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Vom Wesen des Feuers
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Alathair - Online Rollenspielshard Foren-Übersicht » Chargeschichten » Vom Wesen des Feuers
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 05 Jul 2018 11:33    Titel: Vom Wesen des Feuers
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Zitat:
Herr,

Wir sind nunmehr alle sicher am Zielort angekommen. Kevan traf am gestrigen Tage als Letzter ein - es freut Euch sicher zu hören, dass er ebenso wohlauf ist. Ich bin mir allerdings nicht schlüssig, ob es tatsächlich klug war, Gerold nicht schon vor der Reise aufgeklärt zu haben, dass ihm die hiesige Leitung nicht zusteht. Er scheint darüber recht verstimmt und seine Begrüßung gestern fiel entsprechend unterkühlt aus. Ich rechne fest mit einer Prügelei innerhalb eines Mondlaufes. Auf Gerold setzen würde ich jedoch nicht.

Darüber hinaus gab es bis jetzt keine nennenswerten Schwierigkeiten. Wir logieren in einer Taverne am Rittersee, nahe Adoran, und werden nach einer angemessenen Bleibe innerhalb der Stadt suchen, sobald die örtliche Bürokratie es ermöglicht. Die Fanras lassen sich von Stand und Ordnung derweil nicht aufhalten und besetzten bereits irgendwelche Bruchbuden im Hafenviertel Adorans, die sie sich nun mit Ratten und verdächtigen Gestalten teilen. Wie immer also.

Ansonsten versucht sich ein jeder nach Fähigkeiten und Neigungen einzufügen. Es ist ja nicht so, als würde uns jemand Geld schenken. Mir zumindest nicht. Mehrere Angehörige beider Familien sollen sich bereits beim Regiment gemeldet haben, ich habe allerdings noch keinen Überblick, wer genau. Es ist wohl damit zu rechnen, dass auch Eure werten Söhne dort alsbald vorstellig werden, wenn sie es denn nicht schon wurden. Ich selbst fragte bei der Verwaltung der Stadt um eine Schreiberstelle an, Hyram quält seine Laute fleißigst allerorten (vermutlich mit der Absicht, damit aufzuhören, wenn man ihm genug bezahlt), Ivit sieht sich nach einer Lehre als Schneiderin um. Wir wollen hoffen, sie fällt mit dem ersten Wohlstand nicht wieder in alte Gewohnheiten zurück.

Was die Fanras tun, weiß ich nicht recht - vermutlich etwas Zwielichtiges. Rondrik jedenfalls plant eine kulturelle Reise zur Siedlung der Kaluren, wobei ich ihn zu begleiten gedenke. Es gibt dabei wohl auch das ein oder andere spezielle Getränk zu kosten, doch wir werden uns natürlich nicht betrinken, Herr. Das würden wir nie.

Im Übrigen hat jemand, ich vermute, es war Berthold Fanras - Ihr wisst, er kann den Mund nie halten - bereits das mit dem Schwerte ausgeplaudert, und mit etwas Pech jagt alsbald die halbe Insel danach.
Herr, brauchen wir dieses Schwert wirklich? Können wir nicht irgendein altes Ding aus einer Gruft heben und den Familiennamen in den Griff einritzen? Bitte denkt darüber nach, es würde uns allen viel Ärger ersparen. Ich habe gestern einen Chronisten gefunden, der uns womöglich zu Diensten wäre, einen Herrn Winterberg. Er wird bestimmt bestätigen können, dass eine beliebige rostige Stange das gesuchte Schwert ist. Dann könnten wir alle wieder zurück. Vielleicht schon nächste Woche.
Herr, hier gibt es überall Letharen, ich will nach Hause!

ATR



Die letzten Glutnester im Kamin warfen schräge, tiefrote Lichtstreifen über die Zeilen, als die Sitzende den Schrieb von sich schob und sich zurücklehnte. Durch das offene Fenster strömte träge, milde Sommernacht herein, gefüttert von dem Duft blühender Wiesen und der unnachahmlichen, frischen Note eines nahen Gewässers. Irgendetwas zirpte da draußen - ansonsten war es, bis auf das Knacken der zerfallenden Holzscheite im Kamin, mittlerweile totenstill im Haus. Erste Morgenstunde, vielleicht schon die zweite...

Anna griff zum Krug neben sich, nahm einen Schluck daraus, und verzog die Lippen. Der Wein hatte längst jene Säure angenommen, die von zu vielen Stunden an der Luft kündete, legte sich gleich klebriger Watte um die Zunge und erinnerte überdeutlich daran, dass sie heute ohnehin zu viel gehabt hatte. Es war längst Zeit für das Bett. Einige Minuten lang versuchte sie sich einzureden, dass sie nur deshalb noch hier saß, weil der Weg die Treppen und dann noch die Leiter zum Dachboden hinauf nach einigen Krügen Wein mit einiger Beschwerlichkeit schreckte, gab den wenig engagierten Selbstbetrug jedoch rasch wieder auf. Die Glut im Kamin flackerte noch einige Momente und erlosch.

Es wurde Zeit, es wurde wirklich Zeit. Die Blondine steckte den Brief ein und erhob sich, mit der Linken schwer auf den Tisch gestützt, ehe die Rechte gewohnt in ihre Gurttasche griff.
Der gewohnte, blinzelkurze Schreckmoment als die Finger im ersten Moment nichts fanden. Die gewohnte Erleichterung, als sich dann doch die Glieder eines dünnen Silberkettchens an die Fingerkuppen schmiegten. Sie drehte und wand das Kettchen gedankenlos um die eigenen Finger, leicht wankend den Saal durchquerend, tastete in Vollführung eines längst jedes Sinns beraubten Rituals über die gestanzten Linien des am Kettchen hängenden Medaillons, und verschloss die Tasche dann wieder.
Das Kettchen war da, es war immer da, entweder in der Tasche, oder, wenn sich ein Kleid mit hohem Kragen anbot, um ihren Hals - und doch tastete sie vor dem Schlaf danach, jeden einzelnen Abend seit 6 Jahren, als bestünde die Möglichkeit, es würde sich eines Tages in dünne Luft auflösen. Eine Antwort auf die Frage, was wohl Schreckliches passieren würde, verlöre sie es doch einmal, fand sich wie immer nicht. Wahrscheinlich gar nichts.
Sie griff einen Kerzenständer von der Theke der kleinen Empfangsdiele und wandte sich zu den Treppen.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 17 Jul 2018 14:37, insgesamt 6-mal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 10 Jul 2018 10:36    Titel: 9 bis 5
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Das Haus brannte. Die Flammen hatten sich schnell an der trockenen Holzfassade emporgearbeitet, röhrten aus Fenstern und Türen heraus, tanzten über das schiefe, von Zeit und Wetter mitgenommene Dach, sämtliche Imperfektion in einem Meer aus Rot und Gold erstickend. Sie fraßen sich durch Giebel und Wände, ließen Gläsern splittern und Böden zusammenbrechen, nur um am Ende durch den Dachstuhl zu brechen und all das Ausgelöschte in einer Funkenfontäne gen nächtlichen Himmel zu spucken. Irgendwo in weiter Ferne hörte man Brandglocken Alarm schlagen und aufgebrachte Schreie, weit, so weit weg, als würden sie zu einer anderen Realität gehören.
Hier, in ihrer Wirklichkeit, gab es allein das Feuer, den Rauch und die schier unerträgliche Hitze der nahen Flammen, und ihn davor. Sie starrte in seine Augen, in den tanzenden Widerhall der Flammen darin, und konnte nicht anders als lachen, trunken von Freiheit und seiner Nähe. Das Haus brannte, und die Welt brannte mit.



Anna öffnete die Augen. Dem Blick bot sich von der Zeit nachgedunkeltes Dachgebälk. Erstes Sonnenlicht schlug schräg durch das runde Fensterchen rechts von ihr, frühen Tanz von Staubkörnern in der Luft ausleuchtend. Es roch nach sommerwarmem Holz und Mäusekötteln. Sie pustete die beinah gänzlich heruntergebrannte Kerze neben sich aus, stand auf und ließ die im Morgenlicht auskühlenden Erinnerungen an das Flammenmeer und den Geschmack seiner Lippen in ihren Träumen zurück.

