FAQ Login
Suchen Profil
Mitgliederliste Benutzergruppen
Einloggen, um private Nachrichten zu lesen
        Login
Wie es euch gefällt
Gehe zu Seite 1, 2  Weiter
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Alathair - Online Rollenspielshard Foren-Übersicht » Chargeschichten » Wie es euch gefällt
Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  
Autor Nachricht
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 29 Jan 2022 14:46    Titel: Wie es euch gefällt
Antworten mit Zitat

Hurensohn

Für meisten Menschen eine demütigende Beleidigung war die Titulierung für Nika Cytian schlicht Tatsache. Bereits seine Geburt bestimmte seinen Platz in der Gesellschaft: Hurensohn, Bastard, Abschaum, unerwünschtes Anhängsel.

In dem Bordell, in dem der Knabe das Licht der Welt erblickte, war schon alles an seiner bloßen Existenz unüblich: Die Huren wurden dank verschiedener Hilfsmittel nicht schwanger und, wenn es doch einmal vorkam, wurde meist dafür gesorgt, dass der beklagenswerte Zustand der Frau rasch beseitigt wurde. Nikas Mutter, Seoha Cytian, jedoch war die schönste und begehrteste Frau im Glücklichen Satyr, einem mittelständigen Bordell in Siebenwacht, das umgangssprachlich nur "der Gehörnte" genannt wurde. Seohas Erscheinung war für Alumenas ungewöhnlich, ihre Gesichtszüge fremdländisch, ihre Haut hell und ihre Gestalt zart. Sie trug eine Noblesse und Eleganz in ihrem Auftreten, das sie über die Viertelgrenzen hinaus bekannt und auch bei manchem gehobenen Herrn beliebt gemacht hatten.
Als ihre Schwangerschaft im Gehörnten bekannt wurde, verweigerte sie rigoros alle Behandlungen und Angebote das Ungeborene loszuwerden oder aufzugeben. Ihre Entscheidung das Kind auszutragen vergällte den Besitzer, immerhin bedeutete dies einen mehrmonatigen Verdienstausfall seiner besten Geldquelle. Seoha aber hatte nicht nur einflussreiche Fürsprecher, sie machte darüber hinaus klar, dass sie ihre Dienste anderswo anbieten würde, dürfe sie ihr Kind nicht austragen und behalten. Der Besitzer musste also in den sauren Apfel beißen und sich ihrem Willen beugen. Dieses Privileg wurde von den wenigsten Huren im Gehörten geteilt und zog Neider nach sich. Neider und Feinde, die sich über Jahre halten würden.

Der Tag, an dem Nika geboren wurde, war stahlgrau. Der Himmel war weit und leer, doch ohne Farbe, der Boden bedeckt von Raureif und das Meer gekrönt von grauer Gischt. Er wäre ein Spross des Frosts, ein Kind von Eisen, schwer zu beugen, kaum zu biegen habe es erst seine wahre Form erlangt, gebrochen wertlos. Das Eisen liege in seinen Augen, so erzählte es ihm seine Mutter immer wieder.
Seoha war bereit gewesen für ihr ungeborenes Kind ihren Aufstieg und ihre Souveränität aufs Spiel zu setzen, nachdem sie Nika das erste Mal erblickt hatte, war sie bereit sich und alles andere zu opfern, alles, was nötig sein würde, um ihn zu behüten. Ihre bedingungslose Liebe zu und Hingabe an ihren Sohn sollten all seine frühen Erinnerungen, gleich ob glücklich, traurig, zweifelhaft oder beängstigend, für immer überstrahlen. Der Knabe erwiderte ihre Zuneigung mit lodernder Verehrung; - seine Mutter, die Heilige, die Hure.

Von den Spannungen, die sich um Seoha konzentrierten, bekam der Knabe die ersten Jahre seines Lebens nichts mit. Genauso wenig wie von dem in den Augen eines Erwachsenen zweifelhaften, in den Augen eines prüden und moralisch gesitteten Menschen untragbaren Umfeld für ein kleines Kind. Während seine Mutter arbeitete, wurde Nika von den anderen Huren oder Luden des Gehörnten beaufsichtigt. Mehr als dies wurde der hübsche Junge meist mit Argusaugen überwacht. Ihrer eigenen Kinder zumeist beraubt sahen viele andere Metzen in ihm so etwas wie einen gemeinschaftlichen Sohn. Häufig verwöhnten sie ihn mit Süßigkeiten oder spielten mit ihm, erzählten ihm Geschichten und beaufsichtigten jeden seiner Schritte. Für die meisten Männer des Hauses wurde Nika eine Art Maskottchen, ein kleiner Glücksbringer. Sie brachten ihm zwar keine besondere Zuneigung entgegen, doch herrschte erst so etwas wie stille Einträchtigkeit, wenn der kleine Nika sicher und wohl versorgt war.
Sowie der Junge laufen und sprechen konnte, half er aus. Er geleitete Freier zu den Zimmern, brachte Bier und Schnaps, Öle, Tücher oder was sonst so gebraucht wurde, hier und da verdiente er sich ein paar Groschen, indem er Flüsternachrichten überbrachte. So kam es, dass Nika zwischen aufreizender Unterwäsche und halbnackten Frauen, grobschlächtigen Kerlen, fleischgewordenen Anstößigkeiten, Alkohol, Tabakrauch und befleckten Laken aufwuchs.

Entgegen dem, was man von einer Kindheit im Bordell annehmen sollte, waren Nikas Erinnerungen an diese frühen Jahre durchaus glücklich: Er hatte zahllose Tanten, die mit ihm spielten, sich um ihn kümmerten und verwöhnten, und Aufpasser, die dem Knaben ein Gefühl von Schutz gaben und jedem alle Finger brachen, der sich an einem kleinen Kind vergreifen wollte. Das Bordell, gleich wie verlottert oder anrüchig, war sein Spielplatz, er kannte jede Ecke, jeden Schlupfwinkel - es war sein zu Hause.


Es war eine krude Sicherheit, ein trügerisches Idyll. Und es war eine ungewöhnlich hell und strahlend brennende Liebe zwischen Mutter und Sohn an jenem düsteren Ort, deren Schönheit die Zeit überdauerte, auch wenn ihre Wärme von der Welt erstickt werden sollte.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 01 Feb 2022 14:16    Titel:
Antworten mit Zitat

Acht

Der Winter 249 versprach der kälteste des Jahrzehnts in Siebenwacht zu werden. Obwohl gerade erst der zwölfte Mond angebrochen war, wurde Feuerholz knapp und entsprechend teuer. Der Hafen war schon seit Mitte Rabenmond eingefroren und Waren aus dem restlichen Alumenas und von weiter her erreichten Siebenwacht nur noch sporadisch auf dem Landweg. Ungeachtet der Kälte hatte es bisher nicht geschneit und so lag die Stadt nur in Eis und Frost erstarrt.

Die Stimmung im Gehörnten war gereizt. In Zeiten der Knappheit sparten viele Männer, insbesondere die nicht übermäßig betuchten, die entbehrlichen Dienste einer Hure für das Nötigste ein. Die meisten Metzen hatten seit Wochen kaum etwas verdient und entsprechend mager fiel ihre Versorgung aus. Einzig Seoha und ein anderes, blutjunges Mädchen wurden weiterhin von einem Teil ihrer Freier besucht, eben jenen, die sich auch in schweren Zeiten jenes Vergnügen leisten konnten.
Nika saß auf der Treppe und spielte mit einem kleinen Kreisel, als er laute Stimmen vernahm. Laute Stimmen von einem Streit, nicht die Art von lauten Stimmen, die der Knabe hier gewohnt war. Vor allem der Klang seiner Mutter. Von Neugier und kindlichem Beschützerinstinkt ergriffen folgte Nika dem Lärm vor die Zimmertür Seohas. "... glaubst wohl du bist was Besseres mit deinen schönen Kleidchen, hm? Und deinen Freunden da in der Verwaltung..." Es war die Stimme von Trina, einer dürren, verhärmten Hure, die ihre besten Jahre lange hinter sich hatte. Sie war schon immer verbittert gewesen, mit dem Frieren und Hunger gesellte sich neidvolle Feindseligkeit hinzu. "Deine Meinung geht mir am Arsch vorbei, Trina!", vernahm Nika die energische Erwiderung seiner Mutter, "Sei dankbar, dass mein Verdienst dir noch das Wenige zwischen die Zähne bringt, was du kriegst, sonst würdest du schon auf der Straße verrecken, du verbrauchte Schlampe." Ein wütender Aufschrei war zu vernehmen, gefolgt von einem Klappern. "Bemüh dich nicht! Nika und ich werden nach dem Winter fortgehen, in meine Heimat. Bitte... lass uns diese ganze Sache einfach friedlich... stillschweigend beenden. Vergiss uns einfach und sag es auch den anderen. Ich hege keinen Groll." Seoha klang müde, erschöpft und irgendwie versöhnlich. Für einige Herzschläge herrschte Stille im Raum, dann ertönte erneut Trinas Stimme, doch entbehrte sie aller Wärme: "Du bist tot, Seoha. Sie werden dich nicht retten, du bist zu weit weg von deinem Nest, Kranich." Erneut erklangen ein Klappern und ein Scharren. Nika riss die Türe auf, bereit seine Mutter in unreifem Übermut zu verteidigen. Trina wandte den Blick zu ihm. "Und dein Bastard auch."
Die folgenden Tage waren anders. Nika konnte es fühlen. Als kleines Kind konnte er es nicht genau bestimmen oder benennen, dennoch fühlte es sich so an als habe sich ein Schatten auf sein Leben gelegt. Seine Mutter war stiller, sie hielt ihn dichter bei sich, manchmal umarmte sie ihn ohne Anlass und sagte ihm, dass sie ihn liebte. Irgendetwas hatte sich verändert.

Es war der achte Tag des letzten Mondes in diesem Jahr, als Nika die Leiche seiner Mutter in ihrem Zimmer fand. Ihre Finger lagen verkrampft an ihrem aufgekratzten Hals, die Lippen fahl und blutleer. Ihre schwarzen Haare flossen um ihr schneeweißes Gesicht und breiteten sich in langen, glatten Strähnen auf dem Boden aus. Ihre Augen waren weit aufgerissen, der graue Blick ging ins Nichts. Sie sah aus wie eine hingeworfene Puppe. Kein Atemzug, keine Wärme, kein Ton, nie mehr. Nur der Geruch von Bittermandeln und rote Wände. Vor dem Fenster fiel dichter Schnee. Das grausige Bild schnitt sich tief in das Fleisch des Sohns, tief genug, um das Kind für immer zu verstümmeln. Weiß und rot. Das Geräusch von knirschendem Glas. Schwarz.

Nika erinnerte sich nicht an die folgenden Geschehnisse. Er konnte sie sich in den Wochen und Monden in der Dunkelheit des Lochs aufgrund der geflüsterten Gerüchte vage erschließen, doch blieben jene Stunden nach dem Auffinden seiner Mutter für ihn ausgelöscht. Da war nur ihr Gesicht, das Bild ihres leblosen Körpers, ihr leerer Blick und nichts.
Offenbar hatte er sich das Messer aus dem Nachttisch seiner Mutter geholt und war zu Trina gegangen. In deren Zimmer hatte er sie schlafend vorgefunden, das Messer in ihre Schulter gerammt und, als jene sich kreischend zu verteidigen begann, ihr die Hände und Unterarme zerschnitten. Erst einer der Luden hatte den tobenden Jungen von Trina wegbekommen und außer Gefecht gesetzt. Der Hurenwirt des Gehörnten war außer sich gewesen, er hatte nicht nur seine beste Einnahmequelle verloren, ihr Bastard hatte auch noch den Verstand verloren und einer zweiten Hure den letzten Rest von Wert geraubt. Um den Verlust zumindest zu begrenzen, ließ er die kommen, die in bestimmten Kreisen von Siebenwacht den Ruf hatten alle unliebsamen Kinder einzusammeln und dafür einige Münzen zurückzulassen. Onkel und Tante kauften den noch immer bewusstlosen Knaben in der Nacht des Todes seiner Mutter.

Den ersten klaren Gedanken fasste Nika wieder, als er erwachte. Es war stockfinster und es roch modrig und feucht. Er wusste weder wo er war, noch wieviel Zeit vergangen war. Sein Kopf schmerzte und pochte. Er tastete um sich und berührte festgetretenen Lehm unter sich, dann ein Bein. Sogleich blitzte das Bild seiner toten Mutter vor seinen Augen auf, sie starrte ihn an. Nika begann zu schreien. Geräusche von Bewegungen drangen an sein Ohr, Panik brandete in ihm auf. Etwas berührte seinen Arm, dann sein Bein. "NEIN! Lass mich! NEIN!", schrie er und schlug wild um sich. Nika hörte ein Wispern, dann raschere Bewegungen. Er wurde gepackt und umschlungen, jemand presste ihm die Hand auf den Mund. "Sssh", klang es dann leise nahe an seinem Ohr, "Wenn du nicht still bist, geht es uns allen an den Kragen!" Nika stemmte sich gegen den Griff, er schrie in die Hand bis seine Stimme brach, bis sie zu einem kraftlosen Wimmern wurde, dann begann er zu weinen. Nun erst löste sich die Hand von seinem Mund und strich ihm stattdessen beruhigend über den Schopf. "Ich weiß. Wir alle wissen es, wir alle waren da. Schon gut, Kleiner!" Der ältere Junge hielt den weinenden Nika so lange bis dessen Tränen versiegten und er erschöpft einschlief.


Zuletzt bearbeitet von Nika Cytian am 01 Feb 2022 19:56, insgesamt einmal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 06 Feb 2022 15:13    Titel:
Antworten mit Zitat

Wie man sein Leben dem Hunger verschreibt

Nika lebte sich nur schwer im Nest ein. Er war es gewohnt geliebt und umarmt zu werden, dessen vollständiger Wegfall nun, während der grausame Verlust all dessen, was er liebte, ihn quälte, nur zu seinem Schmerz beitrug. Einige andere Kinder kümmerten sich ab und an um ihn, wenn er nach Stunden nicht aufhörte zu weinen, doch hatten sie alle ihre eigenen Probleme. Bisweilen legte sich nachts der ältere Junge zu ihm, hielt ihn beruhigend im Arm und wärmte ihn. Dies blieb allerdings die einzige menschliche Zuwendung, die Nika erfuhr.
Die meisten Kinder hielten sich von ihm fern und sprachen nicht mit ihm, sie hatten gerüchteweise gehört, was passiert war und weswegen er hier gelandet war. Daraus wurden mit der Zeit sonderbare, fantasievolle Auswüchse über das Geschehene und Nika selbst. Hartnäckig hielt sich über Jahre das Gerücht er wäre der Sohn eines Nachtalbs, würde ab und an von der väterlichen Natur besetzt und dann nachts wahllos schlafende Menschen angreifen. Der Spitzname Wechselbalg blieb ihm, selbst als die eigentliche Geschichte vergessen war.

