sich auf andere zu verlassen, egal, auf welcher Seite sie standen, war nichts, was mir in irgendeiner Art und Weise gefiel. Es gab nur nichts, was ich hätte tun können. Oder wir. Wenn sie versagten, war es ohnehin egal.
Ich schaffte es nur nicht, meinen Gedanken nachzuhängen, als der Blick des weißen Vogels sich auf mich haftete. Für einen kleinen Augenblick hatte ich den Impuls, mich zu wehren. Die Geschwister ließen es zumindest mittlerweile sein, mir irgendwelche Dinge einzuflüstern. Bei ihm wagte ich zu bezweifeln, ob ich überhaupt dazu in der Lage wäre.
Du kannst sie nicht alle retten.
Sorge dich nicht um die anderen, sondern um deinen Pfad.

Seine Worte machten mir mehr Gedanken, als der bevorstehende Untergang der Welt.


Siebenwacht
Lenzing 252

Die Finger des Mädchens waren dieser Tage oft von dem Ruß der Kohlestücke geschwärzt, nicht, dass sie sonst besonders sauber gewesen wären. Arbeit war allerdings dafür mal nicht der Grund. Micah brachte ihr alle Zettelchen und Fitzelchen an Papier und Pergament mit, die ihm in die Hände fielen und sie selbst hielt es genauso. Sie ärgerte sich, wenn ihr der Platz wieder einmal ausging für die ungenauen, ersten Bildchen. Sie skizzierte alles, was ihr in den Sinn oder vor die Augen kam. Häuser, Landschaften, Stillleben. Manches Mal nur einzelne Gegenstände, die ihr in die Hände fielen oder von denen sie dachte, dass andere Menschen sie besitzen würden. Es dauerte nicht einmal lange, bis sich ein kleiner Stapel unter dem Lager aus gefüllten Jutesäcken gesammelt hatte. Es war ihre Ablenkung geworden, seitdem sich der Freund nur noch selten nachts zu ihr schlich. Zuerst war sie unheimlich wütend, hatte Tage nicht mit ihm geredet und war ihm schlussendlich so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Das hätte besser funktioniert bei jemand anderem, bei jemandem, den er nicht so gut kannte. So wusste er genau, wo sie sich versteckte und auch, dass sie in der Dämmerung im Licht der halb herab gebrannten Kerze mit ernster Miene die Kohle ein wenig zu fest auf das Pergament drückte. Es war nicht einmal selten, dass er sich noch in die alte Kammer stahl und das schlafende Mädchen vom alten Holzboden aufhob, um sie zumindest auf das provisorische Bett umzulagern. Manchmal wischte er ihr dabei noch vorsichtig die Kohlespuren aus dem Gesicht, sammelte die Zettel ein und verstaute sie sorgfältig an ihrem Platz, den er natürlich kannte. Zwei der Skizzen nahm er sich klammheimlich mit. Sie merkte einige Monate nicht einmal, dass sie fehlten.
Du kannst nicht ewig schmollen. Die bernsteinfarbenen Augen kniffen sich etwas zusammen, als sie zu dem Freund aufblickte und die Antwort, in der sie den wütenden Unterton doch nicht ganz verbergen konnte, obwohl sie es sehr versuchte, einen Deut zu schnell erfolgte.
Doch, kann ich. Außerdem schmolle ich nicht! Ein leises Seufzen, als er ihre Hand griff und sie einfach fest hielt. Ihre Finger waren wieder einmal zu kühl. Manchmal fragte er sich, wie sie das überhaupt machte. Sie war zu schmächtig, zu klein und grundsätzlich war ihre Haut zu kalt. Er hatte wieder einmal das Bedürfnis, die Arme einfach um sie zu legen und sie festzuhalten, bis sie warm und ruhig gegen ihn gelehnt schlief. Es war so einfach, als das noch das einzige Bedürfnis war, dachte er bei sich und drückte ihre Hand kurz, ließ sie aber gleich wieder los. Ich lass dich nicht allein. Hast du doch längst. Er wusste ganz genau, dass sie das dachte und nicht aussprach, weil sie sonst vor Wut wahrscheinlich heulen würde und das würde sie nur noch zorniger machen. Eine Erklärung war dennoch überfällig, ihm war nur noch nicht ganz klar, wie.