Durch das mit Gewalt aufgerissene Dachstuhlfenster - ohne Gewalt klemmte es und quietschte lediglich auf jämmerliche Art und Weise - strömte bald frische, noch kühle Luft hinein, trug eine Ahnung taunasser Kräuterwiesen und Seeluft mit sich, ohne jedoch die beständige Note von Mäusemist, die sich hier oben in Holz und Schindeln eingefressen zu haben schien, vertreiben zu können.
Nicht mehr lange.
Das wiederholte die Blondine immer wieder, während sie sich mithilfe eines Schwamms und eines Eimers fröstelig kalten Wassers frisch machte, dabei etliche Pfützen auf dem Boden hinterlassend. Sie wiederholte es, während sie sich anzog (immer aufpassen, beim Aufrichten nicht mit dem Kopf an einen Balken zu stoßen), die Haare an einem behelfsmäßig in der Dachschräge festgeklemmten Spiegel frisierte, in halb gebeugter Haltung das schmale, niedrige Feldbett machte, das zur Zeit ihre Schlafstatt darstellte.
Nicht mehr lange.
Einen halben Stundenlauf später war sie in der Tavernenküche, trank einen Tee (im Stehen am Fenster, so musste man sich nicht mit den anderen Gästen am Tisch unterhalten), verspeiste dazu ein warmes Milchbrötchen (keine Butter, es galt eine Figur zu bewahren, danke auch) und trat schließlich den täglichen Weg nach Adoran an.

Die Straßen der Stadt fühlten sich noch fremd an, verleiteten immer wieder dazu, an der falschen Ecke abzubiegen, sich irgendwo in den Strömen von Händlern, Bürgersfrauen in weißen Häubchen, Kindern, Gardisten, Bettlern und divers schwer einzuordnendem Volk zu verlieren. Nicht ganz so groß wie die Reichsstadt, schon gar nicht so verwinkelt, und doch genug, um ein gewisses Maß an Anstrengung abzuverlangen, bis man sich eingewöhnen konnte.
Der Tag ließ derweil nicht viel Zeit zum Schlendern und Kennenlernen, rief mit einer straffen Liste an Pflichten und Orten, die es aufzusuchen galt. Markt, Bibliothek, eine wachsende Flut von notwendigen Besorgungen und Informationen, die alle nicht warten konnten. Ab und an tauchte ein bekanntes Gesicht aus dem Fluss der Menge auf. Manchmal zu einem bloßen Plausch ("Wie ist es Euch ergangen?"), dann wieder zu einem Austausch nebensächlicher Bissigkeiten ("Was verwaltet Ihr, Kevans Unterwäsche?" - "Klappe, Fanras") oder ebenso nebensächlicher Lügen ("Warum wart Ihr nicht bei der Hochzeit?" - "Zu viel zu tun gehabt""Ich war zu betrunken, um irgendwohin zu gehen"
), nur um rasch wieder zu verschwinden, Anna dem weiterrasenden Takt des Tages überlassend. Lager, Markt, Kirche, und wo war eigentlich das verfluchte Rathaus?

Sie rannte, rannte der steigenden und wieder sinkenden Sonne hinterher, hakte Punkte von ihrer unendlichen Liste, nur um direkt wieder neue daraufzusetzen, und sich irgendwann, schließlich und endlich, mit einer Flasche Wein vor ihr Fensterchen im Dachgeschoss zu setzen und keinen Finger mehr zu rühren. An solchen Tagen bemerkte sie den Maulkorb kaum.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 17 Jul 2018 14:38, insgesamt 5-mal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 17 Jul 2018 13:31    Titel: Sommernachtstraum
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Zitat:
Herr,

Ich habe Euch vollends verstanden. Ich habe weder unsere Abmachung, noch meine Aufgabe hier vergessen. Ich bedaure meine Aussagen zutiefst. Es wird sich nicht wiederholen.

Mittlerweile findet sich ein jeder nach und nach ein, wenngleich nicht jeder so, wie Ihr es Euch vorgestellt haben mögt. Gerold hat beschlossen, die militärische Laufbahn aufzugeben und den Weg eines Geweihten der Temora einzuschlagen. Ich fürchte, es wird zu spät sein etwas dagegen zu unternehmen - er erhielt bereits eine Einladung in das Kloster zu Schwingenstein und wird die Weihen empfangen, noch während dieser Brief auf dem Weg zu Euch ist. Kevan...


Hier brach der Brief ab. Sie starrte im zitternden Schein zweier halb hinabgebrannter Kerzen seit einer geschlagenen Viertelstunde auf die Zeilen vor sich. Schreib weiter. Schreibe es fertig. Es ist ganz einfach, nur wenige Worte. Schreib es aus. Na los. Die Hand zuckte hier und da, wenn ihre Selbstüberzeugung an Nachdruck gewann, doch das Ergebnis blieb gleich: Die Feder hing über dem Papier, lange genug, dass die dunkle Tinte um die angespaltene Spitze zu trocknen begann.

Die Luft im über den Tag aufgeheizten Dachstuhl stand still, trotz offenen Fensterchens noch immer unerträglich warm. Anna hatte das Haar lose hochgesteckt, Nacken und Schulteransatz dem trägen, wenigstens etwas kühleren Luftzug von draußen preisgebend, die Ärmel der Bluse hochgerollt und die Korsage abgenommen, und dennoch, dennoch - zu warm, und an Abkühlung war nicht zu denken.
Zwar lockte der See draußen mit leisem Plätschern und dem Raschen von Schilf, schreckte jedoch gleichermaßen mit einem steilen Uferabhang, den sie bereits einige Tage zuvor begutachtet hatte, um zu einer unerfreulichen Erkenntnis zu kommen: Sie würde dort augenblicklich untergehen.
Anna hatte, wie es für die meisten Bewohner der Hauptstadt üblich war, Zeit ihres Lebens nicht die Gelegenheit oder den Drang gehabt, das Schwimmen zu erlernen. Sie bereute es jeden Sommer, nahm sich jeden Sommer vor, es nunmehr endlich in Angriff zu nehmen - und begnügte sich doch jeden einzelnen Sommer damit, irgendwo ein sanft abfallendes Ufer zu suchen um mit gerafftem Rock im Flachwasser herumzuwaten und sich vorzunehmen, im nächsten Sommer doch endlich Schwimmen zu lernen.

Einige Momente lang spielte die Blonde auch jetzt mit diesem immer wiederkehrenden Gedanken, rief sich jedoch abrupt selbst zur Ordnung. Der Brief. Der vermaledeite Brief. Er würde sich ärgern, käme der Bericht zu spät, und sie hatte es wohl gelernt, den Alten nicht unnötig zu verärgern. Selbst wenn keine augenscheinliche Reaktion erfolgte: Drei Wochen, drei Monate, vielleicht gar ein ganzes Jahr später, doch am Ende würde man immer zur Kasse gebeten werden. Also schreib weiter. Schreib fertig. Er wird sich auch ärgern, wenn er es nicht von dir erfährt. Schreib weiter. Vermassel es nicht. Schreib. Weiter.
Die Feder verharrte.

Anna seufzte frustriert, warf das Schreibutensil von sich und stand auf, zum Fenster tretend.
Das sich dem Blick bietende Bild war unwirklich pittoresk. Silberner Mondesschein auf einer von Feldblumen und Büschen gesäumten Straße, die scheinbar aus dem Nirgendwo kam und sich bald in ein nahes Wäldchen hineinwand. Auf der anderen Straßenseite die fahl schimmernde Fläche des Rittersees, dahinter ein Hügel, dessen Umrisse sich in künstlerischem Chaos gegen den Nachthimmel absetzten. Schlafende Bauernhöfe in der Ferne (natürlich von Obstbäumen umgeben), und weit, ganz weit am Horizont die trutzigen Mauern und Türme Adorans.
Die Gesamtheit wirkte wie eines dieser kitschigen Bilder, die man zumal schwachen Gemüts im tiefen Herbst bei Straßenkünstlern erwarb, von Regen und kalten Winden so ermüdet, dass der gemalte Zuckerguss einer perfekten Sommernacht nach einer guten Idee auszusehen begann. Es war natürlich nie eine gute Idee. Kaum hing man sich so etwas an die Wand, juckte es einen in den Fingern, irgendwo in den Schubladen vergessene Spitzendeckchen auszugraben, während sich im Raum unweigerlich und auf eine den Gelehrten bislang unerklärliche Weise der Geruch einer alten Frau zu manifestieren begann.