Bereits am Tag nach seiner Ankunft wurde er mit den anderen Kindern aus dem untersten Schlafsaal geholt und zur Arbeit eingeteilt. Nika wusste nicht, was von ihm verlangt wurde, keiner erklärte es ihm, doch lernte er ebenso wie sie alle lernten. Die Lektionen waren einfach: Tu, was man dir aufträgt, schnell und ohne Umwege, Widerworte oder Fragen. Sieh niemandem in die Augen, fall niemandem auf, sag kein unnötiges Wort. Verstieß man gegen eine der Regeln wurde man daran erinnert, entweder mit Schlägen oder, weil es weniger Aufwand bedeutete und meist effektiver war, Verringerung oder Streichen der Essensration.
In den ersten Wochen verkaufte Nika nur billigen Tand am Hafen, nahm Zettelchen entgegen, die er an ältere Kinder weitergab, oder brachte Kleinzeug von hier nach da. Wenngleich er, gebrochen wie er war und entfremdet von aller Zuneigung, versuchte alles richtig zu machen, lechzend nach etwas Freundlichkeit, erhielt er keinerlei Zuspruch. Als neues Streichholzkind ohne echten Wert bekam er nicht einmal ein Viertel einer Essensration und, wenn er auch nur einen kleinen Fehler machte, gar nichts. Der bohrende Hunger, der sich in diesen ersten Wochen wie glühende Eisen in seinen Magen fraß, war unerträglicher als alle Schläge. Der Hunger biss sich zu jener Zeit in seinem Fleisch fest und blieb sein stetiger Begleiter, er sollte nie wieder satt werden.


Es war Ende Hartung im Jahre 250 und der lange Winter hielt Siebenwacht noch immer fest in seinem Griff. Die seit Monden andauernde eisige Kälte und deren Folgen hatten die am härtesten getroffen, die ohnehin mit kaum etwas auskommen mussten. In der alten Hafenkante, wo das Kinderhaus von Onkel und Tante beheimatet war, war das Leid der Bewohner nicht zu übersehen. Täglich gab es auf den Wegen neue festgefrorene Körper von ausgemergelten Tieren und Menschen. Zahlreiche Kinder im Nest erlagen Husten, Fieber und Schüttelfrost, ihrem Hunger oder einer allgemeinen Schwäche. Der Frost kroch in ihr Inneres und ihre Herzen hörten einfach auf zu schlagen. Und wegen der Enge in den Schlafsälen verbreiteten sich die Krankheiten unter den Kindern rasant und rissen rücksichtslos die jungen Seelen aus ihrem Leben.
Nika fror. Sein Körper fror, wie sein Inneres erstarrt war. Er hatte Fieber und Husten. Zugleich war er so hungrig, dass ihm davon schlecht war. Doch damit war er nur eines von sieben Kindern, die derzeit im untersten Schlafsaal zitternd und röchelnd um ihr Leben rangen. Schon seit er bei Onkel und Tante angekommen war, hatte er einen hartnäckigen Husten. Trauer und der daraus folgende schlechte seelische Zustand, die fordernde Arbeit, fortwährender Hunger und die dauerhafte Kälte forderten ihren Tribut von dem ohnehin eher schmächtigen Knaben. Und er war müde, unendlich müde. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, erwartete er sie nicht wieder zu öffnen. Ein Teil von ihm wünschte sich dies herbei.

Leise flüsternd schlichen die Kinder in den Schlafsaal zurück, die sich noch auf den Beinen halten konnten und folglich arbeiten mussten. Nika nahm ihre Umrisse wie die Schemen von grauen Geistern wahr, das Flüstern wandelte sich in seinen Ohren zu dem Rauschen von Wind und nahm ihn mit sich.



Der warme Sommerwind strich durch das Blätterdach, das ein gemustertes Schattenmuster auf das Gras warf.
Sanft schlossen sich ihre Arme um mich und zogen mich an ihre Brust. Flüsternd ertönte ihre Stimme, es klang
wie das Rauschen der Blätter: "Cheol, mein Liebstes, verzeih mir. Ich ging ohne dich vor und ließ dich zurück."
Die Klangfarbe ihrer Stimme ließ mein Innerstes erzittern, ich wusste nicht, warum Tränen in meine Augen
stiegen. Ich war sicher bei ihr. Es gab keine Erinnerung und keine Vergangenheit an diesem Ort. Ich öffnete
die Lippen, doch kam kein Ton hervor, als ich ihren Namen sagte. Beruhigend strich sie mir über den Rücken.
"Es ist schon gut, Nika. Du kannst hier bei mir bleiben, wenn du willst." Ich legte meinen Kopf in ihre Halsbeuge
und schloss die Augen. Sie roch nach Pfirsichen. Ich hatte den Duft nur einmal in meinem Leben wahrgenommen
und doch wusste ich sicher, dass es Pfirsiche waren. Der Augenblick dehnt sich zur Ewigkeit aus.
Segen und Balsam, ihr Duft.

Ein jähes Brennen. Ich keuchte. Als ich an mir herabblickte, sah ich Blut meine Kleidung dunkel färben. "Es ist
noch nicht Zeit...", wisperte der Wind in den Blättern.


Nika schrie auf. "Der hier lebt noch!", erklang die Stimme von Merten, einer der Jugendlichen, die für Onkel und Tante die kleineren Kinder beaufsichtigte. Mit einem Schürhaken stach er die leblosen Körper an, um zu prüfen, ob nicht doch noch etwas Leben in ihnen steckte, bevor sie fortgebracht wurde. Nika trug noch den Duft von Pfirsichen in der Nase, die Wärme der Sonne auf seiner Haut und die Erinnerung ihrer Berührung, doch schwand all dies nun jäh. Ein weiteres Mal wurde ihm entrissen, wonach ihm verlangte. Unsanft wurde Nika hochgehoben, Blut sickerte aus der Wunde an seiner Seite. "Halbtot!" "Mir egal! Kriegt trotzdem eine Decke, die wird nicht schlecht." Jemand neigte sich über ihn und schenkte ihm ein Grinsen, das Nika wie Hohn vorkam: "Bist ein kleiner Glückspilz, Wechselbalg, hm?"


Nika starb nicht. Er erholte sich von der Krankheit, aber er sehnte sich zurück. Seine Sehnsucht wurde zu Hunger und sein Hunger von da an unstillbar. An diesem Tag beschloss er unsichtbar zu werden.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 13 Feb 2022 21:41    Titel:
Antworten mit Zitat

Geister unter Ratten

Drei Jahre waren vergangen. Nika war unsichtbar geworden. Zwar schlief er noch immer im untersten Schlafsaal mit den anderen Streichholzkindern, aß seine viertelte Essensration und arbeitete tagsüber in der Hafenkante für Onkel und Tante, doch war sein Name vergessen. Er tat nichts Auffälliges, er machte sich nicht verdient, er stiftete keinen Ärger und sprach nicht. Niemand erinnerte sich an ihn, niemand wusste mehr, woher er gekommen war oder wie lange er schon da war. Niemand außer Fiete.
Seit jener ersten Nacht im Nest, seit er Nika gehalten hatte, lebten die beiden in einer stillen Übereinkunft. Sie hatten ein Auge aufeinander, dabei sprachen sie kaum miteinander. Mittlerweile war Fiete häufig fort, er sollte in die Gesellschaft eingeführt werden, was im ersten Schritt nur bedeutete, dass er im Puff lernte. Ab und an, wenn er ins Nest kam, steckte er Nika Essen, Pillen oder anderes Kleinzeug, selten auch mal einzelne Kleidungsstücke zu. Fiete machte das Leben erträglicher, mehr sein Zuspruch und seine bloße Existenz als seine Gaben.
Von Fiete abgesehen gab es noch ein Mädchen, sie folgte Nika überall hin. Er kannte ihren echten Namen nicht, sie war stumm. Nika nannte sie Iana und sie schien damit zufrieden. Sie mochte ein paar Jahre jünger sein als er, klein und abgemagert mit großen, hungrigen Augen. Wie sie alle. Nika wusste nicht, warum sie ihn erwählt hatte, warum sie ihm folgte und nachts seine Nähe suchte, er erinnerte sich nicht ihr je besondere Freundlichkeit erwiesen zu haben, doch duldete er sie. Mit Gewohnheit kam Gewogenheit und so leben sie zu zweit als Geister unter Ratten.

Es war ein ungewöhnlich milder Frühlingstag für Lenzing, die Sonne schien warm und vom Meer wehte eine sanfte, salzige Brise durch die alte Hafenkante. Iana und Nika waren auf ihrem üblichen Weg in Richtung Hafen, nachdem sie ein Beutelchen in der Gerbergasse abgegeben hatten. Der Gestank von Verwesung, Pisse und Tran begleitete sie, ein Mischgeruch der unbearbeiteten Pelze mit anhaftenden Fleischfetzen, dem Inhalt der Gerberbottiche und der aufgespannten Häute. Erst als sie auf den Löschplatz traten, verwehte der Wind den penetranten Gestank. Sie hielten sich im Schatten der Lagerhallen und Häuser und in der allgemeinen Geschäftigkeit fielen die beiden abgerissenen Kinder nicht auf. Es fiel auch nicht auf, dass hier etwas Brot verschwand, dort etwas Trockenfisch und ein wurmstichiger Apfel. Unter einem Fuhrwagen liegend teilten sie ihre Beute und verspeisten sie. Auf dem kleinen Vorplatz, an den eine der Spelunken des Viertels und ein Kai und Löschplatz grenzten, herrschte reger Betrieb. Mitten in dem Gewusel erblickte Nika sie:
Trina schlenderte langsamen Schrittes durch die Menschen. Sie wirkte gesund, nach wie vor dürr, doch nicht ausgemergelt oder krank. Ihre Kleidung war abgetragen, aber sauber und sie schien gut gelaunt zu sein, ein leichtes Schmunzeln lag in ihren Mundwinkeln. Nika erstarrte.
Schwarze Haare auf dem Boden ausgebreitet, leere, graue Augen. Dann wurde ihm heiß, Zorn wallte in ihm auf. Trinas panisches Gesicht, blutbespritzt, ihr wildes Schreien. Echos. Iana hatte aufgehört zu essen und stierte ihren Begleiter nun an. "Warte hier!", flüsterte der dem Mädchen zu und rutschte unter dem Fuhrwagen heraus. Kurz noch hielt ihn Iana an der Hose fest, er sah ihren verunsicherten Blick, dann ließ sie ihn gehen.
Nika hatte keine Schwierigkeiten Trina durch die Menschen, engen Gassen und Winkel des Viertels zu folgen. Sie schien es nicht eilig zu haben und keiner achtete auf ihn. Es dauerte nicht lange bis sie ein schmales, zweistöckiges Fachwerkhaus ansteuerte. So nah wie er war, konnte er hören wie sie unbedarft einen bestimmten Klopfrhythmus als Kennung an die Tür schlug, dann verschwand sie im Inneren.
Es dauerte etwa drei Stunden bis sich die Türe wieder öffnete. Neben Trina verließen sechs andere Personen, Männer wie Frauen, das Haus. Die Meisten entstammten nicht der Unterschicht, wenngleich sie sich so kleideten. Nika konnte auf den ersten Blick sehen, dass sie verkleidet waren. Ratten erkennen andere Ratten. Er versuchte sich ihre Gesichter und Eigenheiten so gut wie möglich einzuprägen, selbst wenn er gerade selbst nicht wusste, weshalb.
Abermals folgte er Trina auf ihrem Rückweg. Die dumme Gans sah sich nicht einmal um, was es ihm geradezu lächerlich einfach machte, ihr zu einem kleinen Haus am Rande des Hafenviertels zu folgen. Das Licht wurde entzündet, als sie innen war. Offenbar lebte sie dort.
Mit dem Erglimmen des Lichts erinnerte Nika sich an Iana, an das Nest, an Onkelchen und Tantchen, an die abendliche Zählung und die Häscher. Von plötzlicher Furcht ergriffen rannte er in der rasch einsetzenden Dämmerung zurück zum Löschplatz. Der Fuhrwagen war fort. Angsterfüllt spähte er die Umgebung ab, Iana zu rufen wagte er nicht. Er fand sie schließlich versteckt zwischen den Packen der Ladung, wo sie zusammengekauert hockte und weinte. Es dauerte eine Weile bis er sie beruhigt hatte und sie den Rückweg antreten konnten.

Als sie das Nest erreichten, war es stockfinster. Vor der Tür stand Darrell und wartet auf die Ankunft älterer und höhergestellter Kinder. Nika und Iana gehörten nicht zu ihnen, weshalb ihnen mit ihrer Verspätung eine unangenehme Strafe blühte. Leise seufzte Nika auf und wollte sich gerade in Bewegung setzen, da hielt Iana ihn zurück. Sie legte sich einen Finger auf die Lippen und zog ihn zurück in die Dunkelheit.
Niemand im Nest bemerkte je die Verspätung der beiden Kinder, um die sich ohnehin niemand scherte. Von diesem Tag an waren sie wirklich Geister, die die Wände des Hauses nicht halten konnten.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 21 Feb 2022 21:40    Titel:
Antworten mit Zitat

Iana

Der Sommer des Jahres 253 war heiß und trocken, doch in Siebenwacht dank der kühlen Meeresbrise erträglich. Tag für Tag arbeiteten Nika und Iana ihre Botengänge und Verkäufe in der alten Hafenkante ab und kehrten in der Dämmerung ins Nest zurück. Sie erhielten ihre viertelte Portion und verkrochen sich weit hinten in einer Ecke des Lochs. Es kam selten bis gar nicht vor, dass irgendein Kind oder gar einer der Aufpasser, geschweige denn Onkel oder Tante selbst, irgendein Interesse an ihnen zeigte. Sie leisteten nichts Besonderes, sie verursachten keine Probleme, sie waren einfach völlig bedeutungslos. Ebenso banal und eintönig wie ihre Existenz für andere hätte ihr Lebensgefühl zu jener Zeit sein können. War es aber nicht...


Es war eine jener lauen Sommernächte, die die Hitze des Tages hinter sich gelassen hatte, doch das Echo der Wärme in Gestein und Boden bewahrte und nach und nach abgab, während ein erfrischender Wind durch die Gassen strich. Nun, Ende Ashatar, trugen die Nächte bereits jenen zarten Wehmut des endenden Sommers in sich, doch war es bisher nur eine vage Andeutung. Über Siebenwacht wölbte sich ein gewaltiger, leuchtender Sternenhimmel, der gut dazu gedient hätte Dichter, Künstler und Barden zu inspirieren. In dieser Nacht allerdings waren die Blicke der Menschen auf das schwarze Meer gerichtet. Es ging auf Mitternacht zu.
Es war die Nacht der Seelenlichter. Ein uralter Siebenwachter Feiertag, zu dem sich die Bewohner zur Mitte der Nacht am Meer versammelten, um kleine Papierlaternen zu Wasser zu lassen beschriftet mit den Namen der Verschollenen, um ihren Seelen so ein Licht zu geben, dem sie nach Hause folgen konnten. In einer großen Hafenstadt wie Siebenwacht gab es viele Seefahrer, Matrosen, Entdecker und Abenteurer, die das Meer oder die Zeit mit sich getragen, aber nie wieder zurückgebracht hatten, sodass jedes Jahr ein wahres Lichtermeer von Laternen die Bucht erleuchtete.
Nika und Iana eilten eine Gasse zum Schieferstrand hinunter. Jener trug seinen Namen nicht, weil dort viel Schiefer zu finden gewesen wäre, sondern weil sein Sand schwarz war, der im Licht silbrig schimmerte. Je näher sie ans Wasser kamen, desto dichter wurde die Menschenmenge um sie. Nika nahm Ianas Hand und zog sie weiter durch die Gassen, die von bunten Papierlaternen erleuchtet waren.