Gerimor
Eisbruch 266

Zusammen mit der jüngeren Schwester hatte ich die Nachricht der Templerschaft, an deren blutrotes Seelenleuchten ich mich nicht recht gewöhnen wollte, überbracht. Es war beinahe amüsant, wie sie reagierten. Es war nicht ihr erster drohender Weltuntergang. Unsere Aufgabe war damit jedenfalls getan. Nun konnten wir nur abwarten und ich hasste es. Nicht, dass ich an den Dienern Alatars zweifelte, im Gegenteil, aber ich traute es den übrigen nicht zu. Es nützte nichts. Sie würden mich entweder zum Positiven überraschen oder es war ohnehin egal. Immerhin hatte ich im letzten halben Jahr halbwegs gelernt, Dinge etwas mehr loszulassen, wobei das nun gerade nicht dazu gehörte. Ich fragte mich ohnehin, ob das ein schlechter Witz oder Götter, oder wem auch immer, war, dass gerade jetzt die Unsicherheit blieb, ob wir im nächsten Mondlauf noch leben würden oder nicht. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte sich der Weltuntergang eigentlich nicht aussuchen können, jetzt, wo gerade Ruhe eingekehrt war. Ich würde sogar behaupten, dass ich zufrieden war mit der Situation. Mit meiner eingeschränkten Sicht hatte ich mich arrangiert, meistens. Es gab Momente, in denen ich es sogar schätzte, nicht klar und deutlich alles zu sehen. Und dann gab es die seltenen, anderen Augenblicke, in denen ich es hasste. Meistens Kleinigkeiten, über die die anderen vermutlich nicht einmal nachdachten, weil sie es schlichtweg sehen konnten. Gespräche über Haarfarben, oder vielmehr über eine, waren dabei ein sehr empfindliches Thema. Die kurze Wut darüber, dass ich Farben nicht mehr wahrnehmen konnte, schlug dann oft in Traurigkeit um, was wiederum das kleine Fünkchen an Zorn neu entfachte. Aber auch das konnte ich nicht ändern, also musste ich mich mit den bildlichen Beschreibungen abfinden.
In anderen Situationen nutzte ich einfach, was mir gegeben war und war damit alles andere als hilflos. Solange ich die Lichtlein sehen konnte, konnte ich sie auch beeinflussen. Ich griff nur selten dazu, weil es im Alltag eigentlich keinen Grund dazu gab, schon gar nicht, wenn ich mich am sichersten Ort aufhielt, den ich mir im Moment vorstellen konnte oder vielmehr in der Nähe desjenigen, der mir diese Sicherheit gab. Manchmal fragte ich mich, ob es wirklich so einfach sein konnte, als ich schläfrig und von einer Wärme, die nicht meine eigene war, erschöpft in den Schlaf abglitt. Ich lass dich nicht los. Leise Worte, die mir einmal mehr die Unruhe genommen hatten.

Die kühle Welle, die mich früher an diesem Abend ergriffen hatte und mich frösteln ließ, war längst wieder in den Hintergrund meiner Gedanken gerutscht. Ich wusste nicht, ob es ein Herold war oder Newenar oder vielleicht auch irgendetwas ganz anderes, als die Stille einsetzte und die Zeit für einen Moment viel langsamer zu vergehen schien. Das leise, feine Ticken schien mir viel zu laut, als ich gegen die Schwerfälligkeit ankämpfte. Bald schon, bald...
Als ich wieder Luft holen konnte, lag bereits der sturmgraue Blick auf mir und die erste Berührung brach die Gedanken an die Ankündigung komplett. Ich wollte nicht darüber nachdenken und das musste ich auch erst einmal nicht mehr. Eigenartig, wie in manchen Situationen einfach die Klarheit darüber einsetzt, was man wirklich will. Gerade jetzt lag es glasklar vor mir. Ich wusste ganz genau, wo ich sein wollte und was ich wollte.
Ja, vermutlich war es wirklich Ironie, dass gerade jetzt die Welt unterzugehen drohte.