Nein, solche Nächte, Nächte in denen Liebespaare unter dem Mond spazierten, in denen leichtfüßige Geheimnisse ausgetauscht und auf duftenden Kräuterwiesen warmer, billiger Wein getrunken wurde, in denen kleine, kichernde Sagenwesen durch die Wälder stoben und aus Rosenbüschen der Gesang einer Nachtigall zu hören war, solche Nächte ließen sich einfach nicht auf einer Leinwand einfangen. Man musste sie genießen wie sie kamen, still, staunend, ohne einen jeden lästerlich weltlichen Gedanken zu viel.

Anna griff nach der Schnapsflasche am Fensterbrett, trank die dort verbliebenen Reste in einem langen Zug, und wandte sich, kurz um das Gleichgewicht kämpfend, ab. Eine Nachtigall hätte sie nicht einmal erkannt, wenn sie draufgetreten wäre.


Zitat:

Herr,

Ich habe Euch vollends verstanden. Ich habe selbstverständlich weder unsere Abmachung, noch meine Aufgabe hier vergessen. Ich bedaure meine Aussagen zutiefst. Es wird sich nicht wiederholen.

Mittlerweile findet sich ein jeder nach und nach ein, wenngleich nicht jeder so, wie Ihr es Euch vorgestellt haben mögt. Gerold hat beschlossen, die militärische Laufbahn aufzugeben und den Weg eines Geweihten der Temora einzuschlagen. Ich fürchte, es wird zu spät sein etwas dagegen zu unternehmen - er erhielt bereits eine Einladung in das Kloster zu Schwingenstein und wird die Weihen empfangen, noch während dieser Brief auf dem Weg zu Euch ist. Kevan ist der Familie ein Anker und Pol der Ruhe. Er nimmt sich noch Zeit, der Situation gewahr zu werden.

Ich selbst darf mich nun im Rathaus von Adoran in den Diensten der hochgeborenen Vogtin der Stadt als Schreiberin verdingen. Keine allzu glanzvolle Aufgabe, jedoch eine, die ich vollbringen kann und die mich nicht langweilt.
Amalina wird bald in die Ausbildung als Heilerin treten - eine überraschende Entwicklung, um ehrlich zu sein. Ich hätte eher damit gerechnet, dass sie hier innerhalb der ersten Wochen von jemandem geschwängert wird und dann heulend nach Hause zurückkehrt.
Die Rolle des Leichtgläubigen hat an ihrer Statt Hyram übernommen, der sich mit einem verdächtigen hiesigen Weib eingelassen hat und sich nun im Hafenviertel mit ihr ein Haus teilt. Wir können froh sein, dass er kein Geld von Euch erhält, es ist zu erahnen, wo es unweigerlich landen würde.
Emilie hält sich weiterhin im Regiment und lässt sich nichts Kritikwürdiges zuschulden kommen, wenngleich Tarlesin natürlich im Vergleich zu ihr glänzt.
Ivit fand mittlerweile ebenso das Gesuchte, nämlich eine Lehrmeisterin, und steht nun regelmäßig zum Verkauf und Anproben in einem Schneidersladen bereit. Sie sieht dabei stets drein, als wüsste sie nicht, wie sie da hinkommt - vermutlich eine noch zu stemmende Umgewöhnung gegenüber ihren alten Lebensumständen. Sie gibt sich jedoch wie stets alle Mühe.

Linhart und seine Fanrasse verhalten sich weiterhin zwielichtig. Ich behalte sie wie gehabt im Auge.

Von dem Schwert war bislang nichts zu sehen, noch zu hören.

ATR


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 17 Jul 2018 16:15, insgesamt 3-mal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 22 Jul 2018 13:20    Titel: Von Menschen und Monstern
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Über die Umstände ihrer Kindheit sprach sie nicht gern.

Es lag nicht daran, dass die Geschichten über die schmucklosen Wände des "Hauses der Barmherzigkeit", so der stolze Name eines einfachen Waisenhauses für Mädchen, betrieben von alternden Witwen mit Sendungsbewusstsein, allzu traurig gewesen wären.
Nicht fröhlich gleichsam, doch Erinnerungen an den erzwungen gerade gehaltenen Rücken bei täglichen Unterricht und Gebet, an die überfüllten Schlafräume mit Löchern in viel zu alten Bettdecken, an ewigen Kohlgeruch in den Fluren, an bitterliche Kälte im Winter und drückende Hitze im Sommer, an strenge Zurufe und das Gefühl einer einschlagenden Weidenrute auf ihren Fingern: All das war schlicht keine Leidensgeschichte, sondern lediglich die Folge von zu wenig Geld und zu vieler aufmüpfiger Gören von der Straße, die sich darin gefielen, die beengten Verhältnisse zu ihrem persönlichen Drama auszuschmücken.
Anna war zeitweilig nicht anders gewesen, hatte irgendwann aber, als der typische Pathos einer Heranwachsenden in der Vergangenheit geblieben war, doch eingesehen, dass das angebliche Gefängnis ihrer Kindheit schlicht das Beste gewesen war, was ihr in jener Zeit überhaupt hätte passieren können - und zudem etwas, was speziell sie kaum verdient hatte.

Benahmen sich die Anderen nämlich hier und da aus Frust, Futterneid, Zorn, manchmal gar Trauer daneben, so hatte sie selbst lediglich aus Langeweile heraus gehandelt. Die Blondine war nie die Schönste, Schnellste oder Klügste gewesen, aber doch in fast allem gut genug, um nicht allzu hart arbeiten, sich nie allzu sehr anstrengen zu müssen. Und wozu sollte man sich schon vorausgaben, eine bildhübsche Schrift herauszubilden, wenn das Erstergebnis bereits ganz passabel aussah? Wozu stundenlang das Sticken üben, wenn das Prinzip bereits verinnerlicht wurde und das Endergebnis sie nicht weiter interessierte? Wozu sich etwas anhören, was man im Groben ohnehin schon kannte? Kaum begann etwas zu gelingen, kaum hatte sie etwas verstanden, schon war die Langeweile da, klopfte gleich einem guten alten Freund an die Tür und lud dazu ein, doch bitte endlich etwas Interessantes zu machen und die eintönige Arbeit jemand Anderem zu überlassen.

Anfangs, in jungen Jahren, hatte die Angst vor haubentragender Autorität noch überwogen, und Anna lediglich zappelig erscheinen lassen. Später, als ihr Rücken gerader, die Stimmen der Witwen leiser und ihr eigenes inneres Drängen lauter wurden, begann sie nach kleinen Fluchten zu suchen. Schubste wie zufällig ein Tintenfässchen auf dem Nachbarstisch um. Kroch nachts über den Efeubewuchs der Hausmauer aus ihrem Fenster. Versteckte einen gammelnden Apfel in einem der Nähkörbe. Verstopfte den Kaminabzug mit nassem Heu. Bei irgendetwas davon, Anna erinnerte sich nicht einmal mehr daran, was es gewesen war, erwischte man sie endlich, und als sie da stand und den Tod erwartete, geschah ein Wunder: Nämlich gar nichts, von einer Standpauke und einigen Schlägen auf die Finger einmal abgesehen.
Also wurde sie mutiger. Dreister. Ging zunehmend zufällig launischen Fragen nach, die im jeweiligen Moment drängender erschienen, als alles Andere. Wie wäre es auf einem Friedhof bei Mitternacht, würde es wahrlich spuken? Wieviele Schritt könnte man hinter der adrett hergerichteten Kolonne der Mädchen auf dem Weg zur Kirche zurückfallen, bis man gänzlich verschwinden und irgendetwas Interessantes machen konnte? Würde ein Sack Mehl ebenso brennen wie einer mit Stroh? Wenn man Lieschen aus dem Nebenraum schubste, würde sie hinfallen oder sich wehren? Was würde passieren, schüttete man den Eimer mit Abfällen von der Galerie auf die darunter Stehenden hinab? Was würde...
Sie holte sich die Antworten - und löste damit bei den Anderen Fragen aus, die erst nett, dann ratlos, dann zunehmend von Wut beherrscht waren.


"Was hast du dir dabei gedacht, Annchen?"
Lächeln. Schulterzucken. Die nächste Idee.
"Was hast du dir dabei gedacht, Anna?"
Lächeln. Schulterzucken. Weidenrute. Wieder Langeweile.
"Was bei den sieben Höllen hast du dir dabei gedacht?"
Lächeln. Schulterzucken. Strafarbeiten. Weitermachen.
"Was glaubst du, wie das hier weitergeht?"
Lächeln. Schulterzucken. Karzer. Die Langweile baumelte auf ihrer Schulter mit den Füßen.
"Tut es dir wenigstens leid, Anna?"
Lächeln. Schulterzucken. Rauswurf.