Frühling und Sommer waren für die beiden eine Zeit der unerwarteten Freiheit gewesen. Iana war eine Liedwirkerin. Unausgebildet und jung waren ihre Fähigkeiten beschränkt, nutzte sie ihre Gabe doch ausschließlich intuitiv. Seit sie Nika ihr Geheimnis offenbart hatte, schuf sie regelmäßig einen Tunnel in und aus dem Nest, den sie anschließend wieder verdeckte. Es war nicht aufspürbar, nicht nachzuverfolgen und die beiden wurden ohnehin nie vermisst nach der abendlichen Zählung. In zahlreichen Nächten seither hatten sie sich herausgeschlichen und waren ihrem Sinn nachgegangen. Gemeinsam hatten sie ihr erstes Bier in einer Hafenschenke getrunken, mit Taschenspielertricks einige Münzen von Schaulustigen abgezogen und waren in ein Puppentheater geschlichen, um sich die Geschichte vom Fall des Herzogs von Eirensee anzuschauen. In manchen Nächten hatten sie einfach ein Lagerfeuer am Strand gemacht und Seeigel und Muscheln gebraten, die Nika zuvor von den Felsen gesammelt hatte, oder waren an der Mole gesessen. Bisweilen schweigend und in der Betrachtung des nächtlichen Meeres versunken, ab und an erzählte Nika Iana eine Geschichte, die er sich tagsüber ausgedacht hatte.
Hin und wieder hatten sie gemeinsam Trina verfolgt oder einige der anderen Besucher des Fachwerkhauses aufgespürt und ihre Wohnorte und Berufe herausgefunden. Sie wussten noch nicht genau, was diese Gruppe regelmäßig zusammentrieb und was sie genau taten, doch schien es mit großangelegtem Schwarzhandel zu tun zu haben. Einige von ihnen pflegten Kontakte mit den Hafenmeistern, Bezirksverwaltern und gar den obersten Adelsschichten von Siebenwacht, doch war alles noch sehr undurchsichtig. Nika war noch keinen Schritt näher daran herauszufinden, warum seine Mutter hatte sterben müssen und wer alles daran beteiligt gewesen war. Iana wusste nun um den Hintergrund von Nikas Besessenheit, was diese Angelegenheit betraf, und unterstützte ihn so gut sie konnte. Sie hinterfragte es nicht und stellte ihn nicht in Frage. Und er war ihr dafür dankbar.

Wie jedes Jahr leuchtete die Bucht von den ungezählten, warm leuchtenden Laternen. Nika und Iana hatten von ihrem ergaunerten Geld zusammen eine Laterne erstanden. Da keiner von ihnen schreiben konnte, war es eines der Lichter, das ohne Namen über die Wellen tanzte. Die beiden Kinder saßen lange im schwarzen Sand und betrachteten schweigend das Glimmen auf dem Wasser. Der Duft der Essensstände, die Gespräche der Menschen um sie herum, entfernte Musik und die bunten Lichter. Ianas vertraute Gegenwart, als sie ihren Kopf an Nikas Schulter legte.
Zeit vergeht still, in einem stetigen Fluss, wenn man zufrieden ist, man bemerkt nicht ihr Scheiden. Vertrautheit schweigt und wärmt, sie ist nicht laut und aufdringlich, sie ist sich selbst genug. Erst das Ticken der Uhr, erst die Abwesenheit der Nähe schafft die Unruhe und erinnert einen an den kalten Wind. Der kalte Wind der Zeit, der eigentlich nie fort gewesen war, selbst wenn man ihn nicht wahrgenommen hatte.
Jene Nacht mit ihren Bildern, Gerüchen, mit ihren Gefühlen und ihrer Wärme blieben Nika lange Zeit sehr lebendig in Erinnerung. Sie waren ihm ein stilles, inneres Feuer, an dem er sich wärmen konnte, wenn der Wind zu kalt wurde. Und doch nicht mehr als bloße Erinnerung. Der Hunger wurde größer.


In der Nacht der Seelenlichter im Jahr 254 trieb unter vielen anderen eine Laterne durch die Bucht. Der Name, der auf ihr stand, war
Iana.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 01 März 2022 21:16    Titel:
Antworten mit Zitat

Wer Wind säht...

Seit der Geschehnisse im Herbst 253 und dem Verschwinden Ianas hatte Nika aufgehört sich zu bewegen. Er lief seine üblichen Wege ab, er überbrachte Nachrichten und Beutelchen, er aß, er schlief und atmete. Er mied alle Nähe zu anderen Kindern und sprach nur, wenn Fiete zu Besuch war. Bei Nika war nichts zu holen, weshalb er von den Älteren und Stärkeren meist in Ruhe gelassen wurde. Für etwa eineinhalb Jahre zeigte kein Mensch Interesse an dem abgemagerten Jungen, weder im Guten, noch im Schlechten und ihm war es nur Recht.

Vermutlich hätte Nika so ein Leben in Unsichtbarkeit und Bedeutungslosigkeit verbracht und wäre irgendwann als ausgemergelter Schatten eines Menschen irgendwo in der Hafenkante erfroren, ertrunken oder an einer Lungenentzündung oder einem Fieber ruhmlos verreckt. Doch wollte es das Schicksal anders mit dem Knaben:
Nika mochte mittlerweile knapp dreizehn Winter zählen, er selbst wusste es nicht. Trotz der schlechten Ernährung und Pflege hatte er sich gut entwickelt, hatte zuletzt einen Wachstumsschub gehabt und war innerhalb eines Jahres einen halben Kopf größer geworden. Damit überragte er die meisten Kinder im Loch, auch ältere, und es wurde schwer sich weiterhin bedeckt zu halten. Hinzu kam, dass die ansetzende Pubertät seine rund-kindlichen Gesichtszüge entzerrten und zu fein geschnittenen, männlicheren Linien wandelten, die jedoch die Derbheit anderer Jungen seines Alters entbehrten. Nika merkte, dass man ihn nun deutlich häufiger als zuvor musterte, gar interessiert betrachtete. Dennoch wurde er noch weitgehend in Ruhe gelassen.

Bis zu jenem Tag im Frühjahr 255.


"Du da! Komm raus!", erklang die durchdringende Stimme Tante Sannas. Es war der Tag der halbjährlich stattfindenden Musterung von Onkel Sole und Tante Sanna. Sonst warfen sie nur einen flüchtigen Blick ins Loch, denn die Kinder, die ihnen auffielen, taten eben genau das. Alle sechs Monde jedoch nahmen sie sich alle Schützlinge im Haus vor. Nichts entging ihnen.
Vollkommene Stille herrschte. Alle Kinder hatten Angst, denn an eben jenem Tag wurde auch das Schicksal von manchem Streichholzkind bestimmt und das bedeutete in diesem Haus selten etwas Gutes. Unsanft schubste jemand Nika vor. Er überragte Tantchen um mehr als einen Kopf. Sie packte ihn unsanft am Arm und drehte ihn vor sich herum, dann strich sie ihm die Haare aus dem Gesicht und musterte seine Züge. "Wie heißt du?" Nika schwieg. "Kann er nicht sprechen?", fragte sie dann schon unwirscher und sah sich erregt um. "Wie heißt der Bursche?" - "Nika", flüsterte derselbe seinen Namen in der mittlerweile beinahe unpassend dunklen Stimmfarbe. Die strahlend hellblauen Augen Tantchens, die so wenig zu ihrer sonstigen Erscheinung einer kleinen, dicklichen Matrone passten, richteten sich überrascht auf Nika. In ihrem Blick spiegelte sich Bemessung und Abwägung, allerdings auch unverhohlenes Interesse. "Schafft ihn hoch!", blaffte sie dann zu Erican und Darrell, zwei der älteren, jugendlichen Handlanger, die im Haus eine der Exekutiven körperlicher Züchtigungen und Notwendigkeiten der beiden waren. Einer packte Nika am Handgelenk und zerrte ihn hinter sich her. Noch nie hatte Nika die oberen Stockwerke betreten, doch konnte er auch nun in der mangelhaften Beleuchtung kaum etwas ausmachen. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er durch eine Tür geschubst wurde.

Onkel Sole hob den Blick von einem Schriftstück an, als die Tür hinter Nika und Erican ins Schloss fiel. Im Gegensatz zu seiner Frau war Onkelchen groß und hager, selbst wenn er mittlerweile ein kleines Wohlstandsbäuchlein vor sich hertrug. Sein Blick wanderte über Nika. "Na, was hat sie mir denn da wieder gefunden? Sieht nicht aus wie ein Löwe, eher wie ein Kätzchen..." Sole erhob sich und umrundete den Schreibtisch, dann packte er Nika am Kinn und betrachtete seine Gesichtszüge. "Interessant", flüsterte er dann versonnen, dann sah er zu Erican und meinte schlicht: "Ausziehen!" Nika spannte sich an und fuhr zu seinem Begleiter herum. Rasch packte dieser ihn an den Haaren und zwang seinen Kopf grob in den Nacken, mit der anderen Hand fetzte er dem Jungen die ohnehin eher fadenscheinige Kleidung vom mageren Körper. Nika fühlte sich wie in einen Schraubstock gespannt, als Sole dessen Körper untersuchte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, er konnte kaum atmen, nur vage bekam er mit wie Tante Sanna sich hinzugesellte und sie auf Sole einredete: "Ja, jetzt ist er dafür nicht zu gebrauchen... Aber sieh dir sein Gesicht an! Er wird ein guter Schlüssel..." - "Er kann nichts, er ist zu alt! Wer sollte ihn ausbilden? Vielleicht hat er nicht mal die Veranlagung."
So ging es eine Weile hin und her, Nika fühlte sich taub als wäre er nur Beobachter jener Szenerie. Er konnte sich in Ericans festem Griff noch immer nicht rühren. "Was auch immer dabei herauskommt, ich mag zarte Mädchen wie dich...", flüsterte dieser ihm spöttisch ins Ohr und strich mit den Fingerspitzen neckend über seine bloße Seite. Nika wand sich und ächzte, als die Bewegung den Schmerz des Griffs nur verschlimmerte. Sole und Sanna drehten sich wieder zu ihnen herum. "Wir werden es versuchen", erklärte Sole, wobei sein Blick eher auf Erican gerichtet war, als wäre Nika nur ein Stück Fleisch in der Auslage, das nun ordentlich pariert werden sollte. "Er soll mehr essen! Seine Gesichtszüge dürfen nicht zu verhärmt und ausgemergelt werden", sprach Sole ungerührt weiter ohne Nika auch nur anzusehen. Ganz im Gegenteil zu seiner Frau hinter ihm, die den entkleideten Körper des Jungen mit zur Seite geneigtem Kopf aufmerksam betrachtete. Nika nahm wahr wie von den beiden unbemerkt Ericans Finger über seinen unteren Rücken herabglitten. In seinen Kopf bohrte sich das Geräusch von knirschendem Glas, Hitze stieg in ihm auf, dann wurde alles Rot.

Nika kam wieder zu sich, als er Blut auf die Dielen spuckte. Durch einen undeutlichen Schleier sah er Papierstücke um sich, ein Stück blutiges Fleisch, er hörte Tantchen keifen, Onkel Sole brüllte: "Schaff ihn hier RAUS! Bringt der Ratte Manieren bei! Verdammte Scheiße!" Nika wurde hochgezerrt. Er sah Erican, der seine Hand auf eine heftig blutende Bisswunde am Hals presste, während Tantchen ihn ohrfeigte und beschimpfte. Darrell zerrte ihn zur Tür. Kurz fragte sich Nika, wann der hinzugekommen war, was war passiert, wieviel Zeit vergangen. Nur einen kurzen Blick konnte er noch in den Raum werfen: Die Bank vor dem Schreibtisch war umgerissen, Papier lag lose im Raum, Dielen und Teppich waren blutbefleckt, Onkel Sole stand mit einer blutigen Hand im Raum und sah ihm nach, dann schloss sich die Türe.

An diesem Tag lernte Nika, was körperliche Schmerzen und Demütigung wirklich bedeuteten.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 10 März 2022 21:57    Titel:
Antworten mit Zitat

Opfergaben an das Leben

Der Aufprall auf dem festgetretenen Lehmboden presste Nika die Luft aus den Lungen und sein Sichtfeld wurde klein. Erst zwei Herzschläge später setzte das schmerzhafte Pochen auf seiner Wange ein, wo er von dem Holzgriff der Übungswaffe getroffen worden war. Noch etwas benommen drehte er sich intuitiv beiseite, womit er gerade noch dem folgenden Fußtritt seines Kontrahenten entging. Sein Gegner, ein älterer, kräftig gebauter Junge namens Tiodho, war schon allein aufgrund seiner Statur dem hageren Nika überlegen, darüber hinaus war er aber auch bereits fast zwei Jahre im Kampftraining. Der schwächliche Neuling hatte ihm nichts entgegenzusetzen.
Tiodho wollte ihm gerade nachsetzen, als er an der Schulter gepackt und herumgerissen wurde. Er schlug dicht neben Nika auf dem Boden auf und spuckte Blut in den Dreck. "Du beschiss'ner Hundsfott", erschallte Nans herrische Stimme, "Wie oft soll ich's noch vorbet'n? Nich' sein Gesicht!" Nan war ein ehemaliger Seesöldner, ein hartgesottener, älterer Kerl von der Statur eines Bären, vernarbt und wettergegerbt, ihm fehlte ein Auge und er hatte ein Holzbein. Er war der Ausbilder im Nest für alles, was mit Kämpfen oder Waffen zu tun hatte. "Ab sofort kostet dich... Ney...", er hob die Stimme an, sodass jeder im Hof ihn hören konnte, "Jed'n von euch hirnlos'n Schwanzlutschern, der nich' spurt, ein Schlag in sein Gesicht..." Er deutete auf Nika auf dem Boden. "Ein'n Zahn."
Missbilligend blickte er mit seinem verbliebenen Auge auf Nika und Thiodho hinunter. "Der eine kann nichts, der and're hat nichts. Ihr werdet noch mal Spaß im Leb'n hab'n. Weitermach'n, Blindgänger!" Nika ließ seinen Kopf zurücksacken und atmete tief durch. Das würde ihn teuer zu stehen kommen und er wusste es.