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 08 März 2023 14:55, insgesamt 2-mal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Mairi Kaija





 Beitrag Verfasst am: 11 Jun 2023 12:32    Titel:
Antworten mit Zitat

Wut ist wie ein scharfes Gewürz. Eine Prise hält dich wach, zu viel trübt einem die Sinne.


Gerimor
Lenzing 266

Ich spürte, wie die Panik in mir hoch kroch. Wie die Kälte, die erst die Füße taub werden lässt und dann das Frösteln über den ganzen Körper bringt, langsam und doch unaufhaltbar. Natürlich kämpfte ich dagegen an, atmete langsam ein und aus und versuchte ganz bewusst, die Luft in die Lungen zu ziehen, so tief es ging. Du bist doch echt von allen Geistern verlassen. Die Worte verklangen dumpf, als ich mir die Decke über den Kopf zog, als würde das irgendwas ändern können. Ich war wütend auf mich selbst, mal wieder. Und gleichzeitig, verzweifelt. Vermutlich traf es das am besten. Vielleicht war es doch besser, wenn die Welt unterging. Dann musste ich mir nicht die nächsten Wochen und Mondläufe Gedanken machen, wann es vorbei war. Es gab Worte, die konnte man nicht zurücknehmen. Das war es auch nicht, was ich wollte. Ich wollte sie aussprechen. Und auch wenn es ohnehin klar war, mussten sie einmal gesagt werden. Der rationale Teil in mir wusste das auch. Der andere wiederum verfiel in Panik darüber, dass es so enden musste, wie es das immer tat. Allein der Gedanke schürte Ängste, die ich nicht entfachen wollte. Ich wollte mauern, zurück in meine kühle Festung, aus der ich in vermeintlicher Sicherheit beobachten konnte. Blöd nur, dass die in Schutt und Asche lag. Ich hasste es, wenn er mich dazu brachte, Dinge zu sagen, die mir schwer über die Lippen kamen. Ich liebte es aber ein bisschen mehr.
Natürlich ging sie nicht unter. Die Welt. Ich hätte es besser wissen müssen. Die Worte des weiß-gefiederten Freundes, die Warnung der kalten Stimme, die tief schnitt. Sie alle waren Andeutungen, dass das Ende nicht so nahe war, wie die meisten dachten. Ich war angespannt, weil ich es nicht mochte, wenn ich die Kontrolle aus der Hand geben musste. In Hände von Feinden, von Freunden, von mit Gleichmut Betrachteten. Ich zweifelte nicht so sehr an meinen Fähigkeiten, doch war ich dazu verdammt, der Zuschauer zu sein in diesem Spiel. Ironisch, wenn man bedachte, dass Sehen im Moment nicht meine Stärke war. Oder vielleicht genau deshalb. Aber ob ich es mochte oder eben nicht, spielte keine Rolle. Und doch war ich etwas erstaunt, dass es funktionierte, dass unsere Botschaften angenommen wurden und die verschiedensten Gruppen sich an ihren Teil der Aufgabe machten – und ihn meisterten. Wie auch immer sie das geschafft hatten, es war das Ergebnis, das zählte. Und das war nicht der Untergang der Welt. Immerhin.