Über die Umstände ihrer Jugend sprach sie nicht gern.

Was in ihrer Kindheit mit kleinen Streichen begonnen und dem Niederbrennen des Werkzeugschuppens geendet hatte, hatte sich schlichterdings in den Gassen und Winkeln der Hauptstadt fortgesetzt. Anna war damals nicht vollends erwachsen, doch auch lange kein Kind mehr gewesen, durchaus in der Lage, auf sich Acht zu geben, sich zu organisieren, sich mit dem aller Widerspenstigkeit zum Trotz Gelerntem eine ordentliche Arbeit als Näherin oder Buchhalterin zu suchen, in eine Lehre zu gehen, nötigenfalls einfach zu heiraten und das Besorgen des Lebensunterhalts einem Anderen zu überlassen... doch kaum, dass die Gedanken sich in eine solche Richtung zu lehnen begannen, schob sich die Langeweile gleich einem dunklen, unbarmherzigen Koloss davor.

Lehre?
Die Schneiderin hatte sie irgendwie arrogant angesehen und komisch gerochen. Der Koch hatte ernsthafte Erwartungen gehegt, dass sie sich noch vor dem Sonnenaufgang in die Küche stellen und Zwiebeln schneiden würde. Anna hatte sich in den Finger geschnitten und war gegangen - nicht ohne 5 Würste aus dem Keller mitzunehmen. Als Kompensation.

Arbeit?
Eine Woche durchgehalten und mit der gefüllten Tageskasse des Krämers verschwunden, der sie angestellt hatte. Selber Schuld, wenn er derlei einfach auf dem Schreibpult liegen ließ.

Heiraten?
Die Langeweile machte auch vor Männern kaum halt, ließ eine jede Begeisterung, sei diese nun aus Zuneigung oder bloß aus körperlichen Freuden entstanden, nach höchstens zwei, drei Mondläufen wieder abflachen. Allerspätestens wenn sie neben dem nächsten zeitweiligen Gefährten saß und ihm dabei zusah, wie er schlief, während ihr Selbst nach Taten, Unterhaltung, irgendetwas Anderem war, spätestens in diesen Momenten riss die Geduld. Manchmal nahm sie den Geldsäckel des Verlassenen mit. Entschädigung für die Langeweile.

Es blieben zwielichtige Ecken, und all die zwielichtigen Leute, die sich in diesen Ecken herumzudrücken pflegten. Es erschien rückblickend betrachtet eigenartig, dass sie sich damals stets als jemanden gesehen hatte, die gar nicht wirklich dazu gehörte, die nur mitmachte, lediglich zum Spaß (und zumal um die eigene Kasse aufzufüllen, ohne dafür schuften zu müssen). Und doch musste Anna nun, mit dem Abstand etlicher Jahre, feststellen: Eigenartig oder nicht, der Gedanke war ganz richtig gewesen. Sie war nie wie jene Straßenflegel gewesen, die von Kleinbetrug und Diebereien lebten.
Sie war schlimmer.


Über die Umstände dieser Einsicht sprach sie nie.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 22 Jul 2018 13:22, insgesamt 2-mal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 29 Jul 2018 19:02    Titel: Von der Kunst des Wartens
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"Ich mag es hier."
"Es ist ein Dachboden."
"Man sieht die ganze Stadt, bis zum Palast herüber."
"Ja. Weil die Hälfte des Daches fehlt."
"Niemand stört hier."
"Niemand ist dumm genug, über diese Todesfalle von Treppe zu steigen."
"Das macht den Reiz aus. Ich mag es hier. Ich will nichts Anderes."
"Ja? Eines Tages Anna, eines Tages, wenn du im kleinen Garten deines beschaulichen Häuschens sitzt, dem Summen der Bienen um dich lauschst..."
"Also ein Garten mit Blumen?"
"Natürlich mit Blumen. Du wirst also dem Summen der Bienen lauschen, vielleicht noch ein Bach, der am Zaun vorbeiplätschert, eine Tasse Tee in den Händen, eine hübsche Spitzenhaube auf dem Kopf... Was?"
"Du bist unmöglich!"
"Du lachst trotzdem."


Irgendwo in Alumenas, vor etwa 5 Jahren.

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Das mit dem Feuer war eine tückische Sache. Sie erinnerte sich - es gehörte tatsächlich zu ihren frühesten Erinnerungen - wie Frau Büterlin es ihr und den anderen Mädchen vor dem Kamin einbläute, Abend für Abend, immer bevor es zum Schlafen ging. Erinnerte sich sogar an den warnenden Ton, die Art, wie die Frau dabei den Kopf schüttelte, an das Zittern ihrer grauen Haarsträhnen, die unter der Haube der Köchin hervorkrochen, gleich, wie oft und wie gründlich sie diese zurückstopfte.

"Ihr müsst es ordentlich machen. Schüttet nicht bloß Wasser drüber und erwartet, dass es reicht. Seid nicht faul, nehmt den Schürhaken, schiebt die Asche auseinander und überprüft, ob wirklich alles erloschen ist. Dann nehmt die Holzreste heraus, nehmt sie, macht schon, legt sie hier in den Korb, und tut sie morgens wieder hinein. Bleibt nur ein Funke übrig, wird es wieder anfangen zu brennen, früher oder später wird es das, und dann wacht ihr auf und seid tot."

Den Sprung zur Todesdrohung konnte Anna damals nicht ganz nachvollziehen, doch es hatte gereicht, um für eine bis in die heutige Zeit hineinlaufende Gewohnheit zu sorgen. Abends hatte nicht mehr im Kamin (wenn denn gerade die Wohnverhältnisse einen Kamin beinhalteten) zu verbleiben, als feuchte Asche, und jeder einzelne Morgen begann mit dem Griff zur Zange, um die halb abgebrannten Holzscheite wieder zurückzulegen. Danach erst kam der Zunder, und schließlich würden erste Flämmchen über rußgeschwärzten Stein hinauflecken, den eigentlich Beginn des Morgens einläutend.

Anna legte den Feuerstein beseite, griff nach dem Teekessel und hing jenen am Haken über dem leise losknisternden Feuer ein. Der übliche, gedankenlos ausgeführte Griff an die Gurttasche, bis die Fingerspitzen das Silberkettchen darin ertasteten, dann wandte sie sich der morgendlichen Verabredung mit einem Staubwedel zu.
Durch die geöffneten Fenster strömte noch nachtgekühlte Luft hinein, trug ferne Geräusche der erwachenden Stadt in das stille Haus. Es war ungewohnt. Nicht der Kamin oder der Staubwedel, jene Rituale fanden ihren Platz, gleich wo sie sich befinden mochte. Das Haus selbst war es, glich neuen Stiefeln, in denen man kaum einen Schritt getan hat: Eigentlich wohl gewählt und passend, gewürzt mit jener leisen Aufregung, etwas noch Neues und Unverbrauchtes um sich zu haben, und doch hier und da drückend und scheuernd.

Die Räume waren bereits gefült, verblieben jedoch vorerst ein Sammelsurium an Möbeln und Truhen, die noch keinen rechten Platz finden konnten und zumeist lediglich an die nächstbeste Wand geschoben worden waren, auf dass man später im Dunkel nicht darüber stolpern würde. Blumenkübel standen in Sesseln, halb geöffnete Kommoden waren nach dem Grundsatz "Erst einmal irgendwo hinein" gefüllt worden (und man wusste genau, irgendeine davon würde, den Prinzipien kosmischer Entropie folgend, auf ewig in diesem Zustand verbleiben), Teppiche lehnten zusammengerollt an den Wänden, während der Platz am Boden von Kisten und deplatzierten Staubsammlern belegt wurde, kurzum: Der Einzug war weit genug vorangeschritten, auf dass man im neuen Heim wohnen konnte, aber noch lange nicht weit genug, um auch tatsächlich jemanden hineinbitten zu wollen.
In ein, höchstens zwei Wochen würde nichts mehr an diesen Zwischenzustand erinnern, dann, wenn das Chaos verschwinden und das Gefühl des Neuen mit sich nehmen würde. Wenn eine neue Ordnung eintreten würde, der sie selbst lediglich als weiterer Umstand zugehören sollte. Bis dahin jedoch fand die Blonde einen eigenwilligen Gefallen an der unfertigen Veränderlichkeit des Räume, in denen sie für diese wenigen Tage, soweit der Einzug des Hausherrn noch ausstand, selbst das Sagen hatte.