Später am Abend schleppte er sich mit brennenden Muskeln und zahllosen, neuen Prellungen über den Hof zurück. Wie er erwartet hatte, hatten Tiodho und einige seiner Freunde ihm nach der Essensverteilung aufgelauert, um sich für Nans Ankündigung zu revanchieren. Wie so oft in den letzten Wochenläufen war das Geschehene ein willkommener Vorwand, um den Neuling, der so plötzlich aus dem Nichts ins allgemeine Interesse gerückt war, zu prüfen.
Trotz der Geschehnisse am Tag der Musterung hielt Onkel Sole an seinem Entschluss Nika zu einem "Schlüssel" auszubilden fest. Nika wusste nicht, was das bedeutete und niemand erklärte es ihm. Sobald er wieder laufen konnte, begannen seine Unterweisungen. Diese zielten zunächst auf eine breit gefächerte Grundausbildung ab: Lesen, Schreiben und Rechnen, doch auch Grundlagen der Geographie und Etikette und das Einmaleins der Gauner, Taschendiebe und Zwielichtigen. Hinzu kam das tägliche Waffen- und Kampftraining bei Nan. Er schlief weiterhin im Loch, bekam aber mehr und besseres Essen. Allein das Arbeitspensum der Unterrichte und die Forderung durch die körperlichen Übungen hätten ausgereicht, um den Jungen zu entkräften, doch blieb es nicht dabei.
Die meisten Kinder hatten nun Angst vor Nika, nachdem sich herumgesprochen hatte, was am Tag der Musterung im Arbeitszimmer passiert war, und machten einen Bogen um ihn. Die Gerüchte er sei der Sohn eines Nachtalbs von seiner Anfangszeit im Nest kamen wieder auf. Einige aber wollten sich mit ihm messen, meist ältere und stärkere, um selbst als mutiger und verwegener zu gelten. Für Nika hatte mit jenem Tag ein anstrengenderes Leben begonnen, als seine bloße Ausbildung erfordert hätte. Ständig sah er sich den Provokationen und Herausforderungen anderer Jugendlicher ausgesetzt. Es verging fast kein Tag, an dem er Kämpfen oder Rangeleien hätte ausweichen können.
Am unerträglichsten allerdings war Ericans Züchtigung. Jener war nicht nur von dem mageren Jungen verletzt worden, sondern schlimmer, sah seine Befähigung und seinen Status in Zweifel gezogen von der unerwarteten Wehrhaftigkeit des Knaben. Er nannte es Lektionen für sein Mädchen. Tatsächlich bedeutete es aber nur, dass er sich an dem Jüngeren verging und ihn folterte auf dem Altar seines verletzten Stolzes. Nika hatte keine Chance, nicht gegen ihn. Niemand interessierte sich dafür, niemand würde ihm helfen.
Innerhalb weniger Wochenläufe nach dem Tag der Musterung war er völlig ausgebrannt und erschöpft, stets körperlich angeschlagen. Er wusste aber jammern würde nicht helfen, weinen nicht, schreien nicht, nichts würde das beenden. Nur sein Tod.

"He, Blindgänger!", erklang Nans Stimme in dem grauen Dämmerlicht des Hofs. Nika hob den Kopf und erspähte das rotgelbe Glimmen einer Zigarre, die kurz die Gesichtszüge des Waffenlehrers erhellte. Er saß auf einer Kiste in der Ecke des Hofs, neben ihm eine Flasche Kehlenschlitzer. Mit einer unwirschen Handbewegung winkte er den Jungen näher heran. Nika folgte lautlos.
"Du wirst nich' mehr lang durchhalt'n. Du wirst jed'n Tag schwächer, bald biste durch." Nika schwieg, während Nan ihn musterte. "Weißte, wär' schad', wenn du hier so unrühmlich verreckst. Deine Frau Mutter würd' sich im Grab umdreh'n, wenn sie's seh'n könnt'." Nika starrte ihn an. "Du kennst meine Mutter?" - "Aye, 'ch kannte Seoha. Wunderschöne Frau, schlaues Köpfch'n! Ein Jammer, was mit ihr passiert is'!" Nan reichte Nika anbietend die Schnapsflasche hin. Der Junge nahm die Flasche an, stierte aber weiter seinen Waffenlehrer an.
Noch nie nach dem Tod seiner Mutter hatte er jemanden getroffen, der sie gekannt hatte oder mit ihm über sie gesprochen hatte. Allein der Klang ihres Namens ließ ihn erschaudern.
"Woher...?", setzte er zu fragen an, doch Nan unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Geste. "Ob wir mal für die Geschichte Zeit hab'n, Blindgänger, liegt bei dir. Jetz' werd' 'ch kein'n Atem an 'ne wandelnde Leiche verschwend'n." Nika zog die Augenbrauen zusammen und flüsterte halblaut: "Ich kann nichts machen, ich bin nicht stark genug." Er nahm einen Schluck von dem Schnaps und musste unkontrolliert husten. "Aye, wenn du nach ihr'n Regeln kämpfst und spielst, haste Recht. Wenn du zu deiner Frau Mutter ins Grab willst, is' das grad ein guter Weg. Is' es das, was du willst? Den Abtritt kann'ch dir nämlich auch erleichtern.", erwiderte der Alte ungerührt. Nika starrte schweigend auf die Flasche. Kurz hatte er den Duft von Pfirsichen in der Nase. "Nein." Es war nur ein Flüstern. Er wusste nicht, warum er das gesagt hatte, es war keine bewusste Entscheidung gewesen, erst jetzt begriff er, dass es die Wahrheit war. Nika sah zu Nan auf und wiederholte fester: "Nein!" Ein Grinsen bildete sich auf den Lippen des Waffenmeisters. "Dann, Blindgänger, hab'ch 'n paar schmutzige Kniffe für dich. Wirst aber Eier brauch'n un' dein Gewiss'n ableg'n müss'n. Meinste das kriegste hin?"
Seit dem Tag der Musterung war Nika nicht mehr in jenen Rausch der Raserei gefallen. Er wusste nicht, ob ihn dies erleichterte oder ob er es bedauern sollte. Es ängstigte ihn so unkontrolliert zu wüten und keine Erinnerungen an seine Taten zu haben. Doch mit jedem Schlag, den er einstecken musste, jeder Berührung, die er erdulden musste, jeder Demütigung, die ihn hinunterdrückte, wuchs in ihm der Wunsch sie alle zu zerfetzen und zu zerreißen. Er hatte nichts mehr zu verlieren, nur sein Leben. Dieser Gedanke trug keinen Schrecken mehr in sich. Keinesfalls würde er nachgeben.
"Ja."

Einige Tage später gab es erneut eine Rangelei. Nika stach Tiodho mit einer Scherbe, die offenbar von einer Schnapsflasche stammte, ein Auge aus und brach ihm die Hand.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 23 März 2022 20:53    Titel:
Antworten mit Zitat

Kehlenschlitzer

Der Zorn loderte in Nikas Inneren, angeheizt durch den Kehlenschlitzer-Schnaps brannte der Hass gleich einer Feuersbrunst in seinem Bauch, in seiner Brust, in seinen Adern. Er war so unerträglich heiß, dass er ihn hinausbrüllen wollte, dass er alles kurz und klein schlagen wollte, sein Atem ging in kurzen, schweren Stößen. Doch es würde nur eines geben, was ihn eindämmen konnte, nur eines, was ihn löschen würde, dessen war er sich vollkommen sicher. Und er würde es sich holen, gleich wie viel es ihn selbst kosten würde. Der Preis war hoch.
Er hatte erst gelernt, was es bedeutete dem Raubtier in sich vorbehaltlos nachzugeben, nicht auf die Skrupel und Zweifel, auf die Menschlichkeit zu hören. Noch fiel es ihm bisweilen schwer die Schwelle zur Erbarmungslosigkeit zu überspringen und ohne Rücksicht auf Verluste zu handeln, doch wurde es mit jedem Mal leichter. Und jedes Mal, wenn er raste und tobte, biss und wütete, entfernte er sich weiter von dem verletzlichen, von dem fühlenden Jungen, der er gewesen war. Von dem schwachen Knaben, von dem Versager, von dem Opfer der Welt.

Wenige Stunden zuvor saß Nika mit Nan im Roten Segel, einem der zahlreichen Hafenkneipen von Siebenwacht. Nun, beinahe ein Jahr nach seiner Musterung, hatte er nicht nur an Kraft und Fähigkeit gewonnen, sondern vor allem an Respekt im Nest und Anerkennung von dem alten Waffenmeister. Heute, so hatte der ihm versprochen, würde er einen Teil von Seohas Geschichte erfahren. Allein ihren Namen wieder zu hören, die Aussicht auf eine Erzählung von ihrer bloßen Existenz, hatte ihm die nötige Verbissenheit verliehen weiterzukämpfen. Jetzt brachte sie Nikas Herz zum Flattern, denn zugleich wie er hoffte, bangte er, was er hören würde.
"Bevor wir dazu komm'n wie deine Mutter und 'ch uns kenn'nlernt'n, sollt'ch dir erklär'n wie manche Verhältnisse in unser'n Kreis'n hier in Sieb'nwacht aufgestellt sin'. Schau' nich' so! Aye, das is' wichtig", begann der Alte dann zu berichten und schenkte sich und Nika das Schnapsglas voll. "In der Stadt gibt's seit jeher verschiedene Klüng'l... Banden, Syndikate, Zirkel, nenn's wie du willst. Manche stark und einflussreich, and're klein un' unwichtig. 'Ch kann dir nich' sag'n, wie und warum Seoha da reingerat'n is', aber als ich sie traf, war sie schon Mitglied der Grau'n Schwing'n. Wie sie nach Sieb'nwacht gekomm'n is', weiß'ch nich', hat sie nie erzählt, zumindest nich' mir. Schien aber 'ne überaus traurige Geschichte zu sein mit 'nem ermordet'n Ehemann un' sowas."
Nan hob sein Schnapsglas an und prostete Nika zu. Im Verlauf der nächsten Stunde erfuhr dieser mehr von seiner Mutter als er überhaupt über sie gewusst hatte. Über ihre Herkunft, ihr verstecktes Leben, ihre Aufgaben und Fähigkeiten und wie sie in den Grauen Schwingen verflochten gewesen war. Er hörte mehr von der Liebe seiner Mutter für ihn, von ihrem Kampf für ihn und ihrer Bereitschaft alles von sich seinem Leben zu opfern.
Die zerreißende Qual kehrte zurück. Die Wunde auf seiner Seele über ihren Tod war nie verheilt, sie schmerzte immer, dumpf und schal. Doch mit der Geschichte, mit der gefühlten Nähe zu ihr, wurde die unüberwindbare Kluft ins Jenseits stückweise zu einer Klinge in Nikas Herzen.
"... entschloss deine Mutter sich heimzukehr'n mit dir. Das war wohl der Anfang von ihr'm Ende. 'Ch kann dir nich' genau sag'n, was da ausgehampelt wurd', aber die Ober'n war'n nich' erfreut von ihr'm Entschluss. Von allem ander'n erfuhr'ch erst viel später...", murmelte Nan schon etwas angetrunken vom Kehlenschlitzer und schenkte auch Nika nochmal nach. "Dass sie sterb'n sollt', war kein allgemeiner Beschluss der Schwing'n, sie hatte viel geleistet un' sie hatte noch viele Information'n versteckt, die denen auf die Füße gefall'n wär'n. Die irre Schlampe Trina, keine Ahnung, was die geg'n Seoha hatte, un' 'ne handvoll And'rer hab'n das einfach selbst in die Hand genomm'n. 'Ch nehm' stark an, dass da noch was and'res hintersteckte." Einige Augenblicke herrschte betretenes Schweigen, ehe Nan mit monotoner Stimme nachsetzte: "'Ch hab sie ordentlich begrab'n lass'n. Vor der Stadt. Möge ihre Seele Fried'n find'n." Nika leerte sein Glas und stand auf. Nans Rufe hörte er nicht mehr.

In der Dunkelheit des Hauses verbarg Nika sich neben der Tür. Das Blut rauschte in seinen Ohren, seine Hand zitterte vor unterdrückter Wut. Er wartete reglos. Die Zeit verstrich quälend langsam. Als schließlich ein Scharren an der Tür von der Rückkunft der Bewohnerin kündete, war das Feuer zu Eis erstarrt.
Trina schob die Türe hinter sich zu und verriegelte sie. Sie ging zum Tisch in der Mitte des Raums, um nach dem Zündhölzern zu greifen. Es war der Augenblick, als sie realisierte, dass sie nicht allein war. Nika drückte sich hoch und trat vor die Tür, noch fühlte er das Zittern in seinem Inneren, eine Mischung aus Wut und Anspannung. "Was willst du?", fragte Trina halblaut in der Dunkelheit. Wenngleich sie sich Mühe gab ruhig und abgeklärt zu klingen, hörte Nika ein leichtes Beben in ihrer Stimme. "Bei mir gibt's nichts zu holen, Kerl. Scher dich gleich raus und ich werde vergessen, dass du überhaupt hier warst." Die Spannung im Raum weitete sich in der Stille aus. "Du bist tot, Trina. Sie werden dich nicht retten, du bist zu weit weg von deinem Nest." Nikas dunkle Stimme war frostig, als er exakt die Worte wiederholte, die Trina Jahre zuvor zu seiner Mutter gesagt hatte. Er hatte sie nie vergessen können.
"Du hast die Falsche. Ich weiß nicht, wovon du redest. Verschwinde einfach!", versuchte Trina sich herauszureden, doch vermochte sie nun nicht mehr das beunruhigte Bangen aus ihrem Ton zu halten. "Hättest du sie damals einfach verschwinden lassen wie sie dich gebeten hatte, wäre ich nicht hier. Und du wärest nicht am Arsch, du Verschwendung von Fleisch", erwiderte Nika ungerührt. Mit einem heulenden Aufschrei warf Trina sich zu ihm herum, in ihrer Hand blitzte eine kleine Klinge auf. Nika wich ihr nicht aus. Das Messer drang ihm in die Schulter, er spürte es kaum. In der Dunkelheit konnte er ihre geweiteten Augen schimmern sehen.
Schwarze Haare auf dem Boden ausgebreitet. "Und jetzt ich." Mit einem Krachen knallte Trinas Körper gegen den Tisch und riss ihn um.

