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Leumarin Quentiver





 Beitrag Verfasst am: 10 Mai 2022 09:59    Titel: Introspektive
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Ein Zyniker hätte vielleicht nicht am Fall Menek'Urs, gewiss aber an der Betrachtung der unversehrten Reste seine helle Freude: Fast die ganze Stadt war ein Schlachtfeld geborstener Mauern und zu Glas geschmolzenen Sandes, hier und dort ragten noch einzelne Reste von Palmen und struppigen Gebüsch hervor, die über Jahre hinweg der Wüste getrotzt hatten um dann letztlich ihr Ende in der Glut von Drachenfeuer zu finden.
Auch jetzt stieg noch Rauch aus unzähligen Glutnestern auf, formte eine dunkle Wolke über der zerstörten Metropole die dort hing wie die drohende Faust eines zornigen Gottes.
Unversehrt geblieben waren der Tempel, die heilige Oase und die Stadtmauern, die nun so eindrucksvoll und sinnentleert dem sich stetig bewegenden Sand der Wüste trotzten, wie ein verlassenes Schneckenhaus.

Wieviele Menschen waren in den Flammen umgekommen, wieviele hatten ihr Grab in den einstürzenden Häusern gefunden, wieviele warteten in verschütteten Kellern darauf zu ersticken oder zu verdursten?
Ein Zyniker hätte die Rechnung aufgestellt, Stein und Pflanzen gegen Leben aufgewogen und all das in Beziehung gesetzt zu Gnade und Urteilen all der höheren Wesen. Und dann gewiss eine tiefe Freude empfunden bei den sich aufdrängenden Schlüssen.

War ich ein Zyniker?

Hier, im Schlachtfeld der Ruinen, bewaffnet mit Schaufel und Hacke, mit Brecheisen und einem unerschöpflichen Vorrat an Flüchen, stetig begleitet von unermüdlich arbeitetenden Menekhanern, schien es nicht so.
Schwere, erschöpfende Arbeit mit ungewohnten Werkzeugen, die mir Schwielen an den Händen hätten aufreissen sollen, im grossen Ausmass fast unüberschaubar, aber gleichsam doch eingegrenzt, eingeschränkt: Dieses Haus, dessen Dach eingebrochen und die Mauern nach aussen gedrückt hatte. Jener kleine Turm, dessen Mörtel unter der Wirkung von Drachenfeuer so porös geworden war, dass er zu Sand zerbröselte, wenn man nur scharf genug hinsah.

Die Anstrengung vertrieb die Gedanken, liess nur Raum für rein mechanisches Funktionieren, bis die Erschöpfung schliesslich zuviel wurde. Mit der Ruhe im Schatten der kargen Stadtmauer kehrten die Fragen zurück, wie eine zuverlässige, unüberwindbare Plage: Warum bin ich hier? Was trieb mich in die Wüste, welchen Zweck hatten die zusammengerollten Karten von Menek'Ur und die Grundrisse des Palastes, die ich irgendwo dort draussen der Obhut der wandernden Dünen überlassen hatte? Für welchen Zweck waren all die mit farbigen Flüssigkeiten gefüllten Phiolen, die schmalen Messer und die trickreich in den Stoff der Ärmel eingewobenen Klingen gedacht? Wer oder was hatte mir diese Wunde zugefügt, die jede Nacht im Schlaf erneut aufbrach, wie ein frischer, sprudelnder Quell aus Schuld? Welche Bedeutung hatten die beiden Silberringe, die ich auch jetzt noch bei mir trug - einer am Finger, der zweite, deutlich kleiner, an einem Lederband? Und welches Schicksal zeigte sich hinter dem unruhige Flirren und Flackern fast der gesamten Stadt?

Keiner der Lebenden Menek'Urs würde mir darauf eine Antwort geben können.
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Leumarin Quentiver





 Beitrag Verfasst am: 12 Mai 2022 11:32    Titel:
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"Wende dein Gesicht der Sonne zu und die Schatten fallen hinter dich.

Aber diese Schatten durchschneiden eine Kehle, wenn man sie nicht im Auge behält."