Das Pfeiffen des Teekessels riss sie aus den Gedanken. Anna ließ den Staubwedel liegen wo sie stand und eilte zurück, zog den heißen Kessel mit einer Zange aus dem Kamin, balancierte etwas ungeschickt und goss das noch kochende Wasser mit einem Schwall auf die Blätter von Minze und schwarzer Johannisbeere in der bereitgestellten Tasse. Einige dampfende Tropfen spritzten zu den Seiten hin, trafen unweigerlich den entblößten Unterarm.


"Eselsscheiße."

Sie musterte die kleine Rötung mit elanloser Verärgerung, schnaubte dann, stellte den Kessel mit einem rachsüchtigen Knall auf dem Boden ab und trat samt Teetasse den Rückzug in den Garten an. Tauüberzogenes Gras schmiegte sich dort, wo die Strahlen der Morgensonne noch nicht herübergekrochen waren, in kalter Feuchtigkeit an die Fußsohlen, ließ die Frau frösteln, als sie langsam voranging, achtsam Ausschau nach Nacktschnecken haltend (die Blonde teilte die allgemeingängige Überzeugung, die da darin bestand, dass ein erforderlicher Lauf über Nacktschnecken selbst den gierigsten Piraten vom größten Goldschatz abhalten könnte) um sich schließlich und endlich auf die Bank sinken zu lassen. Ruhe.

Hinter ihr wartete das halb fertige Haus. Es warteten Blumenkübel in Sesseln, zusammengerollte Teppiche an den Wänden. Kommoden, die quer im Raum standen, chaotisch gefüllt mit Allem, was gerade aus dem Weg geräumt werden musste, achtlos hingeworfene Vorhänge, aufeinander gestapelte Stühle, Kisten, Truhen, Schränke und Matrazen. Es wartete ein getaktetes Leben, das gleich einem schon lange laufenden und aus irgendeinem Grund nie abgesetzten Theaterstück, das sich längst niemand mehr ansehen will, wenig Überraschendes bereit hielt. Unter dem Bett in einem der Zimmer im Obergeschoss wartete zudem ein alter, fest zusammengeschnürter Reisesack.
Im Schutze der abgwetzten Lederwände fanden sich zwei Sätze einfacher Kleidung, ein wollener Umhang, ein Dolch, einige unbeschriftete Fläschchen, ein Säckel, gefüllt mit einer beträchtlichen Summe, und eine Tonflasche mit einer Lösung aus Kastanienschalen, die blondes Haar leichterdings in tiefbraunes verwandeln konnte.

Anna lehnte sich an die Mauer des beschaulichen Häuschens, dem Summen der Bienen über den Gartenblumen um sie herum und dem Plätschern von Wasser hinter dem Zaun lauschend. Sie nahm einen kleinen Schluck Tee aus der Tasse in ihren Händen und lächelte.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 29 Jul 2018 21:33, insgesamt 2-mal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 10 Aug 2018 14:50    Titel: Der Tanz eines Schmetterlings
Antworten mit Zitat

'Um zu wissen wo Du hinwillst, musst Du wissen, wo Du herkommst.'
'Lippen können lachen, auch wenn das Herz weint.'
'Die Wahrheit der Welt liegt in einer Blume verborgen.'
'Frage nicht nach dem Wann, frage nach dem Warum'
'In jedem Scheitern findet sich eine Chance.'
'Der Tanz eines Schmetterlings...'


...wurde jäh beendet, als das mit solchen und ähnlichen Weisheiten gefüllte Buch auf eben jenen hinabsauste, das ahnungslos mit einer Kleidermotte verwechselte Insekt seinem Ende am Rand eines fremden Fensterbretts zuführend.
'Philosophie des Alltags', so lautete die gewichtige Ankündigung des schwarz auf dem Einband aufgestanzten Titels: Die von der Zeit angefressenen Buchstaben starrten der Blondine vorwurfsvoll entgegen. Das Werk war voll mit sorgsam ausgewählten Aussprüchen und kleinen, lehrreichen Geschichten, bestens dazu geeignet, mit aufgeplusterten Backen im Rahmen einer motivierenden Rede vorgetragen zu werden, an deren Ende, dann, wenn alle vor Überforderung und Tiefsinnigkeit zu schielen begannen, eine weniger schöne Aussage wie etwa 'Es gibt übrigens keinen Sold diesen Monat' verkauft werden musste.

Anna hatte sich das Ding schändlichst am vergangenen Morgen auf dem Markt aufschwatzen lassen, halb aus Zerstreutheit, halb, weil sie den ohne Unterlass auf sie einredenden fahrenden Händler weder verscheuchen noch loswerden konnte, ohne eine Szene zu veranstalten - und Szenen galt es möglichst zu unterlassen.
Nun hielt sie es in den Händen, hob es langsam an, recht angeekelt auf die Überreste der vermuteten Motte auf dem Einband starrend. Ein kurzer, überlegender Blick, dann seufzte sie, zog ein kleines, schmuckloses Taschentuch hervor, wischte die Reste zarter Flügel von Buch und Fensterbrett, zerknüllte den Stoff und warf jenen, nach prüfendem Blick die Straße entlang, in den Garten des unbewohnten Hauses gegenüber. Einen Augenblick lang spielte die Blonde mit dem Gedanken, auch das Buch hinterherzuschleudern, entschied sich jedoch bald dagegen: Herr Gerold würde in knapp zwei Monaten Geburtstag haben.

So wurde das Werk schließlich zum Sammeln von Staub und würdiger Antiquitätenatmosphäre oben auf dem Kleiderschrank abgelegt, ehe sie die Treppe hinabstieg.
Das Haus war still, gefüllt von jenem golden unterlegten, an zähen Bernstein gemahnenden Halbdunkel, das allein durch die sich in Butzenglas und Vorhängen verfangenden Strahlen sommerlicher Mittagssonne geboren werden konnte. Allein das tiefe, satte Ticken der Standuhr brach die schläfrige Reglosigkeit. Im Kamin glommen noch die Reste des frühmorgendlich für den üblichen Teekessel entzündeten Feuers.
Kevan ging irgendwo seinen eigenen Geschäften nach - ein Umstand, der ihr alles andere als unrecht kam, galt es schließlich, in Ruhe den seit Tagen aufgeschobenen Brief für den Alten zu verfassen. Eine kleine, weniger beherrschte Ecke in ihrem Verstand hob angesichts dieser Erklärung skeptisch die Augenbrauen. Anna erwiderte mit einer ebenso mental geführten unflätigen Geste.
Der Tanz eines Schmetterlings folgte schließlich dem Stand der Sonne, was immer es auch bedeuten mochte.


Zitat:
Herr,

Es liegt mir fern, Euch den zweifellos berechtigten Unmut um die Handlungen Eurer Söhne absprechen zu wollen. Ich werde mein Möglichstes tun, ein weiteres Abgleiten in ungeplantes Verhalten einzudämmen, muss jedoch darauf hinweisen, dass sie wirklich nicht auf mich hören. Das ist kaum eine Ausrede Herr, meine Möglichkeiten sind nun einmal begrenzt. Ich bin bloß eine bessere Haushälterin, das habt Ihr mir selbst oft genug gesagt, und Eure Söhne sind erwachsene Männer, denen ich absolut nichts zu sagen habe. Ich bitte Euch daher darum, die anberaumte Konsequenz zu halbieren.

Was nun die aktuellen Ereignisse auf Gerimor angeht, so besteht eine gewisse Geschäftigkeit, und es wird Euch womöglich freuen zu hören, dass gerade Euer Haus sich zunehmend in die Gegebenheiten einzugliedern weiß. Sämtliche seiner Mitglieder, mit der Ausnahme von Frau Emilie, die etwas Besonderes ist, und Herrn Riordan, der gern mit Efeu redet, haben mittlerweile die Bürgerwürde erlangt.
Von den Wegen Eurer Söhne abgesehen, zeigt dazu ausgerechnet Fräulein Amalina ungeahnten Ehrgeiz und trat neben der Heilerausbildung auch in die Reihen der hiesigen Klosterwache ein. Frau Emilie hat sich mittlerweile zwar gegen das Regiment entschieden, jedoch zugunsten einer Anstellung bei einem hiesigen Adligen. Den Namen kenne ich noch nicht, aber er sah wichtig aus und trug eine hübsche Robe. Ich erwarte, bei dem kommenden Familientreffen in zwei Tagen alle Details dazu zu erfahren.
Eine Verbesserung ist auch bei Herrn Hyram zu beobachten. Er zog endlich aus der Behausung aus, die er mit diesem Weibe, von dem ich Euch berichtete, teilte, und hat dann in einer Geste der Selbstlosigkeit und mithilfe mir bis jetzt unklarer Finanzierung ein großes Anwesen für die gesamte Familie - tatsächlich für beide Zweige - in Schwingenstein angemietet, auf dass wir einen Treffpunkt haben, an dem wir gleichsam den Fanras-Zweig ausspion besser kennenlernen können.