Als das fahle Morgenlicht durch die kleinen Fenster schien, hatte Nika alle Antworten, deretwegen er gekommen war. Trina war widerspenstig gewesen, doch als sie irgendwann begriffen hatte, dass keine Hilfe kommen würde und der Halbstarke weder von Drohungen und Einschüchterungen, noch Versprechen oder Betteleien zu beeindrucken war, hatte sie zu reden angefangen. Sie spuckte etwas Blut beiseite auf den Boden. "Und jetzt? Was willst du machen, Bastard?", fragte sie undeutlich mit einer erneut aufflammenden Widerborstigkeit in der Stimme.
Nika wischte sich die Hand an ihrem Umhang ab und schwieg. Noch nie zuvor hatte er jemanden so gepeinigt und gequält. Noch konnte er die Menschlichkeit in sich schreien hören, noch spürte er ihr körperliches Leid, ihre Angst, ihr Grausen, noch musste er vor jedem Handgriff mit sich kämpfen. Ihm war speiübel. Wäre es irgendeine andere Person gewesen als sie, jede andere lebende Person, hätte er sich nicht in der Lage dazu gesehen weiterzumachen. Aber es war sie, die Mörderin des einzigen Menschen dieser Welt, den er liebte.
Leere, graue Augen.
"Nika, es tut mir leid", lenkte Trina dann plötzlich wieder mit schmeichelnder Stimme ein, "Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es tun, aber das geht nicht! Du bist zu jung, um zum Mörder zu werden. Bitte. Seoha hätte nicht gewollt, dass..." Das Messer drang in ihre Kehle ein und aus ihrem Nacken wieder heraus. Sie gab ein gurgelndes Geräusch von sich. "Sag nicht ihren Namen", zischte Nika ihr gedämpft zu. Er ließ das Messer stecken und beobachtete sie in ihrem langsamen Sterben bis ihr Blick brach. Dann rannte er hinaus und übergab sich.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 20 Apr 2022 19:19    Titel:
Antworten mit Zitat

Götter der Menschheit

Nichts geschah. Nach den Geschehnissen jener Frühlingsnacht des Jahres 256, als Nika zum Mörder geworden war, erwartete er jeden Tag von den Konsequenzen seines Handelns eingeholt zu werden. Dass das Regiment auftauchte und ihn festnahm oder, wenn nicht sie, die Schergen der Grauen Schwingen, denen Trina angehört hatte. Er wartete darauf, dass seine Schuld ihn niederdrücken, dass Reue ihn quälen würde und ihn die Bilder jener Nacht verfolgen würden wie das Abbild seiner toten Mutter, das sich in seine Seele geschnitten hatte. Doch nichts davon geschah.
Das Einzige, was er in Bezug auf das Gewesene fühlte, war gleichmütige Stille. Nika war nicht stolz oder heiter, er spürte durchaus das Gewicht seiner Tat, doch blieb das Gefühl der Reue aus. Stattdessen war eine düstere Präsenz, die seit Jahren um ihn geschlingert war, nicht wirklich greifbar, doch stets vorhanden wie ein grauer Schleier, mit einem Mal gewichen. Die neue Welt zeichnete sich ihm nun in grelleren Farben und klareren Konturen, seine Wahrnehmung schien verändert zu sein. Schmerz war nun scharf, er brannte und schnitt, er lebte. Nika fürchtete das Gefühl nicht, er begrüßte das neue Extrem, die Härte der Empfindung.

Frühjahr und Sommer vergingen ereignislos. Ereignislos bedeutete für Nika, dass er weiter lernte und übte, weiterkämpfte, weiter angegangen und geschunden wurde und er im Gegenzug weitere Teile seiner Menschlichkeit abstreifte wie die abgestorbene Haut auf den Wunden, die ihm geschlagen wurden.
Die Schindereien durch andere Kinder und Jugendliche hielten sich mittlerweile sehr in Grenzen, nachdem Nika sich durch die schiere Heftig- und Rücksichtslosigkeit seiner Erwiderungen auf Übergriffe gegen ihn, gleich ob er erfolgreich war, gewann oder verlor, ob er selbst verletzt wurde oder nicht, den Ruf erworben hatte verrückt zu sein. Tiodho war nicht der Einzige geblieben, der dauerhaften Schaden davon genommen hatte, sich mit Nika anzulegen.
Allerdings verlor selbst nach beinahe eineinhalb Jahren Erican nicht das Interesse an dem beinahe Fünfzehnjährigen. Teilweise lag es sicher daran, dass Nika noch immer niemals bereit war ihm nachzugeben und Mal um Mal rang und tobte, selbst wenn er gegen den Älteren und Stärkeren nie wirklich eine Chance hatte. Allerdings schien es auch so als habe Erican eine bizarre und verdreht-besessene Zuneigung für den halbstarken Jungen entwickelt, zumindest behandelte er ihn bisweilen fast sanftmütig. Nika hasste es noch viel mehr als seine Brutalität.

Es war wenige Wochen nach der Nacht der Seelenlichter, als Nika für eine Lehreinheit in ein anderes Zimmer als sonst geschickt wurde. Es war klein und hatte nur ein winziges Fenster weiter oben an der Wand, dazu Bett, Tisch und Stuhl. Sonderbarerweise war der größte Teil des Bodens noch mit einem Teppich bedeckt und in einer Ecke stand eine Truhe mit Schloss. Misstrauisch prüfte er den Raum, wie er gelernt hatte jeden unbekannten Raum zu untersuchen, doch fand sich nichts von Interesse.
Onkel Sole schob die Türe auf und meinte im Eintreten etwas unwirsch nach hinten: "Warte hier!" Nur flüchtig konnte Nika ein aschblondes Mädchen sehen, dann fiel die Tür wieder zu. Soles durchdringender Blick richtete sich auf den Halbstarken und betrachtete ihn eine kurze Zeit überlegend, dann nickte er offenbar zufrieden.
"Du bist jetzt alt genug, um was zu lernen, was dir mal sehr nützlich sein kann. Wenn du es ordentlich beherrschst und du körperliche und geistige Veranlagungen dazu hast, kann es sogar so dienlich sein, dass es dir Macht über andere gibt", erklärte Sole in seiner leicht kratzigen Stimme. Nika stierte ihn nur unbewegt an und rührte sich nicht, was Sole mit einem entwertenden Schnaufen zur Kenntnis nahm. "Es gibt einige Triebkräfte der menschlichen Natur. Ich rede nicht von den Tugenden der Götter, der Moral der Menschen oder sonstigen Ehrbarkeiten. Diese dienen nur dazu die menschlichen Bedürfnisse unter Kontrolle zu halten und dass die moralischen und scheinheiligen Leute sich sauber und überlegen fühlen. Ich rede von dem, was die Menschen wirklich wollen, was ihnen ihr Körper sagt, dass sie brauchen."
Nika schob seine Unterarme auf den Rücken und verlagerte das Gewicht etwas, als er nur sarkastisch meinte: "Spannend! Sollte mir das irgendwie neu sein?" - "Du kleiner...", knurrte Sole finster. Onkelchens Bewegung war schnell und präzise, sein Schlag hart, als er Nika mit der Rückhand eine verpasste. Sole mochte um die Fünfzig sein, doch war er körperlich abgehärtet, zäh und stark. Darüber hinaus war er noch immer so zielsicher wie ein Scharfschütze, wenn es darum ging Schmerzpunkte und Schwachstellen zu finden. Nikas Kopf ruckte beiseite.
Ungerührt fuhr Sole dann fort: "Du wirst niemals jemanden dazu bringen etwas für dich zu tun mit Honig. Versprechen bedeuten nur was bis eine größere Triebkraft sie vergessen macht. Ein Eid ist nur ein Haufen Scheiße, den man unter Samt und Gold versteckt hat. Tugenden sind was für arglose Schlitzreiterinnen und urhässliche Gänselöffel." Er machte eine kurze Pause, während er Nikas Gesichtszüge betrachtete. "Hass und Liebe, Hunger, Angst, Schmerz, Gier und Geilheit sind die wahren Götter der Menschheit. Und du, dämlicher Gnatzkopf, könntest wirklich gut werden einige davon zu bedienen." Nika erwiderte nichts. Sole drehte sich zur Türe herum, wobei er noch nachsetzte: "Mal sehen, ob du dazu eine Veranlagung hast. Aber vor dem Rennen kommt das Stehen." Sole lachte dreckig und zog die Türe auf.

Der Name des Mädchens war Nani, doch nannte sie sich zunächst Sarena. Sie war etwa zwei Jahre älter als Nika und für eine Vertreterin des horizontalen Gewerbes ungewöhnlich sanftmütig und beinahe schon zurückhaltend. Sie hatte eine angenehm weiche Stimme und sprach stets leise und ruhig. Nika mochte sie beinahe sofort und das lag nicht nur daran, dass sie ihn fühlen ließ, was für jeden Halbstarken das Paradies war. Für Nika im Besonderen war es Heilung. Ihre Hände, ihre Lippen, ihr Körper linderten die neue, grelle Schärfe des Lebens, ihre Berührungen wärmten sein Inneres und fachten eine ungekannte Flamme an. Nika ergab sich diesem rasch verzehrenden Feuer mit seinem Hunger als unerschöpfliche Beköstigung.
Nani lehrte ihn alle Grundlagen der körperlichen Lust mit Geduld und Einfühlungsvermögen, doch auch mit charmanter Zwanglosigkeit. Die beiden Jugendlichen, beide auf ihre Weise verwundet, fanden eine Zeit ineinander Genesung. Es kam vor, dass sie die Unterrichtsstunden nur damit verbrachten einander Nähe zu schenken und sich zu unterhalten. Wenige Tage, nachdem sie ihm gestanden hatte, dass sie sich in ihn verliebt habe, verschwand sie und kehrte nicht zurück.

Nach Nani kamen weitere Lehrerinnen. Sie wurden nach und nach rascher ausgetauscht als zu Beginn. Nicht alle von ihnen verdienten die Bezeichnung als Lehrerin, einige von ihnen waren in ihrem Tun schlicht eigensüchtig, eine im Besonderen zudringlich und gierig.

Frei zu lieben oder Nähe und Zuneigung, aber auch Ablehnung und Distanz selbst zu wählen war ein Luxus, den man sich leisten können musste. Es war ein Luxus, den Nika nicht genoss, den auch Nani nicht genossen hatte und keine nach ihr. Alles in ihrer Welt hatte einen Preis und jeder Preis war zu hoch.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 03 Mai 2022 15:57    Titel:
Antworten mit Zitat

Eisen

"Verreck doch!", brüllte Nika rasend vor Zorn und Ekel, seine Stimme brach dabei und er schleuderte den Hocker gegen die Wand, wo ein Bein absprang und als Geschoss zurückprallte. Tante Sanna erwischte das Holz am Kopf, ihr Stuhl stürzte um und sie fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. Der Anblick reichte bei Weitem nicht die schier uferlose Wut in Nikas Bauch zu besänftigen, noch trug er ihren Geschmack auf den Lippen. Er packte den umgestürzten Stuhl und schmetterte ihn gegen das große Fenster der Schreibstube, das in tausend Scherben zerbarst. Tantchen rutschte auf dem Boden seitlich neben den massiven Eichensekretär. "Du verkommene, dreckige...", spie er abfällig hervor und warf die Bank beiseite, die ihm den Weg versperrte. Sie krachte in eine seitlich stehende Vitrine, erneut regneten Scherben auf den Teppich. Sanna japste einmal und brachte in einem hellen Tonfall, der nicht ganz ihr Erschrecken auf seine Reaktion verbergen konnte, hervor: "Tu besser nichts, was du bereuen wirst, Nika!" Sie hatte eine Art seinen Namen zu betonen, die in ihm augenblicklich einen Brechreiz verursachte. Seine Hand zitterte, als er sie zur Faust ballte. "Das tue ich schon, das tue ich jeden Tag, schmutzige Bletz!", schrie er ihr mit bebender Stimme entgegen, "DU bist einer der Gründe, warum!" Die Wände wankten und begannen zu schmelzen. Nika griff sich den Brieföffner vom Schreibtisch. Tantchen schrie auf und krabbelte weiter hinter den Sekretär. Die Laute wurden dumpfer, das Geräusch von knirschendem Glas bohrte sich in seinen Kopf.
Nika wurde von hinten gepackt, in einem unnachgiebigen Griff umschlungen und beinahe bewegungsunfähig gemacht. Er stemmte sich dagegen, es zwang ihm die Luft aus den Lungen. Seine Muskeln verkrampften sich in dem zwingenden Bedürfnis weiter voranzukommen und
dieser lüsternen... dieser ekelerregenden... dieser abartigen... "Hör auf!", klang Fietes Stimme ruhig an seinem Ohr, nicht mehr als ein Wispern, selbst wenn die Dringlichkeit der Aufforderung nicht zu verkennen war. Nika überspannte seine Glieder, der blinde Schmerz des Muskelkrampfs kreischte in seinen Fasern. Er keuchte überfordert. Fiete ließ ihn nicht los, hielt ihn einfach fest und hartnäckig umklammert bis der krampfhafte, heftige Impuls nachließ. Wie damals in seiner ersten Nacht im Nest.
Das Geräusch von knirschendem Glas schwand, die Wände gewannen allmählich wieder an Kontur, die unbändige Wut blieb. Nika sackte ein wenig in sich zusammen und Fiete lockerte den Griff, als die Türe aufflog. "WAS bei Kra’thors stinkendem Bruder ist hier los?", dröhnte Soles Stimme in den Raum. Fiete lehnte sich näher an Nikas Ohr und flüsterte ihm leise zu: "Verschwinde! Ich find dich später." Dann ließ er ihn plötzlich los, wandte sich mit seinem gewinnenden Lächeln herum und flötete: "Onkelchen..."

Seit Nanis Verschwinden war beinahe ein halbes Jahr vergangen. Herbst und Winter waren verstrichen, der Frühling verwirrte die Menschen wieder einmal mit seiner sanften Wärme und milden Düften, doch blieben die Nächte noch immer eisig. Nicht, dass es für Nika irgendeinen Unterschied gemacht hatte. Es beeinflusste lediglich die Temperatur im Loch.
Nika entglitt nach und nach die Kontrolle über sich selbst. Er konnte es in sich selbst beobachten und spüren. Er bemerkte wie sein bewusstes Ich nach und nach mehr zersplitterte und auseinanderdriftete, entlang von Rissen, die sich nun schon über Jahre in seinem Inneren ausgebreitet hatten. Teils war er unfähig etwas dagegen zu tun, teils sogar unwillig. Meist allerdings war er noch zurechnungsfähig, bereit und fähig zu lernen, Herr seiner Selbst.
An manchen Tagen allerdings, bisweilen auch nur für ein paar Stunden oder Augenblicke, sperrte sich alles in ihm gegen alles. Es war wie ein gleißend blendender Fleck, der mit nur einem Impuls alles bewusste Denken übernahm. Jeder Atemzug wurde zur Qual, Feuer loderte in seiner Kehle, ein glühender Nagel bohrte sich in seinen Schädel, seine Muskeln brannten, ihm war speiübel, ihm war heiß, er fror. Dann hasste er sich, er hasste alle, er wollte alle zerreißen und zerfleischen, zerbeißen. Er tobte, er schrie, er wütete. Er war außer Kontrolle, ein wildes Tier ohne Hemmung.
In jenem Geisteszustand zerstörte er die Einrichtung und griff jeden und alles an, was sich ihm in den Weg stellte. So hatte er einen anderen Jugendlichen aus dem Fenster geworfen, weil dieser ihn weibisch genannt hatte. Einem Lehrer für Etikette hatte er wegen eines Scherzes über den Unwert von Huren einen Federkiel durch die Hand gestochen und den Kiefer gebrochen. Und es genügte nicht, es genügte niemals. Er hätte nicht so viel fressen können wie er kotzen wollte. Alles war unerträglich.