-----

Der Tag war mit Arbeit gefüllt gewesen und damit geprägt von einer wohltuenden, monotonen Banalität. Es zählte nicht, dass Drachenfeuer in diesen Mauern gewütet hatte, es zählte nicht, dass die Abbrucharbeiten soviel feinen Glasstaub aufwirbelten, dass das Tragen einer Maske unvermeidlich war. Wenn man nicht soweit dachte, wenn man einfach nur auf die eigenen Füße blickte und das, was sich direkt davor befand, war die Welt geordnet und überschaubar, eine Herausforderung in berechenbaren Schritten und akzeptablen Abweichungen.

Das, so erinnerte ich mich, auch wenn der Ursprung der Lehre in den brodelnden Schatten des Vergessen versunken war, war Ordnung: Ein sich selbst stabilisierendes System innerhalb vorhersehbarer Parameter. Wenn man die Aufmerksamkeit von den eigenen Händen löste, fand sich das gleiche Muster in dieser oder jener Form überall woanders wieder, eine Konstante, die damit selbst zum Teil einer größeren Ordnung wurde.
Alle Dinge hatten ihren Platz, ein Schicksal und eine Bestimmung, nicht aus der Zukunft dräuend, wie eine dunkle Wolke am metaphorischen Horizont, sondern in der Vergangenheit wurzelnd und aus dieser wachsend.

Fast alle Dinge.

Eine Abweichung war möglich, wenngleich sich die Erklärung dafür meinem Verständnis entzog: Bisweilen war etwas nicht am richtigen Platz, nicht im richtigen Zustand und die pure Existenz drückte dann Kopfschmerz verursachend auf meine Schläfen.
Mein erster Eindruck von der goldenen Stadt vor dem großen Brand war entsprechend einer von rasendem Kopfweh gewesen, gezeichnet von der Notwendigkeit die Augen abzuwenden, wann immer ein Stück Mauer, ein Ziegel, eine Dachschindel oder einfach nur ein abgestellter Korb in der Unschlüssigkeit einer Abweichung vibrierten.

Tagelang hatte ich gerätselt, was das zu bedeuten hatte, was für eine solch unübliche Anhäufung verantwortlich sein konnte. Mit dem Drachenfeuer waren all diese Überlegungen überflüssig geworden: In einer obskuren Ironie waren die Ruinen Menek'Urs nahezu vollständig im Einklang mit dem Schicksal und der Fortschritt der Räumungsarbeiten änderte daran nichts.

Mit dem Hereinbrechen des Abends nahm die Arbeit rund um die verbrannte Stadt noch zu, Menschen schwärmten wie Ameisen durch das Feld der Ruinen, über bereits geräumte Bereiche, wo neu behauene Steine aufgestellt, Mörtel zusammengemischt und Balken aufgestellt wurden. Die Botschaft war an den Drachen gewiss verschwendet, aber dennoch offensichtlich: Die goldene Stadt mochte verbrannt sein, aber sie war nicht gebrochen, nicht bereit sich in die Bescheidenheit von Asche und Vergessen zu ducken. Wie ein Phoenix würde sie stattdessen aus den Resten auferstehen, vielleicht noch prachtvoller, noch mächtiger als zuvor.

Im gleichen Zuge kehrte auch der Alltag verstohlen ein: Das Leben ging weiter für die Reichen und Schönen Menek'Urs und mit den kommenden Tagen würde der Schmerz schließlich seine Schärfe und Farbe verlieren, bis er nur mehr eine Anekdote in einer gelangweilten Mokkarunde wäre. Auch das: Schicksal.

Ich hatte andere Sorgen.

Nicht einmal bezüglich meines Dienstvertrages, der mehr Wellen schlug, als ich mir an jenem Tag hätte träumen lassen, als ich meine Schuld in Worte fasste. Das Gespräch bei der Academia Arcana war vielversprechend gewesen, hatte aber mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten geliefert, erlaubte meinen Gedanken entlang anderer, bislang unbeachteter Bahnen zu wandern im Versuch der eigentlichen Problemstellung auszuweichen: Natürlich würde ich die Gabe schulen. Gewiss würde ich meinen Teil beitragen.

Aber am Ende lief alles auf die Frage hinaus, warum ich an jenem Tag in der Wüste gewesen war.
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Leumarin Quentiver





 Beitrag Verfasst am: 17 Mai 2022 05:33    Titel: Hinter Gittern
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"Ein Mann, der in Dunkelheit und Stille vom Wasser getragen wird, ist sich der Bewegung nicht bewusst."