Siebenwacht
Wechselwind 252

Irgendetwas hatte sich verändert zwischen den beiden Heranwachsenden. Die Unbeschwertheit, wenn sie allein waren, nicht den Blicken der Erwachsenen oder der anderen Kinder ausgesetzt, wandelte sich in vorsichtige Zurückhaltung auf der einen und viel zu oft in Verstimmung auf der anderen Seite. Beides konnten sie nicht erklären. Und jeder Streit über die Nichtigkeiten, über die sie in Missmut verfiel, machte sie nur noch zorniger. Manchmal war sie einfach wütend darüber, den Freund ein paar Stunden nicht zu Gesicht zu bekommen, obwohl sie wusste, dass er unterwegs war und irgendwelche Dinge erledigte oder irgendwo aushalf, um dem Waisenhaus ein paar Taler dazuzuverdienen. Trotzdem – oder gerade deshalb schlich sie sich oft die Treppen mitten in der Nacht herab. Sie musste die Zimmertüren nicht mehr zählen in der Dunkelheit, sie kannte den Weg, auch wenn sie ihn nicht oft antrat. Nur, wenn es zu schwer wurde und zu viel, stahl sie sich hinab bis zur Tür und klopfte einmal leise. Nur, dass in dieser Nacht keine Antwort folgte. Zum ersten Mal schob sie also die Türe auf.
Micah? Es war nicht mehr als ein Flüstern der ohnehin leisen Mädchenstimme, auf das zunächst aber keine Reaktion folgen wollte. Unter den aufkommenden Zorn mischte sich nun auch noch Enttäuschung. Eine furchtbare Mischung, trotzdem blieb sie in der Tür stehen. Sie wusste, dass die knarzenden Dielen die anderen aufwecken würden, wenn man nicht vorsichtig war oder nicht wusste, wo man hintreten musste. Gerade, als sie wieder im Begriff war, die Tür so leise wie möglich zurück ins Schloss zu schieben, hörte sie das leise Rascheln, dann die Schritte der baren Füße, bis die warmen Finger sich um das schmale Handgelenk schlossen und sie mit sich zogen.

Warum prügelst du dich ausgerechnet mit Liam? Er ist viel stärker, als du! Die Worte waren etwas zu laut für die Uhrzeit und verhallten in der kleinen Kammer des Dachbodens. Die Empörung und der neuerliche Anflug von Zorn waren deutlich zu hören und auch die Brauen der Jugendlichen waren ordentlich herabgezogen, als sie die Kerze etwas mehr anhob, um das blau-violette Veilchen und den Riss in der Augenbraue zu betrachten. Stärker meinte in dem Falle vor allem größer und breiter, als Micah es war. Auch wenn er nicht schmächtig war für einen Sechzehnjährigen, war er nur der dritt- oder viertgrößte der Jungen.
Du bist doch sonst nicht so ein Idiot! Auch wenn die Stimme gesenkt war, konnte man die Wut darin noch deutlich heraushören, aber auch die Sorge, die sich darin abzeichnete. Er hatte genug auszustehen, warum musste er sich jetzt auch noch absichtlich prügeln. Es wollte ihr schlicht nicht in den Kopf und wenn sie etwas nicht verstand, dann wurde der kleine zornige Funke nur noch mehr angefacht.
Mach nicht so eine Geschichte draus. Er hat was dämliches gesagt und hat dafür ein paar Schläge kassiert. Du solltest ihn mal sehen. Micah hätte wissen sollen, dass das nicht die Worte waren, die Beruhigung brachten, im Gegenteil. Aber er war selbst noch zu aufgebracht. Die Sache war eigentlich erledigt, zumindest zwischen den beiden Jungen. So lief es hier eben, Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, wie man so schön sagte. Trotzdem saß da ein kleiner Stachel zu tief, wie ein nerviger Splitter, den man nicht mehr aus dem Finger bekam.
Im dämmrigen Schein der einzelnen, halb herabgebrannten Kerze betrachtete er die ernste Miene und die bernsteinfarbenen Augen, die wiederum seine Verletzung begutachteten. Sie hätte niemals dort sein sollen, dachte er. Hätte ein unbeschwertes Leben in einem schönen Heim führen sollen. Er hätte ihr dann begegnen sollen, wenn er hier heraus wär, wenn er etwas aus sich gemacht hätte, in ein paar Jahren. Vielleicht wäre sie dann schon am Ende ihrer Lehre gewesen, auch wenn er sich kaum vorstellen konnte, welchem Handwerk sie nachgehen würde. Sie war zu schmächtig für schwere Arbeit. Vielleicht hätte sie etwas aus ihrem Talent machen können und Bilder verkaufen. Auf einem Markt oder in einem kleinen Laden; das hätte der Ort sein sollen, an dem sie sich zum ersten Mal begegneten. Bei der Vorstellung musste er schmunzeln, auch wenn ihm danach nicht zumute war. Sie hätte niemals dort sein sollen.
Ich frage mich, was es da noch zu grinsen gibt oder hast du zu viele Schläge auf den Hinterkopf bekommen?! Halt still!