Selbst in Zeiten, wenn Nika sich beherrschen konnte, spürte er die Wut und den Hunger, fühlte sie wie Wahnsinn, der in ihm aufstieg. Häufig trieb er sich nach Einbruch der Nacht in der alten Hafenkante herum, auf der Suche nach Schnaps und Streit, für beides stets eine kurze Suche. Mittlerweile wurde Nika seit mehr als zwei Jahren trainiert und war abgehärtet gegen körperliche Schmerzen, mit seiner Größe und Kraft war er selbst in dem gefährlichen Viertel nicht das leichte Opfer, das seine zarten Gesichtszüge vermuten ließen.
Nika suchte nach den kleinsten Anlässen, Respektlosigkeiten, Beleidigungen, Blicke genügten ihm. Rasch hatte er in der alten Hafenkante den Ruf ein tollwütiger Hund zu sein, weshalb ihm die meisten Einwohner aus dem Weg gingen. Dennoch fand er stets Gegner, besoffene Raufbolde, streitsüchtige Matrosen, auch wagemutige Draufgänger aus anderen Vierteln, die in die alte Hafenkante kamen, um sich zu beweisen. Er gab nie auf, er kämpfte über die Grenzen seines Körpers hinaus ohne Rücksicht auf diesen zu nehmen. Mittlerweile fiel es ihm nicht mehr schwer im Kampf kein Zögern und keine Skrupel walten zu lassen. Trotz seiner Jugend war er ein unberechenbarer Gegner geworden. Nika warf sich allerdings wahllos in die Kämpfe, auch jene, die er unmöglich gewinnen konnte. Es war ihm gleich, ob er siegte oder verlor. Er wollte nur kämpfen.
Befriedigt nahm er den Schmerz in sich auf, wenn er sich blutend und mit brennenden Gliedern zurück ins Nest schleppte. Keinerlei Kraft mehr zu haben betäubte den Hunger für eine Weile.

Kein Jugendlicher im Nest hatte so oft aufbegehrt, so oft Nein zu Onkel und Tante gesagt, so hemmungslos getobt und gewütet. Und keiner ihrer "Schützlinge" hatte jemals so viel Prügel bezogen wie Nika. Er war eigentlich immer verletzt, grün und blau geschlagen, hinkte oder kurierte irgendeine Blessur, meist verborgen unter der Kleidung. Dennoch schienen die Strafen und Maßnahmen keinerlei Wirkung zu zeigen. Es geschah immer wieder. Nika trotze allem.

Schwer zu beugen, kaum zu biegen, gebrochen wertlos.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 20 Mai 2022 16:04    Titel:
Antworten mit Zitat

Fiete und die anderen

Fiete stellte die Whiskyflasche auf dem Tisch ab und schenkte beide Gläser randvoll. "Das wird dir noch eine Weile nachhängen, Kleiner. Wäre es bloß irgendeine andere Fummel gewesen als Tantchen...", meinte er recht beiläufig und prostete ihm zu. Nika antwortete nichts und griff sich das Glas. Wenn Fiete mit ihm in eine der Hafenkneipen ging, bekam er guten Schnaps, nicht den billigen Fusel oder Kehlenschlitzer, den er sich besorgen konnte. "Tantchen hat dich verteidigt, als Sole dich deswegen wegschicken wollte." Fiete betrachtete Nika einige Augenblicke abschätzend, dann verzog er das Gesicht, offenbar verstehend, und hob er sein Glas an, um dem Jüngeren zuzuprosten. "Auf Qualm, du blöder Nerbelo!"
Wenige Stunden später, als Nika das angenehm wattige und verlangsamende Gefühl des Alkohols in seinem Kopf spürte, wurde der Hunger allmählich taub. Fiete hatte bedeutend weniger getrunken als er, war aber dennoch schlimmer beieinander. Er vertrug einfach keinen Alkohol, deshalb trank er fast nie. Nika fragte sich bisweilen wie er alles ertragen konnte. Schon seit sie als Kinder durch die alte Hafenkante geschickt worden waren und sich niemand einen Dreck um sie geschert hatte, hatten sie beide alles andere als ein leichtes Leben gehabt. Rückblickend war es damals erträglicher gewesen. Besser zumindest denn als Stück Fleisch betrachtet zu werden oder leere Hülle für die Ambitionen anderer.

Noch immer lebten Fiete und Nika in ihrer stillen Übereinkunft. Seit Fiete vor etwa vier Jahren aus dem Nest ins Bordell gezogen war, um dort zu lernen und anzuschaffen, waren Treffen selten geworden. Sie hatten niemals offen und unbeschwert miteinander sprechen können, schon als Kinder hatten sie begriffen, dass Wände Ohren hatten. Damals hatten sie gelernt sich anders zu verständigen als mit Worten. Nun, mit Fietes erworbenem Wissen, Können und dem damit verbundenen Aufstieg in der Hierarchie des Schlamms der Hafenkante, genoss er mehr Freiheiten. Zudem war er geschickter darin sie sich zu erschleichen, ergaunern oder erlabern. Nachdem Nika sich wiederum meist nicht um die Folgen seines Handelns scherte, trafen sie sich dieser Tage öfter und gingen trinken, lachten sich Mädchen an oder zogen irgendwelche Trottel ab. Vorwiegend sprach Fiete für sie beide, Nika hielt sich im Hintergrund. Die Menschen mochten Fiete, er wirkte fröhlich, leichtfertig und offen. Idioten!
Nika wusste, dass er selten etwas ohne Berechnung tat und sagte. Er konnte seinen Hunger sehen, er konnte den Hunger in ihnen allen sehen. Jedes Leben schien sich danach auszurichten, manche Menschen waren gieriger, andere dezenter, aber das Begehren war überall. Nika begann sie zu beobachten. Nicht nach den Kategorien von Onkel Sole und seinen Göttern, selbst wenn dieser damit nicht Unrecht hatte, er konstruierte seine eigenen Richtlinien ohne Schubladen. Winzige Abweichungen konnten eine Sehnsucht vollständig abwandeln. Was Menschen sich wünschten war selten das, was sie wirklich befriedigte.

Es war nach Mitternacht, als die beiden die Schenke verließen und durch die Sandstraße in Richtung Oberstadt schlenderten, wo sich der Karminpelz befand, ein gehobenes Bordell von Siebenwacht und Fietes derzeitige Wohn- und Arbeitsstelle. Wie so oft scherzte Fiete angetrunken darüber Nika in die Kiste bekommen zu wollen, wie so oft war es gerade nur ein Scherz, doch wusste der Jüngere, dass sein Begleiter es bei Gelegenheit auch ohne Zögern umsetzen würde. Fiete war der Einzige, dem er erlaubte so zu sprechen. Vermutlich, weil er auch der Einzige war, der verstand, was für Nika dahintersteckte. Sie passierten die Eisgrube, als sich die Härchen in Nikas Nacken aufstellten und daran wie sich Fietes Schritte plötzlich veränderten, konnte er erkennen, dass dieser dasselbe wahrnahm. Ein Scharren erklang von der Seite, dann ein Wispern. Nika fuhr herum, als er schon von etwas mit der ungehemmten Kraft eines galoppierenden Stieres umgerissen wurde. Verschwommen sah er einen dunklen Schemen, dann wurde sein Kopf mehrmals auf das Kopfsteinpflaster gerammt und es wurde schwarz.
Von weit entfernt drangen einzelne Worte an sein Ohr. "... angelegt... dreister..." Sie klangen wie unter Wasser gesprochen, sonderbar langgezogen. "... schicken Grüße, Fiete..." Fiete. Es kostete ihn Anstrengung die Augen aufzuschlagen, sein Kopf dröhnte. Das Gefühl war vertraut. Der bekannte Geschmack von Blut. Nika drehte sich langsam auf die Seite.
In der Eisgrube erblickte er vier Gestalten. Vor Fiete, dessen Umriss er sogleich erkannte, standen drei Männer, hinter denen dessen gedrungene Statur geradezu unscheinbar und zart wirkte. Einer der drei, die unzweifelhaft als angeheuertes Mordsgesindel zu erkennen waren, war riesig und von geradezu bullenartiger Statur. Einer war hager und groß, der dritte etwas kleiner, doch breit gebaut.
Nika richtete sich eilig auf, der Schmerz bohrte sich scharf in seinen Schädel. Er kämpfte die Übelkeit nieder. "... bezahlst du deine Schulden, dreckige Hure", zischte der Kleine. Nika schlich an den Rand der Gasse, noch hatten sie ihn nicht bemerkt. Nun hob der Bulle seinen Knüppel und trat auf Fiete zu. Nika wollte losrennen, seine Beine versagten und er sackte auf die Knie. Schwindel überkam ihn, als sein Blickfeld klein wurde. Nein.
In Erwartung eines dumpfen Aufpralls erklang das sonderbarste Geräusch: Fiete lachte. Nein, nicht Fiete! Jemand mit seiner Stimme. Abrupt brach das Lachen ab, dann ein Rumpeln und das Scharren von schnellen Schritten. Nika hörte das leise, doch unverkennbare Geräusch wie eine Klinge in Fleisch gerammt wurde, nicht einmal, nicht zwei Mal, sondern viele Male, rasch hintereinander, ohne Zögern, ohne Zurückhaltung. Allmählich nahm die Szene wieder Kontur an. Der Bulle stürzte beiseite wie ein gefällter Baum und gab den Blick auf Fiete frei. Seine Haltung hatte sich verändert, er stand sehr aufrecht, reglos. In jenem Augenblick wusste Nika, dass es nicht mehr Fiete war.

Es war bereits etwa zwei Jahre her seit Fiete ihm wie beiläufig erzählt hatte, dass er mehrere Persönlichkeiten in seinem Körper vereint habe. Wenngleich er sie ihm nicht alle aufgezählt hatte, erkannte Nika einige von ihnen mittlerweile wieder. Der Wechsel war fließend, anderen fiel es zumeist nicht einmal auf. Nur vor einem hatte Fiete ihn gewarnt: Askan. Nika wusste Askan würde auch ihn töten, wenn er die Gelegenheit hatte.

Askan wischte seinen Dolch an der Kleidung des dritten Kerls ab. Auch der Bulle hatte mittlerweile aufgehört zu gurgeln und lag tot auf dem Pflaster. Nika kniete noch immer am Rand der Gasse und starrte auf die Szene. Er hatte in der Hafenkante schon viele Kämpfe und Messerstechereien gesehen, doch war Askans Können unbestreitbar. "Und was haben wir da noch? Eine zarte Jungfer hat sich des Nachts auf ihrem Weg verirrt", wisperte Askan kühl ohne den Blick gleich auf Nika zu richten, "Fiete mag dich. Ich nicht. Ich denke du störst nur, du hältst ihn auf. Du bist ein Ballast!" Nika drückte sich langsam auf die Füße, erneut überkam ihn Schwindel. Er wippte leicht, schloss die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, um seine Verfassung einzuschätzen. Er würde nicht weit kommen, wenn er laufen würde. Er wusste nicht, ob er Askan gewachsen war. Nach dem was er gerade gesehen hatte...
Askan erschien so rasch vor ihm, dass er sich nur noch nach hinten fallen lassen konnte, als dieser nach ihm stach. Dennoch erwischte ihn die Klinge am Bauch und zog eine blutige Spur. Askan kniete sich über ihn, der Ausdruck auf dem vertrauten Gesicht war gleichmütig. Nika kämpfte dagegen an als sein Blickfeld wieder klein wurde. "Fiete...", brachte er mühsam hervor. "Fiete ist nicht hier!" Nika sah die Klinge blitzen und riss den Arm hoch. Askan wirkte kurz überrascht, dass der Jüngere seinen Streich abblocken konnte, lehnte sich dann aber einfach weiter vor. Mit dem zusätzlichen Gewicht senkte sich die Klinge allmählich weiter herab. Die Spitze drang langsam in Nikas Brust und er schrie auf. "FIETE!"
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Askan Fiete Sturmlicht





 Beitrag Verfasst am: 21 Mai 2022 17:17    Titel:
Antworten mit Zitat


Wandlungen

Es war an und für sich ein vergnüglicher Abend gewesen. Trotz Trunkenheit waren ihm einige Beobachter in der Spelunke aufgefallen. Irgendwann aber verschwanden sie von der Bildfläche und er hatte sich darum keine Gedanken mehr gemacht. Dafür sorgte auch der Alkohol. Wann nur kam der Tag, dass er diesen besser vertrug? Er konnte da einfach nicht mit Nika mithalten und hing schon weit vor ihm in den Seilen. Einerlei. Er hörte halt eher auf zu trinken als sein Saufkumpan.

Als sie aufbrachen, um in Richtung Karminpelz war er noch guter Dinge, aber auch auf dem Weg wieder etwas auszunüchtern. Die frische Luft half dabei ungemein. Etwa zeitgleich stellten sich sowohl bei ihm, als auch bei Nika die Nackenhaare auf. Er merkte es daran, dass sein Begleiter sich anspannte und als er sich umdrehte und regelrecht überrannte wurde, wich er selbst schon instinktiv zur Seite aus, entging damit haarscharf dem Angriff, der ihm gegolten hätte. Schlagartig änderte sich alles. Er spürte ihn heraufkriechen und übernehmen, noch bevor er ganz da war, und wehrte sich nicht dagegen.


    “Bastarde!“ Das eine Wort, es kam kalt, sehr leise und viel zu ruhig über seine Lippen. Die gesamte Körperhaltung änderte sich von einem Moment zum nächsten, als er, Askan, übernahm. Das eigentliche Ich, Fiete, war kaum mehr als ein leises Summen im Hinterkopf. Er hörte es nicht, beachtete es nicht. Seine Aufmerksamkeit galt den drei Kerlen vor sich. Ganz beiläufig hatte er bereits zwei Dolche in die Hände gleiten lassen, verborgen in den Ärmeln, in einer Halterung, die sich löste durch eine bestimmte Handbewegung. Ein ganz leises Klicken nur, ein Geräusch, das kaum wahrgenommen wurde, außer es war ganz still um ihn herum.
    Mit lang geübter Präzision flogen die Klingen auf den Linken und auf den Rechten zu, gezielt auf Stellen, die töten konnten oder nur verletzten und außer Gefecht setzen, wenn er nicht so sauber treffen sollte. Gezielt gewählte Stellen, auf die er lange, Stunden, Tage, Wochen und Monde hingearbeitet hatte, sie fast schon im Schlaf besser zu treffen als alle anderen. Die zwei fielen um, wie Handspielpuppen, denen man die Fäden gekappt hatte. Das Ganze hatte nicht mal zwei Herzschläge gedauert.

    Der größte Brocken stand aber schon vor ihm, zu schnell, als dass er sofort noch die dritte Waffe hätte ziehen können. Aber er sah etwas, was der andere nicht verbergen konnte. Die Angst in seinen Augen. Dass er die andern zwei so fix ausgeschaltet hatte, war nicht ohne Eindruck geblieben. Dass der Hüne nicht abließ von ihm, sagte ihm darüber hinaus, dass sie einen Auftrag hatten, entweder Nika oder ihn auseinanderzunehmen oder beide. Die Frage war, warum? Tantchen? Steckte das dahinter? Möglich. Genauso wusste er aber, dass der Bastard vor ihm nichts sagen würde. Ihn zu verschonen, machte also keinen Sinn. Und da kam auch schon der erste Hieb, der ihn traf, mitten in die Magengrube, was ihn schwer aufkeuchen ließ, als ihm der zuvor gesoffene Alkohol fast schon hochkommen wollte. Das allein fachte die Mordlust in ihm noch mehr an. Er gönnte sich und seinem Körper kein Pardon, steckte noch zwei Schläge ein, dann hieb er dem Hünen den dritten Dolch zwischen die Rippen. Genauso präzise, ohne jede Theatralik. Der Bulle fiel zu Boden wie ein Sack Kartoffeln. Er wischte den Dolch an dessen Klamotten ab, sah noch kurz nach den anderen beiden, die inzwischen ebenfalls ihren letzten Atemzug getan hatten.
    Da gab es nun nur noch einen auf seiner Liste der Anwesenden, der seiner Meinung nach ausgeschaltet gehörte. Fietes dreckiger Saufkumpan. Seine Schwäche, sein Ballast, sein unnötiger Hemmschuh. Es ging recht schnell. Er hörte ihn nach Fiete rufen, spürte, wie selbiger anfing gegen ihn, Askan, anzukämpfen im inneren. Rabiat drängte er ihn zurück, ging weiter auf Nika los, als der regelrecht den Namen schrie. Dabei wollte er gerade den Dolch richtig versenken. Er war noch nicht fertig! “Stirb!“ brachte er gerade noch raus, da ließ er den Dolch los.