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War es Ironie, dass ich vor kaum mehr als Tagesfrist dabei geholfen hatte die Mauern zu errichten, hinter denen ich nun saß? Der Aufbau Menek'Urs ging voran wie die stetige, schmerzhafte Berührung einer gerade erst geschlagenen Wunde, die noch keine Zeit gefunden hatte zu verkrusten, an die zu gewöhnen sich keine Gelegenheit gefunden hatte. Neue Mauern über alten Erinnerungen, geschaffen aus Stolz und Unbeugsamkeit, einem Starrsinn, der keine andere Richtung mehr fand als jene direkt voraus.

Und nun: Ruhe. Freiheit von fremden und selbst auferlegten Pflichten, ersetzt durch die ewige, unverbrüchliche erste Aufgabe eines jeden Gefangenen: Zu entkommen. Warum fühlte sich das so vertraut an, warum weckte der Anblick der kargen Zelle mit der lieblos zusammengestellten funktionalen minimalen Einrichtung so ein vages Gefühl von Nostalgie?

Die auf der Hand liegende Antwort: Weil es vertraut ist, Leumarin. Denke darüber nach.
Denke darüber nach, so wie über andere Reaktionen, die unabhängig von der nüchternen Introspektive erfolgen und ziehe Schlüsse: Was sagen die einzelnen Teile dieses zerbrochenen Puzzles über dich aus. Wer bist du? Warum bist du hier? Ist das dein richtiger Name?

Die Kunst einer jeden Antwort war den Fokus der Frage richtig zu fassen und damit den richtigen Pfaden zu folgen. Nur, dass in meinem Fall das Buch der Erinnerung nur leere Seiten aufwies, Leere, die bislang allen Versuchen widerstand sie mit Inhalt zu füllen.

Aber selbst darin ließen sich Spuren finden.

Die Arbeit in den Ruinen Menek'Urs hatte das deutlich gemacht: Ich war mit der örtlichen Sprache nicht vertraut, auch wenn mir die einzelnen Floskeln leicht von den Lippen gingen. Die Handhabung von Schaufel und Hacke war erschöpfend genug und ich hatte soviel Routine damit gewonnen, dass es nicht meine Berufung gewesen sein konnte, genausowenig riefen die Werkzeuge des Holz- oder Metallwerkers nach mir.
Sie zu berühren flüsterte vielleicht von Ordnung und Bestimmung, aber nichts in mir antwortete. Sie waren fremd.

Der weißblonde Schopf der Berchgarder Heilerin war anders gewesen, aufgeladener, eine Resonanz mit sich tragend, die dem das Gefühls in diesem kargen Raum ähnlich war. Nicht identisch, ähnlich. Was hatte ich gelernt in dieser Zeit, einmal am mittlerweile schicksalsträchtigen Ufer südlich von Menek'Ur, einmal in Berchgard selbst, dessen robuster Charme selbst zwar interessant erschien und eigene Fragen aufwarf, aber keinerlei Vertrautheit erweckte?

Einmal das: Selbst ein Mann ohne Erinnerungen kennt Konventionen und Formen, kann ihnen folgen wie man eingravierten Reflexen folgt. Unter der kühlen, distanzierten Nüchternheit ist mehr als nur kalte Asche, aber es ist gefährlich daran zu rühren, solange man nicht weiß, wie die Glut aussieht. Sie ist da: Verschüttet. Verborgen. Präsent.

Die Konfrontation mit Stolz und Höflichkeit war wie ein langer Stock, der weiße und graue Flocken gleichermaßen aufwirbelte, Strömungen darunter aufzeigend, die sich bereits vorab beim Gespräch mit der Matriarchin der Academia Arcana hatten ahnen: Ich war, offensichtlich, ein neugieriger Mann, allzu bereit jede Beobachtung zu werten, zu messen, zu kategorisieren und auf darunter oder darüber liegende Möglichkeiten abzuklopfen.
Was nun neu dazukam: Ich hatte wenig Geduld für jene, die Sprache gebrauchten wie ein blinder Fleischer das Beil.