Die Fanras bemühen sich im Übrigen ebenso. Teilweise. So wird sich beispielsweise Frau Ruth heute noch um den Bürgerbrief bewerben; soweit ich es überblicken kann, als Erste der Sippe. Sie war ja nun ohnehin stets etwas zu fein und weitsichtig für jenes Haus. Ein Jammer, dass ihre Fantasien sie von Eurer Familie trennten.
Herr Berthold will überraschenderweise ebenso in die gleiche Richtung (in Richtung der Bürgerschaft, nicht in jene von Frau Ruth...womöglich auch doch, ich werde es im Auge behalten) - er ließ sich demletzt erst von mir ein wenig über die politische Situation hier aufklären. Er suchte sich ebenso eine ehrbare Anstellung und ist nun Nachtwächter oder Stallbursche oder etwas in der Art im Hause derer von Gipfelsturm. Übrigens versprach er mir als Dank für die Hilfe eine Führung durch deren Burg. Ich gehe allerdings nur hin, wenn es dort, wie von Herrn Berthold behauptet, tatsächlich spuken sollte. Es gibt in solchen Familiensitzen ja sonst nichts zu sehen, abgesehen vielleicht von Gemälden toter Menschen, die niemanden mehr interessieren, und rostigen Waffen, die irgendwo unpassend herumhängen und einem auf den Fuß zu fallen drohen.

Ernsthafte Sorgen mache ich mir allerdings um Linhart. Er hat irgendeine Bäuerin aus Rahal kennengelernt, ausgerechnet. Er behauptet, sie würde ja bloß dort wohnen und wäre sehr nett, und will sich nicht warnen lassen. Sehr nett, Herr. Ihr wisst, wo so etwas endet. Hinterher hängt man ausgeweidet am Baum und niemand will es gewesen sein, denn es war doch so nett. Verfluchter Einfaltspinsel.

ATR

P.S.: Meine geschätzte Dienstherrin nahm mich demletzt zur Siedlung der Thyren mit. Es war höchst interessant. Sie haben dort auch irgendwelche Geister. Ich hoffe, in Zukunft Gelegenheit zu finden, mit einem ihrer Priester zu sprechen und etwas mehr zu erfahren. Es heißt natürlich nicht Priester bei den Thyren, ich habe jedoch vergessen, wie es heißt. Es war spät und gab sehr viel Met.
P.P.S.: Fräulein Ivit ist an irgendetwas Ungefährlichem, aber Unangenehmem erkrankt. Läuse oder so etwas. Man kümmert sich im Kloster um sie und sie soll bald wieder auf den Beinen sein.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 10 Aug 2018 14:53, insgesamt einmal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 16 Aug 2018 15:07    Titel: Bauernfänger
Antworten mit Zitat

Irgendwo in Alumenas, vor etwa 6 Jahren. Frühjahr.

Diese Augen. Wie konnte man solche Augen haben? Ein durchscheinend helles Blau mit sonnengoldenen Sprenkeln, umrahmt von dichten, fast weiblichen Wimpern, von katzenartigem Schnitt und ebensolcher Verschlagenheit im Blick. Die Züge des Mannes passten dazu, zeichneten ein fein geschnittenes Oval im Rahmen künstlerisch zerstrubbelten Haares: Ein Abbild des ewigen Lausbubs.
Sie hätte ihn stundenlang anstarren können. Nun gut, nicht stundenlang, doch mehrere Minuten am Stück dennoch. Natürlich tat sie es meistens nicht. Das wäre ja peinlich. Jetzt gerade bot sich allerdings die perfekte Gelegenheit, eben dies ungestraft zu tun.

Konstantin spielte, und wenn Konstantin spielte, sah man ihn nun einmal an. Die Drei um Anna herum taten es zwar aus eher finanziellem Interesse, sie selbst nutzte den Moment jedoch für ausgiebiges, leises Schwärmen, zumal der Gegner des Blondschopfes in seiner beliebigen Durchschnittlichkeit den perfekten Hintergrund für das Gemälde bildete, das Konstantin in ihren Augen zweifellos war.
Um den kleinen Tisch herum, an dem alte, von Zeit und zu vielen Händen schmierig gewordene Karten zwischen den beiden ungleichen Spielern ausgetauscht wurden, tobte schon lange das Nachtleben jener Ausprägung, wie es sich in den Tavernen weniger guter Viertel einer jeder größeren Stadt zuzutragen pflegte: Es wurde gelacht, getrunken, gegrapscht und geschubst, und irgendwo - soweit war man sich stets sicher - wurde gerade jemand verprügelt. Soweit Letzteres jedoch ohne Einbindung der großen Mehrheit der Anwesenden stattfand, störte es das Bild nicht und wurde nicht weiter beachtet, gehörte ebenso zur Kulisse einer überfüllten Schänke wie ominöse Flecken auf den Tischen und Bierpfützen auf dem Boden.

Konstantin ließ sich derweil weder von der Lautstärke, noch von den angelegentlichen Schubsern vorbeiziehender Tavernensirenen mit breiten Hüften und großzügigem Ausschnitt (etwas, worum Anna jene Sirenen beständig beneidete) stören, blieb ganz auf seine Karten konzentriert. Er spielte bereits die dritte Runde gegen den Bauern. Womöglich war es auch kein Bauer, aber Anna ordnete solche wie ihn - kantige Züge, naiver Blick, viel zu sauber angezogen - in beständiger Arroganz einer geborenen Städterin grundsätzlich diesem Stande zu, und am Ende war es auch vollkommen gleich. Denn ob Bauer oder nicht, der Kerl war dabei, zum dritten Male absehbar zu verlieren, und das bedeutete, der Abend neigte sich, zumindest was diese Schänke anbelangte, dem Ende zu.
Konstantin spielte nie mehr als drei Runden am Stück: Alles andere barg die Gefahr, dass dem Gegenspieler das etwas zu Viel an Glück auf Konstantins Seite auffallen könnte. Drei gewonnene Spiele waren immer noch als Glück abzutun. Vier oder fünf wiesen zunehmend auf gezinkte Karten und eine geschickte Hand hin, und es war am Ende auch nichts Anderes. Wer wäre denn so auch so blöde, sauber zu spielen - jedenfalls abgesehen von solchen Einfaltspinseln, wie gerade einer am Tisch saß.

Olsun neben ihr gähnte und erhielt dafür sogleich einen strafenden Ellenbogen in die Seite. Nicht, dass Anna sich tatsächlich bemüßigt fühlte, hier für Disziplin zu sorgen, doch es war eine willkommene Ablenkung von leiser Langeweile, über die auch der Anblick des Blondschopfes nicht gänzlich hinwegzuretten vermochte.
Sie saßen seit gut zwei Wochen Abend für Abend in den Schänken der Stadt und spielten: Ertragreich, aber am Ende zu wenig der Abwechslung. Wäre da nicht Konstantin, wäre sie wohl längst weitergezogen, zu einem anderen Grüppchen loser Bekannter, die sich mit halb- oder gänzlich illegalen Machenschaften über Wasser hielten und eine gewisse Unterhaltung versprachen. So jedoch blieb sie da, sah ihm jeden Abend beim Spielen zu, trank, zog mit seinem kleinen Gefolge durch die Gassen, und wünschte sich sehnlichst, er würde bitte, endlich, für eine Nacht damit aufhören, sie wie eine zu bemutternde kleine Schwester zu behandeln. Sie zählte immerhin bereits fast 20 Jahre, und eigentlich, eigentlich...

Der ewige Zug des inneren Lamentierens wurde durch einen triumphalen Knall unterbrochen, als der Blonde seine letzten Karten auf den Tisch donnerte.