Gerimor
Wechselwind 266

Ich schreckte hoch und blinzelte gegen die Dunkelheit an, die aber nach wie vor nicht ganz weichen wollte. Keine Farben, keine Deutlichkeit und es brauchte einen Moment, bis ich mich erinnerte, dass beides nicht kommen würde. Dafür blieb das Bild noch viel zu lange, viel zu klar, wie der Lichtschein, wenn man zu lange in die Sonne geschaut hatte und überlagerte das mittlerweile zur Gewohnheit gewordene, schemenhafte Zwielichtgrau. Für einen winzigen Moment war ich froh über die abwesende Wärme, doch das dauerte nur wenige Herzschläge bis ich sie vermisste, als die eisige, bekannte Stimme mich noch mehr Frösteln ließ, wenn es auch nicht ihr Ton war, der das Zittern in meine Glieder schleichen ließ und es hielt, sondern vielmehr das Bild, das nicht weichen wollte. Es überraschte mich nicht mal so sehr, dass die Warnung mehr Form annahm als noch vor ein paar Wochen. Es war zu ruhig in den letzten Wochen. Viel zu ruhig. Und jetzt war offenbar das Bald gekommen.
Ich ignorierte die Muskelschmerzen so gut es ging, als ich mich mit gefassteren Bewegungen endlich lösen konnte und bis zur Bettkante rutschte, schürte kurz darauf das Feuer im Herd, damit wenigstens etwas Wärme wieder in mich kommen konnte, wenn ich später zurückkehren würde.
Die Zeit wird knapper werden.
Das Eis der bekannten Stimme brannte dieses Mal nicht ganz so schlimm, ließ sich aber doch nur durch die ersehnte Wärme vertreiben, für einen Moment, für ein paar Stunden. Ich hasste diese Ungewissheit, nicht zu sehen, was und wann es kommen würde. Sicher war nur, dass es auftauchen würde. Die Wächterin ließ keinen Zweifel und auch wenn sie Rätsel sprach, so wie sie es alle gerne taten, nagte nicht ein einziger Gedanke an mir, dass es nicht so sein könnte, wie sie sagte, auch wenn sie nicht viel verraten hatte.
Was es auch war, es kam unpassend und meine Laune sank zunehmend. Ich hätte gerne für ein paar Wochen wenigstens auf die Kopfschmerzen verzichtet, die mir meine immer wieder kreisenden Gedanken bereiteten. Ich hätte gerne die Ruhe ein wenig länger sich ausbreiten lassen, um endlich mal durchzuatmen und mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass nicht alles verloren war, weil es sonst immer so gewesen war. Und wieder blieb keine Zeit, den Kampf mit mir selbst auszutragen, damit mein tobendes Chaos endlich aufhörte zu wirbeln. Je länger ich mich mit dem Gedanken an dieses Grinsen mit den viel zu vielen Zähnen beschäftigte, umso weniger wollte meine Geduld halten.
Zornig hatte ich ein paar wenige Worte zu Papier gebracht, bevor ich ging. Es war der unpassendste Zeitpunkt noch dazu, was das Fünkchen, das langsam aufglomm nur noch mehr befeuerte. Und doch brauchte ich die Zeit ohne Ablenkung, auch wenn ich sie noch so herbeisehnte und verschanzte mich mit alten Pergamenten, abgegriffenen Einbänden, zerrissenen und halb vergilbten Seiten und kleinen Flüchen, die es mir erleichterten. Je schneller wir damit fertig waren, umso besser.
Vielleicht war es die Schlaflosigkeit und die Übermüdung, die meine Gedanken wieder geordneter werden ließ. Vielleicht der Hunger, den die Abwesenheit mit sich brachte, während ich in alten, modrigen Regalen nach einer Antwort suchte und so wenig aß, wie ich ruhte.
Worauf warteten wir eigentlich? Wenn dieses Etwas auf uns zukam, warum standen wir dann hier und warteten ab, bis es uns erreichte? Es war Zeit, ihm entgegen zu treten, wenn wir schon keine hatten.
Zeit ist Leben.