Er atmete schwer durch, angestrengt, die Augen geweitet vor Schreck und Entsetzen im ersten Moment. Ein Zittern überkam ihn, dass er zunächst nicht in den Griff bekam. Nichts bekam er in den ersten Momenten in den Griff. Auch nicht die Tatsache, dass er immer wieder vor sich hinlamentierte „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid!“ Mal leise, mal schrie er es fast, mal befand er sich an der Grenze zur Hysterie. Dabei starrte er unentwegt Nika an, achtete nicht darauf, ob jemand von dem Tumult aufgeschreckt worden war oder nicht.
Er brauchte eine ganze Weile, bis der Atem sich beruhigte, das Zittern nachließ, dann erst ging er wieder auf Nika zu, steckte den Dolch weg und half ihm auf die Füße. „Ich bring dich zum Karminpelz, die sollen sich um dich kümmern. Wir müssen eh hier weg.“ Der Verstand setzte ein und mit einiger Mühe verfrachtete er seinen Freund, seinen Bruder ins Bordell und übergab ihn der Obhut eines der Mädchen, das sich mit der Wundversorgung auskannte.
Noch nie hatte er sich nach einer Sauferei so stocknüchtern gefühlt wie in den Momenten, seit die Schlägerei losgegangen war. Mit einem Zähneknirschen vertraute er Walante an, dass da drei Leichen auf dem Weg rumlagen, um die er sich nicht hatte kümmern können. Sie handelte umgehen und schickte ein paar Jungs los, das Problem zu beseitigen. Wie es genau dazu gekommen war, verschwieg er, sie fragte nicht weiter nach. Das war eine stille Übereinkunft zwischen den beiden, seit er hier arbeitete. Sie würde fraglich Gefälligkeiten dafür verlangen, aber da hatte er nun einmal keine Wahl.

Als Nika versorgt war, nahm er ihn mit auf sein Zimmer, schloss ab, damit sie sich ausruhen konnten. Getränke hatte er mitgenommen, insbesondere für ihn. Und so sehr er sich wünschte schlafen zu können, die Nacht über fand er nicht hinein. Nika war im Grunde alles, was er hatte. Und fast wäre es dem Mörder in ihm gelungen, ihm das auch noch zu nehmen. Allein diese Erkenntnis brachte ihn wieder zum Zittern.


Zuletzt bearbeitet von Askan Fiete Sturmlicht am 21 Mai 2022 20:32, insgesamt einmal bearbeitet
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 14 Jun 2022 19:48    Titel:
Antworten mit Zitat

Der Duft von Pfirsichen

Die Nacht der Seelenlichter kehrte wieder. Vier Jahre war es nun her, dass Nika mit Iana das Fest besucht hatte und wie jedes Jahr verließ er mit Einbruch der Dunkelheit zu diesem Ereignis das Nest. Er durfte das Anwesen abends berechtigt nur zwei Abende die Woche verlassen, doch wie immer scherte ihn die Vorgabe nicht.
Onkel schien sich mit Nikas Ungehorsam und Willkür allmählich entnervt abzufinden, sofern er denn immer wiederkam und seine Unterrichte und Lehren annahm. Sole hatte alle körperlichen Strafen mit dem Halbstarken mehrfach durch, selbst Erpressungen, Essensentzug oder die Übertragung seiner Strafen auf andere Kinder im Nest zeigten keinerlei Wirkung. Dafür offenbarte Nika allmählich wachsendes Talent für seine ihm zugedachte zukünftige Aufgabe; - er war klug und findig, er lernte rasch und konnte Menschen gut einschätzen. Zudem vermochte er es mittlerweile im Handumdrehen eine glaubhafte Rolle anzunehmen, die offener und leichter zugänglich war als seine wahre Persönlichkeit, spielerisch und auf eine provokante Art charmant. Onkels Abwägung des Für und Wider von Nika hatte wohl ergeben, dass sein Nutzen seine Mängel aufwog oder zumindest später aufwiegen würde.

Wie so oft sah der Aufpasser an der Tür also zufällig weg, als Nika auf die Straße trat. Der Halbstarke hatte ihm vor einigen Monden das Schlüsselbein gebrochen, seither versuchte er auch gar nicht mehr mit dem Jüngeren zu diskutieren oder ihn zurückzuschicken. Nika ging langsam, er vermied es unnötig Kraft zu verschwenden, doch kaschierten langsame Schritte auch besser Bewegungsentlastungen von Wunden oder Prellungen. Derzeit war es eine handtellergroße Prellung am unteren Rippenbogen, die er auskurierte.
Als er in die Färbergasse einbog, vernahm er die entfernte Musik und das Stimmengewirr des Fests, was wie das Summen von Bienen klang. Er spürte ein leichtes Kribbeln im Nacken, unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte. Die Sinnesempfindung wurde stärker und einem plötzlichen Impuls folgend fuhr er herum und sah den dunklen Weg hinab. Er hatte nichts gehört, nichts gesehen, da war auch kein Schatten und dennoch... Nika hatte ein überaus feines Gespür entwickelt. Wenn man ständig beobachtet und belauscht wurde und Gefahr lief jederzeit zum Opfer zu werden, wenn jede Unachtsamkeit und jedes Zögern unwägbare Konsequenzen bedeuten konnten, lernte man schnell. Und hier war etwas verdammt faul! Nika schmälerte die Augen und lauschte angestrengt, doch das ferne Summen übertünchte mögliche leise Geräusche. Er war im Nachteil. Das warme Licht der Hafenstraße war nicht fern, Nika konnte die schattenhaften Bewegungen der Menschenmassen sehen. Er warf sich herum und rannte los. Aus dem Augenwinkel nahm er eine entfernte rasche Bewegung wahr, er fühlte keinen Schmerz, als sich die geworfene Klinge in seinen unteren Rücken bohrte. Mit einem Sprung erreichte er Straße und bog gleich im Lauf ab.
Angestrengt kämpfte Nika sich die Stufen zur kleinen Dachbodenkammer von Marea hoch. Diese war zwar keine Heilerin, kannte sich aber gut mit der Versorgung von Verletzungen aus. Wenn sie nicht völlig drauf war und in anderen Welten schwebte. Nika bezahlte sie mit Mohnsaft. An diesem Abend allerdings war sie nüchtern. Marea entfernte die Klinge und reinigte die Stelle gründlich. Nika spürte die Einstiche der Nadel nicht, die die Wunde verschlossen. Dann spürte er seine Finger nicht mehr, ein taubes Kribbeln in seinen Unterarmen und Füßen. Er konnte wahrnehmen wie sein Atem langsamer wurde. Rasch richtete er sich auf... Nein, er tat nichts. Er rührte sich gar nicht, lediglich ein kraftloses Seufzen ging über seine Lippen, während seine Gedanken rasten.
Leere, graue Augen. Seine Finger verkrampften sich, seine Glieder überspannten sich. Er war am Arsch, er war völlig am Arsch! "Tut mir leid, Nika", drang noch Mareas bedrückte Stimme bis in sein Bewusstsein vor, dann verschwammen die Konturen. Alles wurde dumpf und grau und leer.


"Cheol", echoten die tanzenden Blätter im Wind, rauschend im Sonnenlicht. Keine Erinnerung und keine
Vergangenheit. Ich konnte mit einem Mal atmen. Schemenhaft schob sich ihr Antlitz vor den goldgrünen
Lichtertanz, ihre Gesichtszüge so rein und leuchtend. Das sanfte Lächeln auf ihren Lippen verkrampfte
mein Herz, der Schmerz schmeckte süß und zäh. Honig. "Du solltest nicht hier sein, mein Liebstes."
Ihre Stimme füllte mich. Nur die Farbe ihres Klangs durchdrang jede Faser meines Körpers. Ich
spürte in jenem Moment wie schmerzhaft die Vakanz gewesen war, wenngleich ich keine Erinnerung
daran hatte, warum sie überhaupt existiert hatte. Ihre Hand strich beruhigend meinen Arm
hinab und ich schloss meine Augen. Ich war sicher bei ihr. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie flüsternd
sprach, die Trauer darin traf mich unvermittelt: "Nika, ich bitte dich um Verzeihung. Ich hatte geschworen
dich zu beschützen. Ich habe versagt, ich spüre das Echo deines Schmerzes."
Ich hob den Kopf, wollte ihr widersprechen, wollte ihr das Leid nehmen, ihr zusichern, dass sie es
gewesen war, die alles Licht und jede Farbe in meine Welt gebracht hatte, doch versagten alle
Worte bei ihrem Anblick. Niemals zuvor hatte ich etwas vergleichbar Schönes erblickt wie ihr
Antlitz in jenem flüchtigen Augenblick, jener einen Lebenszeit, jener Ewigkeit, überschattet vom
Leid des Vermissens. Sie zog mich in ihre Arme.
Sie roch nach Pfirsichen. Segen und Balsam, ihr Duft.

Feuer ergoss sich in meine Adern, der Schmerz erfasste mich unvermittelt. Ich japste, Sandkörner
rannen in meinen Mund und meine Nase. Das Licht war fahl und farblos... es warf gemusterte
Schatten auf das Gras... Pfirsich und dann Salz.
"Es ist noch nicht Zeit...", flüsterten die warmen Sonnenstrahlen.


Nika schlug die Augen auf. Jede einzelne Faser seines Körpers schmerzte, dennoch war in seinen Gliedern noch die Taubheit des Gifts verhaftet. Das Atmen war anstrengend, es schien das schwierigste der Welt zu sein. "...hatte eigentlich gedacht ich könnte das gleich in der Gasse beenden. Hatte einen guten Riecher, fast ein wenig schade!" Nika konnte Steinquader sehen, halb bedeckt von Sand, er hörte das Rauschen der Wellen, es roch nach Salz und Fisch. "Wann is' nu' diese verdammte Flut am höchst'n? Für die Leiche wird sich doch eh keiner int'ressier'n, selbst wenn er gleich wied'r angespült wird! Ich bin müd'. Werf'n wir ihn rein und hau'n ab!" Das Licht war fahl und grau, es musste früher Morgen sein, bevor sich die Sonne über den Horizont gehoben hatte. Nika konnte die Stimmen von zwei Männern unterscheiden, eine klang jünger als die andere. "Der Auftrag war doch klar, Hotar! Die Schwingen wollen, dass er spurlos verschwindet! Wollen sich wohl nicht mit den Kinderschleifern anlegen", erklang die Stimme des Jüngeren. Nika drückte seine Fingerspitzen fester gegen das körnige Gestein, er wagte nicht sich mehr zu bewegen. Offensichtlich dachten die beiden er wäre bereits tot und die Chancen standen gut, dass dies noch eintreten würde. "'Ch sag's ja nur... Versteh' eh nich', warum ihre angeblich so mächtige... wie nannt'n die sie? Magatrantin oder was... diese Tiefenstein... überhaupt so ein'n schmächtig'n und bedeutungslos'n Beng'l tot seh'n wollt'. Is' 'ne Verschwendung, sag' 'ch dir, Peran!“ Sehr langsam führte Nika die Hand an seinen unteren Rücken. Die kleine Klinge war noch da! "Magistratin. Und es ist völlig gleich, ob es Verschwendung ist oder nicht. Auftrag ist Auftrag. Bringen wir das hier zu Ende, höher wird das Wasser nicht mehr. Hast du das Blei dabei?" Ein Scharren von Füßen.
Nika schloss seine Augen und zwang sich ruhig und tief zu atmen. Wenn seine Glieder versagten, war er tot. Selbst wenn er sich bewegen konnte, standen seine Chancen nicht gut. Unvermittelt kochte Wut in seinem Bauch hoch. Das Brennen in seinen Muskeln wurde stärker. Er würde es Kra'thor schwer machen seine Seele zu verschlingen! Mochte er daran ersticken wie andere, die den Hals nicht vollkriegen konnten. Wie ihr wollt...

Die Morgensonne beschien gleichmütig die toten Körper von Peran und Hotar auf der Kaimauer des Schieferstrands.
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 12 Jul 2022 19:39    Titel:
Antworten mit Zitat

Blessenkiem

Es dauerte knapp einen Wochenlauf bis das Gift soweit aus Nikas Körper gewichen war, dass er sich wieder sicher bewegen konnte und nicht regelmäßig von heftigem Schwindel und Übelkeit erfasst wurde. Doch spürte er noch für die nächsten Monde ab und an ein taubes Kribbeln in seinen Fingerspitzen und Zehen, das sich nur ganz allmählich ausschlich.
Nika konnte all dies nicht vor Sole und Sanna verbergen. Er war an diesem Morgen blutbespritzt und unkontrolliert zitternd auf der Schwelle des Nests zusammengebrochen und hatte die nächsten drei Tage im Delirium zwischen Bewusstlosigkeit, Schlaf und wirrem Irrsinn verbracht. Die meiste Zeit davon litt er unter dem unkontrollierten Lodern des Gifts in seinen Adern und den Krämpfen, mit denen sein Körper sich dagegen wehrte. Am Abend des vierten Tages erzählte er Onkel und Tante von den Geschehnissen, ließ aber alles weg, was er über den Auftrag und die Grauen Schwingen erfahren hatte. Er wusste selbst nicht genau, warum, doch wusste er, dass er Zeit brauchte, um das Wissen und seine Gedanken zu ordnen. Sanna strich ihm unaufhörlich über den Rücken bei dem Bericht; - die Übelkeit wurde wieder stärker.
Tage und Wochen verstrichen ereignislos. Marea verschwand, ihre Kammer wurde geräumt. Nika wusste nicht, ob die Schwingen, Onkel und Tante oder Fiete dahintersteckten. Er fragte nicht, es scherte ihn nicht. Er hätte an ihrer Stelle sein können, er wäre es beinahe gewesen. Wenn man das Spielbrett einmal betreten hatte, gleich ob erzwungen oder aus freien Stücken, gewann man oder man verlor. Und, wenn man verlor, dann immer im großen Stil. Marea hatte verloren, es gab keinen Grund deswegen dramatisch zu werden. Keiner würde es werden, wenn es Nika passierte. Vielleicht sein Bruder...