"Ass, Ass, und Ass! Ich fürchte, Ihr habt erneut verloren."

Konstantin erlaubte sich ein selbstzufriedenes Lächeln, das auf dem Tisch liegende Münzhäuflein in breiter Geste in sein Gurtsäckel wischend. Sein Opfer lächelte ein wenig verloren und zuckte die Schultern.

"So scheint es. Ich verzichte auf eine weitere Revanche."

"Ganz wie ihr wollt. Das Glück, mein Lieber, ist ein launenhafter kleiner Kobold. Heute ist es bei mir, morgen vielleicht bei Euch - wer weiß."

Der Blondschopf zwinkerte und stand auf, das Signal zum Aufbruch gebend. Das Grüppchen erhob sich von den Bänken, verfiel in das übliche, gleichzeitige Losreden, das einer Periode erzwungener Stille während des Spiels folgte, während der Verlierer sich mit einem kleinen, linkischen Lächeln durch die Gruppe gen Ausgang schob.

"Gut gespielt Konstantin, wirklich gut!"

"Ich dachte beim dritten Mal, ich dachte mir, so viel Glück kann doch keiner haben, dacht ich mir, doch dann..."

"Gehen wir woanders hin? Der Schnaps hier ist verwässert, nein, ehrlich, probier das doch mal, hier, probier!"

"Konstantin, du hast gesagt wir gehen tanzen, am kleinen Markt ist Tanz, du hast es mir versprochen."

"Nun wedel nicht mit deinem Schnaps vor mir herum, Enna! Ist das überhaupt Schnaps? Es riecht wie schon mal getrunken."

"Ach nun vögel die Kleine doch endlich, dass sie Ruhe gibt mit ihrem...au!"

"Prügelt euch draußen, draußen, ihr Idioten!"

"Ich will doch nur helfen!"

"Passt doch auf, wo Ihr hinlauft."

"Verzeihung, es ist voll hier. Nichts für ungut."

"Gehen wir jetzt eeeendlich?"

"Ja, bei den sieben Höllen, ja!"

Die relative, allein von dem Gröhlen entfernter Betrunkener und dem gedämpften Lärm der Taverne im Rücken gestörte Stille der Straße schlug Anna im ersten Moment wie stets ins Gesicht, ließ sie mit geschlossenen Augen verharren und auf das Weichen des Klingelns in ihren Ohren warten.
Der Tag mochte bereits warm gewesen sein, doch die Nacht trug noch einen letzten Gruß des gewichenen Winters mit sich, ließ sie nach der dumpfen Wärme der Schänke umso empfindlicher frösteln. Es roch nach regenfeuchtem Pflaster, gebratenem Fisch und Pisse. Sie lächelte kaum merklich. Man musste damit aufgewachsen sein, um den Duft zu mögen - und wie alle Möchtegernstraßenkinder, die mehr mit der Gosse kokettiert hatten, als tatsächlich darin groß zu werden, rühmte Anna sich stets der besonderen Vorliebe für solcherlei Eindrücke. Dass sie zumindest den Gestank mit Unrat gefüllter Rinnsteine alles andere als angenehm empfand, hätte sie damals nicht einmal vor sich selbst zugegeben. Wahre Straßenkinder mochten so etwas. Punktum.


"Weck einer die Kleine auf, sie schwebt wieder."

"Ich bin wach, nimm deine Finger aus meinem Gesicht. Wohin nun?"

"Wie wäre es mit der 'Brennessel'?"

"Da ist es teuer."

Konstantin winkte jovial ab und grinste.

"Ich habe heute mehr als genug verdient. Ihr seid eingeladen."

"Konstantin?"

Ennas Stimme klang eigenwillig dumpf.

"Ja?"

"Wo ist dein Sack?"

"Zwischen meinen..."

"Nicht dieser Sack, du Esel. Wo ist dein Münzsäckel?"

"Er.."

Konstantin verstummte, über seine rechte Hüfte tastend. Er starrte an sich hinab, tastete zur Sicherheit auch über die Linke. Flirrende Stille legte sich über das Grüppchen, geprägt von zusehends länger werdenden Gesichtern.

"Er ist weg."

"Wieviel war darin?"

"Der Verdienst der letzten drei Abende."

"Wann konnte das...?"

"Ich habe keine Vorstellung."

"Konstantin?"

"Ja?"

"Hat dieser Bauer dich vorhin nicht angerempelt, als er ging?"

Die Stille der Straße wurde jäh von einer Reihe gen Nachthimmel und längst verschwundenen, vermeintlichen Bauern gerichteter Flüche gebrochen.
Anna begann zu lachen.
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 22 Aug 2018 10:02    Titel: Worte
Antworten mit Zitat

Erinnerungen waren wie Fliegen. Sie kamen beständig dann, wenn man sie nicht brauchte, flogen einem ins Gesicht, ganz gleich, wie sehr man sie fortwedeln wollte, und störten beim Schlafen. Im Gegensatz zu Fliegen konnte man sie allerdings nicht erschlagen. Anna mochte keine Dinge, die man nicht erschlagen konnte.
Natürlich waren es auch keine angenehmen Erinnerungen, waren es nie. Fand man sich in solch einer Schleife des Vergangenen wieder, durchlebte man grundsätzlich entweder Peinliches, Schmerzhaftes, oder - das Schlimmste von Allem - all jene Situationen, die vielleicht auch hätten anders laufen können. Manches davon hing an einzelnen Handlungen, an Entscheidungen, bis hin zu Unerheblichkeiten wie etwa der Wahl eines Kleides. Allein die Frage, ob man den Brothändler morgens begrüßte oder nicht, konnte schlimmstenfalls einen Krieg auslösen. In Annas Fall versteiften sich solche unfreiwilligen Spaziergänge durch die eigene Vergangenheit jedoch zumeist auf Worte. Am Ende gingen einer jeden Tat oder Entscheidung fast immer Worte voraus.

Manche davon konnten unerheblich oder gar dämlich erscheinen, waren etwas, was man sagte, ohne hinzuhören, ohne zu viele Gedanken zu verschwenden. Nur so dahergesagt, wenn die Zunge schneller als der Kopf war.


"Hallo. Ich bin Anna."

Andere Worte trugen ganz gegensätzliche Bedeutung in sich, waren schwerwiegend genug, dass man ihre Ausmaße wenn schon nicht gänzlich abschätzen, so doch erahnen konnte.

"Deine Unterschrift. Jetzt."

Dann gab es auch jene, die nicht einmal ausgesprochen werden mussten, die bereits auf trockenem Papier gelesen ausreichten, um von einem Moment zum Nächsten alles umzuwerfen, was man von sich und der Außenwelt zu wissen glaubte.

"Ich schreibe Euch, da ich weiteres Schweigen für unmöglich erachte."

Wieder andere Worte fielen im kompletten Gegensatz dazu, trugen in jeder Silbe den Atemhauch kopflosen Lebens mit sich, tanzten auf der Zunge und noch Jahre später im Kopf, bedeuteten um Welten mehr als das, was tatsächlich gesagt wurde.

"Brenne es nieder."

Und natürlich waren da noch jene Worte, die in unmerklicher Ironie allein dadurch Bedeutung und ihren Platz in der Wirklichkeit erlangten, indem sie schlicht nie ausgesprochen wurden. Sie lauerten auf der Zungenspitze und im Hinterkopf, für immer an der Grenze zwischen eigenen und fremden Gedanken, an der Schwelle zwischen Träumen und Wachen gefangen, ohne einen jemals loszulassen.

All jenen Worten nun, ob klug oder dumm, ob bedacht oder bloß dahergesagt, ob direkt oder indirekt gemeint, geschwiegen oder gebrüllt, für die eigenen Ohren bestimmt oder nicht, all jenen war am Ende eines gemein: Was wäre wenn...? Wenn etwas Anderes gesagt worden wäre? Wenn geschwiegen worden wäre? Wenn doch? Wenn nicht?

Diese Fragen umkreisten die Blonde wie Fliegen. Sie kamen beständig dann, wenn man sie nicht brauchte, flogen einem ins Gesicht, ganz gleich, wie sehr man sie fortwedeln wollte, und störten beim Schlafen. Im Gegensatz zu Fliegen konnte man sie allerdings nicht erschlagen. Anna mochte keine Dinge, die man nicht erschlagen konnte.



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Irgendwo in Alumenas, vor etwa 6 Jahren. Frühjahr, einige Abende später.

Wie konnte man nur etwas derart Dämliches sagen...?