Ich ahnte, dass zumindest einer der Geschwister mich für verrückt erklären würde. Eigentlich wusste ich sogar, wer es sein würde. Dennoch setzte ich meinen Kopf durch. Es war nicht das erste Mal und sollte ganz sicher nicht das letzte Mal sein. Aber zum einen hatte ich die Schnauze gestrichen voll von irgendwelchen Schatten mit viel zu vielen Zähnen, die irgendwo in der Dunkelheit lauerten und zum anderen war es doch ohne ein wenig Irrsinn und Risiko doch langweilig. Ja, wer hätte das gedacht, dass ich das mal zugeben würde. Es kamen nur manchmal Worte der vertrauten Stimme in meinen Sinn, meistens sogar in den unpassendsten Situationen. Aber was sollte die Gegenwehr, wenn er schlichtweg Recht hatte. Ich schüttelte den Gedanken an die Worte wieder ab, weil ich ganz genau wusste, dass mich die Erinnerung daran viel zu sehr ablenken würde. Dafür war später noch Zeit. Wenn wir nicht allesamt gefressen werden würden, in dem Versuch, diese fünf gezeichneten Seelchen zu bewahren. Kurz hatte ich überlegt, ob es sich lohnte, aber den Gedanken schon wieder beiseite geschoben. Schließlich war es nicht mein Urteil, was hier zählte.

Yrdraz. Ein weiterer Name, eine weitere Aufgabe. Ich fragte mich, wie lang die Liste derer, die nur auf ihre Gelegenheit lauerten, noch werden musste. Und vor allem auch, wie lange es dauern würde, bis wir diesen Namen wieder hören würden und er seine Drohung erneut versuchte umzusetzen. Ich werde euch alle zerfetzen.
Spätestens als meine Mundwinkel sich hoben, eine stille Herausforderung, die von meinen leisen Worten noch untermalt wurde, würden die anderen sich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank hatte. Nicht die, die mich kannten, aber das waren nur wenige, selbst unter den Geschwistern. Komm doch. Aber immerhin wusste ich, wo er lauerte, wo er in den Schatten kauerte und sich seine Wunden leckte. Wir waren nicht mehr unvorbereitet. Und ich verstand allmählich, was die Wächterin mir damit sagen wollte, die Sicht aus einem anderen Licht zu lernen.


Zuletzt bearbeitet von Mairi Kaija am 11 Jun 2023 12:33, insgesamt einmal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Alathair - Online Rollenspielshard Foren-Übersicht » Chargeschichten » Glaubst du an ein Leben vor dem Tod?
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen Alle Zeiten sind GMT + 1 Stunde
Gehe zu Seite 1, 2  Weiter
Seite 1 von 2

 
Gehe zu:  
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht mitmachen.




phpBB theme/template by Tobias Braun
Copyright © Alathair



Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group
Deutsche Übersetzung von phpBB.de