Das hatte mich, soweit verhieß der Anblick der kargen Wände eindeutig, etwas gekostet.

Aber nicht nur mich.
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Leumarin Quentiver





 Beitrag Verfasst am: 20 Mai 2022 09:42    Titel:
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Der Wellenschlag der Wüste war ein anderer als der des Meeres, aber doch gar nicht so unähnlich. Auch hier trieb der Wind Gischt vor sich her und was machte es schon, dass keine Feuchtigkeit darin lag, sondern nur glühende, mit Sand und Staub versetzte Hitze?
Wüste und Meer gleichermaßen hatte der Mensch sich nur in der kleinsten Weise untertan gemacht, eine Duldung abgetrotzt, die abseits bekannter Pfade und bei jedem Wechsel des Wetters zuverlässig in Verderben führte. Die Hafenschenken waren voll mit Geschichten von Stürmen und Schiffbruch, von Zorn und Vergebung, von Bestrafung für Lästerer und Sünder und Geschenken für Jene, die sich den vielnamigen Götzen der Tiefe beugten.

Gab es dergleichen auch in der Wüste? Beteten die Menekaner heimlich zu Dünendschinnen und Zerrgeistern, die wie eine Fata Morgana über dem erhitzten Sand schwebten, dem erschöpften Wanderer eine Oase, einen Quell, eine Karawane vorgaukelnd?

Die einzige Gesellschaft die ich im stetig unmerklich bewegten Sandmeer fand, waren unruhig ziehende Harpyien und im Gespann jagende Riesenskarabäen. Der Umgang mit ihnen war, obgleich nicht ohne Risiken, trivial: Man wusste, was voneinander zu erwarten war und hier in der Tiefe der Durrah gab es nur noch Jäger, die einander auflauerten und erlegten. Darin gab es keine Missverständnisse, keine unerwarteten Wendungen, keine Fragen von Stolz oder Demut, die an die Oberfläche gespült wurden. Man ging sich aus dem Weg, wenn beide Parteien zur Einschätzung kam, dass das Risiko der Annäherung zu groß war. In anderen Fällen kam es zum Kampf und schuf Fakten.

Alles war einfach. Geordnet. Übersichtlich. Unkompliziert und vorhersehbar.

Für andere Reisende hätte es einfachere Wege gegeben um die goldene Stadt zu verlassen, aber um mich einem Schiff anzuvertrauen, fehlte mir der Mut.
Viele Dinge hatten sich in den letzten Wochen geändert, waren durch Erfahrungen und Einsichten in die rechte Perspektive gerückt worden, aber an diesem Detail hatte sich nichts geändert: Der Weg über das Wasser hieß für mich eine Herausforderung auszusprechen, der zu stellen ich mich in keinster Weise bereit fühlte.

Der Übergang von Wüste zu Halbwüste vollzog sich vor meinen Augen mit abrupter Plötzlichkeit, nur minimal gemildert durch das sich auftürmende Grenzmassiv. Folgte man dem Pass nur weit genug, um die zerklüfteten Steine hinter sich zu lassen, dann würde man sich in einer ganz fremd anmutenden Welt wiederfinden, geprägt durch ein Übermaß von Wasser, das sich in vibrierendem, machtvollen Grün überall spiegelte.
Von hier aus war es nicht mehr weit bis nach Bajard und von dort aus würde sich die ganze Insel wesentlich bequemer bereisen lassen als auf Schusters Rappen.

Was hatte ich gelernt in den letzten Tagen, in den letzten Wochen?

Beobachtungen und Reflexionen hatten sich wie Kleidung um den Kern meines Selbst gelegt, beschrieben einen Anschein, der sich bewerten, abschätzen ließ, aber dem tatsächlichen inneren Selbst war ich nicht einen Schritt nähergekommen. Die Beobachtung eines Systems konnte Hinweise zu diesen Regeln liefern, aber sie waren zwangsläufig unzuverlässig, solange man sich selbst innerhalb des Systems befand. Bestenfalls unzuverlässig. Im schlimmsten Falle irreführend.