Nika spürte die missgestimmten Blicke auf sich, als er das junge, blonde Mädchen im Tanz drehte. Sie hielt sich etwas mehr an ihm fest als es nötig gewesen wäre und er schenkte ihr ein offen anmutendes Lächeln. Sie kicherte vergnügt. Als das Lied endete, führte er sie an seinem Arm vom Erntefeuer weg zu ihrem Platz zurück. Ihr Bruder oder sonst wie Anverwandter stierte ihn finster an, während das Mädchen ihn mit einem hoffnungsglimmenden Blick ansah. "Ich bin Venia...", plapperte sie rasch und setzte schnell nach, "Rotdorn. Venia Rotdorn, Schneidergesellin in der Näherei Heranth. Unser Vater ist Lagerwart am..." "Venia!", unterbrach sie ihr Bruder unwirsch. Nika unterdrückte ein Schmunzeln und neigte stattdessen seinen Kopf in ihre Richtung. "Es ist mir eine Freude, Fräulein Rotdorn. Und ich danke für den erfreulichen Tanz!" Er nickte nochmal zu ihrem Begleiter, ehe er sich herumwandte und losschritt. Er fühlte wie sie ihm betrübt nachsah.

Es war Ende Goldblatt und der Tag des Erntefests, welches die Fastentage im Namen der Heiligen Brynn beendete. Im mittelständigen Handwerkerviertel von Siebenwacht wurde großzügig geteilt, Bier und Spanferkel gab es reichlich. Musiker spielten auf, Tänzer drehten sich um das hoch aufschlagende Lagerfeuer auf dem Platz. Die Stimmung war nun, zur fortgeschrittenen Abendstunde, ausgelassener, die erste Streiterei war geschlichtet, das erste, frische Paar heimlich in der Seitengasse verschwunden und die allgemeine Stimmung kippte sehr langsam von dem formlosen, doch besonnenen Festvergnügen hin zur trunkeneren, hungrigen Dämmerungsfeier. Die Gefühle der meisten Feiernden lagen nun sehr viel dichter unter der Oberfläche, schlechter verborgen, doch befanden sich die meisten noch nicht in einem umnebelten Geisteszustand, der das Extrem ihrer Handlungen und damit auch Unberechenbarkeit bedeutete. Onkel nannte es die Blessenkiem, es war die Stunde, in der Nika zu handeln gelernt hatte.
Gemächlich überquerte er den Platz. Ein junges, angetrunkenes Mädchen "rempelte" ihn auf seinem Weg an und lud ihn mit einem honigsüßen Lächeln ein mit ihr zu trinken. Nika lehnte höflich ab und trat am Eingang einer Seitengasse in eine kleine, dunkle Laube. Er musste nicht lange warten. Es war nicht so, dass es ihn wirklich überraschte, dennoch befremdete es ihn noch immer wie präzise sich menschliches Handeln vorhersagen und beeinflussen ließ. Und wie leicht sich manche Menschen mit kleinen Stellschrauben lenken ließen.

"Atean?", erklang wispernd eine helle Stimme. Sie gehörte Florine Tannstedt, Tochter eines reichen Rohstoffhändlers, Ehefrau eines geedelten Stadtschreibers, Vorsteherin einer wohltätigen Vereinigung abgestumpfter Hausfrauen zum Wohl von Waisenkindern in Siebenwacht, überaus naiv und gelangweilt von ihrem Leben. Gelangweilt genug um mit knapp Dreißig in einen fast nur halb so alten, hübschen und vermeintlich unschuldigen "Waisenknaben" völlig vernarrt zu sein.
"I...ich bin hier", flüsterte Nika gedämpft, wobei er seine Stimme mit Absicht unstet klingen ließ. Sie war sogleich über ihm, schob ihn gegen einen Pfosten der Laube zurück und küsste ihn gierig. Sehr langsam hob er seine Arme neben ihrem Körper an, als zögere er in der Bewegung, dann umschlang er sie fest und zog sie dicht an sich. Ein sehnsüchtiger Laut schwang in ihrer Kehle, als er den Kuss leidenschaftlicher werden ließ und sich seine Fingerspitzen in ihren Rücken drückten. Nika spürte wie ihr Körper weich wurde und sie sich an ihn schmiegte. Sie langweilte ihn. Er führte seine Hände von ihrem Rücken auf ihren Hintern hinunter, wobei er einmal zittrig seufzte. Wie erwartet löste sie den Kuss daraufhin und sah mit einem kecken Schmunzeln zu ihm hoch, wenngleich Nika der vordergründige Hunger in ihrem Blick eher ins Auge fiel.
"Mein schöner Junge, wolltest du mich ärgern, als du mit dieser jungen Pute getanzt hast, hm?", fragte Florine mit einem vermeintlich belustigten Unterton in der Stimme, dabei war sie alles andere als amüsiert darüber. Bestimmt schüttelte Nika den Kopf und beteuerte eilig: "D...das würde ich nie, es war nur, weil sie die Tochter von... Ich würde Euch nie ärgern, Frau Tann... ich meine..." Er stockte und sah sie einige Momente still an, ehe er ruhiger und in festerer Stimmlage anfügte: "Florine." Ihr Blick wurde sanft, sie streckte sich zu ihm hoch und küsste ihn erneut verlangend. "Oh, Atean, deine Lippen...", säuselte sie undeutlich. Nika unterdrückte den Impuls entnervt zu schnauben und die Augen zu verdrehen. Es war an der Zeit das zu beenden.
Mit einer Hand packte er ihr Gesäß fester und zog sie ein Stück weit an sich hoch, mit der anderen strich er fahrig ihren Rücken hoch und zupfte an der Schnürung ihres Gewands. Er drückte sich verlangend gegen sie und gab ein angestrengtes Keuchen von sich, als er seine Glieder anspannte, um ein Zittern vorzutäuschen. Sie stöhnte wohlig als Erwiderung auf sein vermeintliches, jugendlich-unkontrolliertes Verlangen. Nika öffnete die Bänder, absichtlich verhedderte sich dabei und zerrte daran. Angespannt packte Florine seinen Unterarm, ihn an Weiterem hindern wollend und raunte mit belegter Stimme: "Nicht hier! Ich will dich auch..." Er küsste sie erneut innig und griff wieder in die Bänderung nach ohne auf ihre Worte einzugehen. Einige Momente versank sie erneut in der Berührung, dann griff sie ihn fester und schob ihn von sich.
"Nicht hier?!", wiederholte Nika aufgebracht, wobei er einen Hauch von Frustration in seine Stimme einfließen ließ, "Nirgendwo, oder? Nie! Du spielst nur mit mir!" In dem Dämmerlicht funkelte er sie an. Florine erwiderte seinen Blick sichtlich zwiegespalten, dann zog sie gequält die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf. "Atrean, wegen dir kann ich wieder atmen. Und ich spiele nicht mir dir..." Sie seufzte schwer, als er nichts erwiderte. "Nagut. Ich beweise es dir, heute Nacht." Sie löste einen Schlüssel von ihrem Bund und reichte ihn zu Nika. "Die versteckte Schreibstube meines Gatten, ich erklär dir den Weg. Sobald er betrunken eingeschlafen ist, komme ich. Warte da auf mich!" Er nahm ihr den Schlüssel ab und zog sie ihn seine Arme.

Wenig später verschwand Florine in Richtung des Fests. Sie wirkte beschwingt und vorfreudig, ihre Schritte verklangen tippelnd auf dem Kopfsteinpflaster. Soles Silhouette erschien im Eingang der Laube. "Gut gemacht! Du bist fast soweit...", meinte er mit einem zufriedenen Nicken, als er Nika den Schlüssel abnahm. Jener schlenderte wortlos an ihm vorbei auf die Gasse. "Ach... Und, Atrean?", setzte Sole dann mit einem belustigten Unterton und hörbarem Grinsen nach, "Ganz herzig!" Nika schnaubte missmutig. "Halts Maul!"
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nika Cytian





 Beitrag Verfasst am: 24 Jul 2022 22:48    Titel:
Antworten mit Zitat

Schnee und Schlamm

Der Winter kam früh im Jahr 257. Bereits Mitte Rabenmond hatten Frost und Eis die Stadt fest in ihrem Griff, wenngleich der Schnee auf sich warten ließ. Wie in jenem, für Nika schicksalhaften Winter vor acht Jahren. Acht.
Jene Zeit des Jahres war für Nika immer besonders unerträglich. Bis zum achten Tag des letzten Monds wurde er immer unausstehlicher, reizbarer und rücksichtsloser, was er versuchte mit Alkohol, mittlerweile auch mit allem anderen, was er in die Finger bekommen konnte, zu betäuben. Es klappte so lange wie er in Ruhe gelassen wurde. Das bedeutete, es klappte nicht. Innerhalb kürzester Zeit war Nika für mehrere Verletzungen, diverse Sachschäden, Streitereien und zahllose Unruhen im Nest zu verantworten. Doch jeder Vorfall, jede Strafe, jeder Versuch ihn unter Kontrolle zu bekommen, ja, sogar jede Interaktion mit ihm, schien ihn nur weiter in seine Tobsucht zu treiben.
Ende Rabenmond schickte ihn Sole in eine ihrer geheimen Unterkünfte, um ihn von den anderen Kindern und Jugendlichen zu trennen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Nika allein war. Sicher war er schon oft isoliert gewesen, einsam vor allem, auf sich gestellt, doch allein, ohne Nähe oder Kontakt zu anderen Menschen, niemals zuvor. Es war purer Luxus, erkannte er. Er war eingeschlossen und fühlte sich doch freier als je zuvor. Er schlief, er betrank sich, er beobachtete die Straße, er schlief, er betäubte sich...
Es war der Nachmittag des achten Tags im Alatner, als der Schnee kam. Das Gewicht der Erinnerungen zerquetschte sein Innerstes und wie die Flocken vor dem Fenster fielen wie von selbst die Bilder vor seinen Augen herab.
Die Lippen fahl und blutleer, ohne alle Farbe. Eine Böe verwirbelte die dicht tanzenden Schneeflocken vor dem Schwarz, Schwindel erfasste ihn. Leere, graue Augen. Schwarze Haare flossen um Schnee. Rote Wände. Zitternd ging Nika auf dem Holzboden auf alle Viere herab und übergab sich. Unkontrolliert krampfend brach er zusammen. Weiß und rot. Das Geräusch von knirschendem Glas. Schwarz.

Es war stockfinster, als Nika erwachte. Der Körper schmerzte bei jeder Regung. Sein Blickfeld wurde klein, als er sich am Fenster hochzog. Noch immer tanzten die Flocken ungerührt fröhlich herab und bedeckten den Schlamm und das Grau Siebenwachts mit pudrigem Weiß. Der Schnee übertünchte die Hässlichkeit, die Härte, die Dunkelheit der Stadt und verschleierte alle Konturen und Wirklichkeiten. Wie so vieles immerzu bedeckt und verschleiert wurde...
Nika seufzte leise. Er wusste, dass die Entscheidung, die er in jenem Augenblick getroffen hatte, weitreichend für sein Leben sein würde. Vermutlich würde er versagen und verrecken, aber es war ihm einerlei. Er musste es tun. Nicht aus noblen Motiven wie Selbstlosigkeit oder Mitgefühl für jene, die ebenfalls unter ihrer Willkür gelitten hatten. Die anderen waren ihm völlig gleich. Es war ihm auch völlig gleich, welche Verbrechen die Schwingen an anderen begangen hatten oder aus welchen Gründen sie taten, was sie taten. Er würde das Syndikat tilgen für diesen einen Fehler, diese eine, geringfügig erscheinende Fehleinschätzung, für sie. Für schmutzige, niederträchtige Rache. Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln.

"Du bist wohl vom Lemm's gepickt, du verschiss'ner Gienlöff'l?!", herrschte Nan den Halbstarken an, nachdem der seine Vorhaben erklärt hatte, "Hat's dir nich' gereicht die alte Trina um die Ecke zu bring'n? Aye, ich weiß Bescheid." Es überraschte Nika nicht wirklich, dass der Alte sich die Geschehnisse jener Nacht vor beinahe zwei Jahren zusammengereimt hatte, doch hatte er es nie zuvor erwähnt. "Nein", antwortete er schlicht. Kraftvoll schlug Nan mit der Faust auf den Tisch, sodass die Gläser und Flaschen darauf einen klirrenden Hüpfer machten. "Vergiss es, Blindgänger! Leg dich nich' mit Leut'n an, die dir über sin'! Die mach'n dich kalt..." Nan schnippte, um zu verdeutlichen wie viel Aufwand es sie angeblich kosten würde, und stierte Nika dabei finster an. "Das hätten sie schon beinah geschafft. Und ich wage zu bezweifeln, dass sie es dabei belassen werden", erwiderte Nika in einem dunklen Tonfall. Der Waffenmeister sah ihn fragend an.
Grüblerisch stierte Nan auf sein Glas, als Nika den Bericht über die Geschehnisse vor gut vier Monden beendet hatte. "Du hast mir beigebracht, dass Angriff die beste Verteidigung ist und, dass man so hart zuschlagen muss, dass..." "Aye", unterbrach der Alte Nikas Worte harsch, "Aber das sin' keine dummen Straß'nprügler, Blindgänger. Du bist vielleicht 'n ganz tauglicher Kämpfer geword'n, aber von Taktik un' Intrig'n haste kein'n Schimmer!“ Nika spürte die altbekannte Wut in sich aufsteigen. "Ich bin kein ahnungsloses Kind, Alter! Ich weiß schon selber, was das bedeutet! Ich..." Unvermittelt traf ihn die gewaltige Rückhand Nans an der Schläfe und ruckte seinen Kopf beiseite. "Schnauze!", knurrte Nan düster und ließ dann eine beruhigende Geste folgen, als Nika aufspringen wollte. "Das is' völlig bescheuert, wenn du mich fragst! Un' du wirst ziemlich sicher dran verreck'n, aber das is' ja deine Entscheidung." Nan goss die beiden Gläser wieder großzügig mit Kehlenschlitzer voll und leerte seines gleich zur Hälfte, ehe er fortfuhr: "Du wirst noch and'res lern'n müss'n als Sole un' seine Lehrer dir beibring'n könn'n. Aye, der is' 'n verdammter Fuchs, aber viel Ahnung von den Feinheit'n der höher'n Syndiakte hat er nich'. 'Ch kenn' da wen, bei dem du anfang'n kannst. Un' auf Dauer wirst du Leute brauch'n, Verbündete, Gewährsleut', Spitz'l... 'nen ganz'n Hauf'n Kohle..." Noch immer stierte Nika ihn verstimmt an. Nan fing seinen Blick auf und lachte lautstark. "Zumindest den Dämon haste schon in dir, du kleiner Scheißkerl! Trink und hör mir zu!"

Einige Tage später machte sich Nika durch den dicht fallenden Schnee auf den Weg zum Karminpelz. Fiete würde immer der Erste und der Letzte sein, den er auf seiner Seite brauchte. Mittlerweile wusste er, dass er darum nicht einmal bitten musste. Dennoch sprach er es zum ersten Mal in seinem Leben aus: "Fiete, ich brauche deine Hilfe."
 Nach oben »
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Alathair - Online Rollenspielshard Foren-Übersicht » Chargeschichten » Wie es euch gefällt
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen Alle Zeiten sind GMT + 1 Stunde
Gehe zu Seite 1, 2  Weiter
Seite 1 von 2

 
Gehe zu:  
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht mitmachen.




phpBB theme/template by Tobias Braun
Copyright © Alathair



Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group
Deutsche Übersetzung von phpBB.de