Noch immer gab es keine Erklärung dafür, was ich in der Wüste verloren hatte, welchen Grund es für die Grundrisse und Pläne gab, die spätestens mit der Zerstörung Menek'Urs obsolet geworden waren. In manchen Nächten träumte ich von Drachen, von Flügelschlag am Himmel, der mir durch verhangene Wolken folgte, wohin auch immer ich mich wandte und in anderen von vibrierender Wirklichkeit, zitternd unter der Gewalt gestörten Schicksals und davon ausgehender Abweichungen, die sich wie eine zersetzende Krankheit ausbreiteten.

Kein Zweifel: Solche und ähnliche Träume trieben dieser Tage auch die Einwohner der goldenen Stadt um, ausgenommen vielleicht jene, die sich mit aller Macht in Optimismus oder Ignoranz warfen.

Warum war ich hier?

Diese Frage kannte eine schnelle, aus dem Impuls heraus gegebene Antwort, die die eigentliche Wahrheit umschiffte ohne tatsächlich zur Lüge zu werden. Sprache, so hatte ich vor kaum mehr als Tagesfrist selbst gesagt, war wie ein Messer und sollte wie ein solches gebraucht werden: Mit Vorsicht und Präzision.
Es war leicht sich selbst zu schneiden, wenn man es auch nur an einem davon missen ließ und das hatte die Nacht hinter Gittern mir ebenso in Erinnerung gerufen, wie das am Tag darauf stattfindende Gespräch in der Wesirstube, das letztlich in einer einfachen Feststellung geendet hatte:

"Ich betrachte meine Schuld als abgetragen."
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Leumarin Quentiver





 Beitrag Verfasst am: 24 Mai 2022 09:28    Titel:
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Bajard war die erste, offensichtlichste Wahl für mich gewesen: Zentral gelegen und keinem der großen Reiche zu etwas verpflichtet. Wie gut diese Neutralität im Zweifelsfalle halten würde, darüber hatte ich keinen Zweifel: Etwa so gut, wie ein gegebenes Wort unter sich ändernden Umständen. Aber für einen einzelnen Mann war das in der Luft liegende Versprechen gut genug.

So war es auch das winzige Zimmer, das ich bezogen hatte: Eine bessere Besenkammer direkt unter dem Dach mit roh getünchten Wänden, unter denen sich das Skelett von Balken und Ziegeln deutlich sichtbar abzeichnete. Ein Bett, zwei Fächer direkt darunter, ein wackliger dreibeiniger Tisch, der den Anschein erweckte, als wäre er einst als Treibgut aus dem Meer gefischt worden. Ein einzelnes Bild hing verloren in einem wuchtigen Kupferrahmen an der Wand, fixiert durch vier fingerlange Nägel.

Dieses Bild hatte meine Aufmerksamkeit als erstes an sich gezogen. Es zeigte einen einheitlich grauen Bildraum, in dem sich schwarze, strichförmige Gebilde formierten. Strukturiert wurde die abstrakte Komposition durch den kräftigen Malduktus, der den Fango in kurzen horizontalen und vertikalen Strichen auf das Torchon brachte. Ohne die Kenntnis des in eine kleine Plakette eingeprägten Titels "Weltengeschichte IV - Bejamo", wäre ein Betrachter vermutlich nicht in der Lage gewesen auch nur ansatzweise zu begreifen, was genau abgebildet war.

Das ging mir nicht anders, aber es war auch nicht die auf bereits vergilbte Leinwand aufgebrachte Botschaft, die mein Interesse geweckt hatte, sondern die stetige Resonanz. Die stille Rebellion gegen das Schicksal, gewöhnlich einfach ein Garant für Kopfschmerz bei längerer Betrachtung, verband sich hier mit den wahllos anmutenden Pinselstrichen. Aus dem Augenwinkel betrachtet fügten Grundzeichnung und Vibration sich zu einer unscharfen neuen Form zusammen: Einem grob stilisiertem Gesicht mit weit aufgerissenem Mund, gefangen in einer aus der Unstetigkeit der Resonanz geborenen Illusion von stetiger agonischer Bewegung.

Interessant. Wie war das möglich? Wer hatte das gemalt? Und was würde ich darüber hängen, um nicht stetig darauf schauen zu müssen?

Am Ende hatte ich eines meiner zerschlissenen Hemden dafür geopfert die Leinwand abzudecken und meine Gedanken anderen, hoffentlich fruchtbareren Bereichen zugewandt.

An erster Stelle stand weiterhin die Frage nach meiner Identität, so offen dräuend wie schwere, jederzeit zur Entladung bereite Gewitterwolken über meinem Haupt. Abseits von meinem Namen und einer Handvoll von Indizien gab es weiterhin nichts. Kein Ursprung, keine Herkunft, keine Motivation, keine Bekannten, hoffentlich auch kein Steckbrief mit meinem Gesicht darauf.

Was ich hatte, war die Magie, auch wenn deren Berührung im besten Falle eigenartig war: Passiv, indirekt, das Nutzen von Reflexen, deren Vorhandensein sich meinem bewussten Begreifen entzogen hatte. Etwas an mir hatte nicht vergessen und das erlaubte mir Magie mit der gleichen Eleganz zu wirken, mit der jemand lief, der dafür stetig mit einem kleinen Hammer auf die eigenen Kniesehne schlug.

Um diesen Missstand zu überwunden hatte ich mich auf die Suche nach Büchern gemacht, nach Hinweisen, die das magische Wirken und deren Ursprung beschrieben. Früher oder später, das war mir vollkommen bewusst, würde ich meine Fragen beim Zeltlager der Academie Arcana stellen müssen. Aber dem ging die Fähigkeit voraus überhaupt eine Frage stellen zu können. Daher die Suche nach Grundlagen, nach Wendungen und Formulierungen.

Eines der Bücher die ich erbeutet hatte, war ein besseres Tagebuch, gefüllt mit trivialen Alltagsbeobachtungen und Sorgen, nicht spannend genug um tatsächlich Interesse für das Schicksal des Autors zu entfachen, was gewiss der Grund gewesen war, dass ich die mitgenommene Schwarte für nur eine Handvoll Münzen hatte erwerben können.
Aber neben all den banalen Ausführungen fand ich hier auch Spekulationen über den Ursprung der Gabe.

"Aus dem Dualismus von Möglichkeit und Sein erwächst die Gabe: Die Vorstellung wurzelt in der Seele selbst, die bei jedem Wesen gleichermaßen gegen die Existenz drückt. Das Netz des Liedes nicht als Reflexion sondern als Quell beschreibt alles was ist und der Kern der Seele beschreibt alles, was sein kann. Während unstreitig alle Mitglieder des Elfenvolkes mit dieser Fähigkeit geboren werden, ist das bei den Menschen nur selten der Fall und selbst wenn, ist die Gabe dann unvollständig, streift nur den Bereich der Sekundärenergien ohne den tatsächlichen Quell erreichen zu können.
Die Akademien und Schulen haben gute Arbeit dabei geleistet, dass das Vorhandensein der Gabe dieser Tage meist als Geschenk oder Segnung verstanden wird, als eine Möglichkeit für eine bessere Zukunft jenseits von Acker, Leisten oder Nähnadel und nicht etwa als Unheil oder Fluch.
Legt man jedoch die Maßstäbe unserer eigenen Zunft an, jenes Versprechen von Erleuchtung, Klarsicht und Verständnis, dann kann man nicht umhin kommen das Erwachen als ein Fehler im System zu begreifen: Wir Menschen wurden nicht für die Magie gemacht und das Siegel, das uns von der Gabe trennt ist fast vollkommen. Nur in einzelnen Fällen ist es so beschädigt, dass der Zugriff auf die peripheren Bereichen der wahren Energien möglich ist und je begabter jemand darin erscheint, desto grösser ist eben diese Beschädigung.
Es ist ein Statut für das Wesen der Menschheit, was wir trotz dessen erreicht haben."


Ich war nicht sicher, ob mir dieser Ansatz gefiel - es lag ein unterdrückter Pessimismus darin, der auch in den folgenden Kapiteln nicht weichen sollte, eingerahmt in etwas wie widerborstigen Stolz, der das Bild eines Mannes formte, der sein ganzes Leben in dem Gefühl bestritt mit dem Rücken gegen die Wand zu stehen.
Dennoch interessant, wenn auch vermutlich bereits hoffnungslos veraltet, überholt von einer Forschung die nie zufrieden war sich auf einem Status Quo auszuruhen.

Immerhin: Damit ergaben sich ein paar mögliche Fragen für mich.
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