Die letzten Tage waren nicht unbedingt mit Glanz und Glorie angefüllt gewesen.
Zunächst war da - ganz direkt greifbar und damit als Erstes spürbar - die Tatsache, dass sie plötzlich kaum Geld hatten. Wenn Konstantin spielte, zahlte er auch, und nun, da er nicht zahlen konnte, entsann sich mit einem Male ein Jeder der Tatsache, leider vollkommen arm zu sein.
Es gab ja nun auch keine Arbeit, keine Ordentliche jedenfalls, wenn man nicht gerade zu jenen bemitleidenswerten Gestalten zählen wollte, die früh am Morgen den Unrat anderer Leute an deren Haustüren abholten, um jenen für einige Münzen irgendwo außerhalb der Stadt zu verrieseln. Nein nein, so tief konnte man nicht fallen, das konnte man doch unmöglich von jemandem verlangen. In fremde Häuser sei man seit dem letzten Herbst auch nicht mehr gestiegen, kein Wunder, noch saßen alle abends zuhause fest, es war ja kalt. Im Sommer würde es damit besser werden, dann, wenn die gut Betuchten dem Landleben im Umland fröhnen würden, doch jetzt gab es nun mal wenig Gelegenheit, soweit man nichts riskieren wollte. Und was blieb da schon, Beutelschneiden? Das hielt einen gerade so über Wasser. Nichts, was man teilen konnte. Nichts, womit man feiern konnte.
Tut uns ja leid Konstantin, aber da hättest du besser aufpassen müssen. Wirklich.

Ein weiteres Problem war der angeknackste Ruf. Objektiv betrachtet wäre es vermessen gewesen, ernstlich von einem "Ruf" zu sprechen. Alumenas war groß, und auch wenn man sich vorrangig lediglich in bestimmten Vierteln aufzuhalten vermochte (hauptsächlich, weil man sich in anderen, besser gestellten Gegenden nur allzu oft einer unfreiwilligen Unterhaltung mit der Wache hätte unterziehen müssen, die durchaus geübt war, jemanden aus der 'Sonnenau' allein anhand des unvertrauenswürdigen Gesichtsausdrucks und der gewollt verwegen choreographierten Kleidung auszumachen), so war weder Konstantin, noch das lose um ihn herum formierte Grüppchen in irgendeiner Weise etwas Besonderes. Es gab Dutzende wie ihn, alle mit ihrem eigenen kleinen Gefolge, das so lange ewige Freundschaft versprach, solange man im Schlepptau von jemandem mitgezogen wurde, der einem das Bier bezahlte.
Doch man kannte sich natürlich, man hatte seine Bekanntschaften und Feindschaften, und jene wussten gefühlt am nächsten Tage bereits über das Missgeschick bescheid - ein Umstand, der womöglich mit Ennas Angewohnheit zusammenhing, jeden einzelnen Morgen tratschend am Markt zu verbringen. So blieben mitleidig-spöttische Blicke hier und da also nicht aus, und das störte zumindest Anna noch mehr, als das fehlende Geld.

Während Konstantin nun also zwischen Brüten und rastlosem Suchen hin und her schwankte, anstatt erneut die Karten sprechen zu lassen, und der Rest der Gruppe sich in ebensolcher Suche und Rachegedanken erging, begann Anna einmal mehr mit dem Gedanken an etwas andere Gesellschaft zu spielen. Langeweile war das Eine, Krisenstimmung und mitleidige Blicke von allen Seiten jedoch etwas vollkommen anders - und so beleuchtet sah auch der Blondschopf mit jedem vergehenden Tag immer weniger anziehend aus. Noch zwei, drei solcher Abende mehr, dann hätte sie sich wohl endgültig von der Straße weiter, zu unterhaltsameren Ufern treiben lassen, und die Zeit bei Konstantin wäre nie mehr als das gewesen: Bloß eine kleine Episode in einer Aneinanderreihung anderer kleiner Episoden, die man über Jahre um amüsante Details anwachsend an gelangweilten Winterabenden weitererzählen konnte.

Doch da fanden sie ihn plötzlich.


Der Abend war bereits fortgeschritten, als die kleine Truppe an der Schänke eintraf, um Rache zu üben. 'Schänke' war hierbei durchaus nicht nur gegenständlich zu verstehen: Das vor Jahrzehnten verblichene Schild der alten Kaschemme nahe der hinteren Stadtmauer war nie erneuert worden, und der mittlerweile in Vergessenheit geratene Name war fantasievoll durch das ersetzt worden, was es war: Eine Schänke.
Olsun, Enna und Julius waren draußen geblieben, lauerten mit schlecht verborgenem Schlaggerät in den Händen an der Türe, während Anna in Konstantins Schlepptau zur angebrachten Erstkonfrontation mit hineinkam - hauptsächlich, weil sie bei Klärung der Rollen von der Betrachtung anzüglicher Kohlezeichnungen an der Außemauer der 'Schänke' abgelenkt gewesen war, und nicht schnell genug "Ich nicht!" geschrieen hatte. Ihr blieb nicht genug Zeit zu entscheiden, ob sie über diesen Umstand nervös erfreut oder nervös unerfreut war: Der gesuchte Übeltäter saß tatsächlich da, ganz unverborgen an einem schiefen Tisch unweit der Türe, und trank. Zweifellos von ihrem Geld.

So bäuerlich sah der Kerl heute nicht mehr aus, das fiel ihr im Herankommen noch auf. Eher gar nicht bäuerlich. Die Kleidung mochte noch immer etwas zu sauber wirken, die Naivität fehlte dem von dunklem Haar gerahmten Gesicht des Mannes jedoch vollkommen, war gleich einer unbrauchbar gewordenen Maske abgenommen worden, und hatte einen eigenartig harten Zug um seine Mundwinkel hinterlassen. Den Bewegungen fehlte gleichsam das Linkische als er aufstand, kaum dass die Beiden sich näherten. Viel zu selbstsischer.


"Konstantin!" Sie zischte leise, zupfte am Hemd des schnaubend voranstapfenden Blondschopfes. "Konstantin, das wird nicht..."

Der Blondschopf winkte bloß ab, so dass Anna kaum mehr übrig blieb, als weiter hinter ihm her zu eilen - wenngleich wohlweislich in seinem Rücken verbleibend, als sich klamme Anspannung in ihrer Magengegend ausbreitete. Das war nicht richtig, irgendetwas hier war nicht richtig, überhaupt nicht richtig...
Sie stieß, leise vor sich her lamentierend, beinah gegen Konstantin als dieser abrupt vor dem dünn lächelnden Dieb zum Stehen kam.


"Du schuldest mir etwas."

Gute Eröffnung. Im nächsten Augenblick ging Konstantin mit der Eleganz eines gefällten Baums zu Boden, als der Dunkelhaarige unter Missachtung jeglicher Etikette solcher Gelegenheiten (erst Drohungen, dann Schubser, dann Schlägerei unter möglicher Einbeziehung lauernder Verstärkung und schlimmstenfalls des Wirtes) einfach zuschlug.
Für einen Moment gefror die Wirklichkeit in nervösem Flattern.

Neugierig eintretende Stille im Schankraum, als sich die Köpfe der Gäste nach dem Geschehen wandten.

Aufgerissene Tür im Rücken - jemand der Ihren musste es durch das Fenster beobachtet haben.

Gestanzte und nicht unbedingt freundlich wirkende Züge des gestrigen Bauers direkt vor ihr, nun, da die Deckung, die Konstantin bot, jammernd am Boden lag.

Und ihr kam einfach nichts Klügeres in den Sinn.


"Hallo. Ich bin Anna."

Ihre Zunge war einmal wieder schneller als der Kopf. Wie konnte man nur etwas derart Dämliches sagen...?
Zumindest sorgte es heute für Lachen.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 22 Aug 2018 10:03, insgesamt 2-mal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 28 Aug 2018 09:22    Titel: Geisterstunde
Antworten mit Zitat


Adoran, das Haus am Ende der Straße. Vergangener Freitag.


Zitat:
Herr,

Ich habe verstanden. Es wird nicht wieder vorkommen.

Was Rondriks Schreiben angeht, so konnte ich mir im Laufe der letzten Tage tatsächlich ein Bild von der militärischen Schlagkraft unserer Familien machen, und darf Euch nunmehr stolz verkünden: Sie ist nicht vorhanden.

Der Hintergrund dieser Feststellung ist wie folgt. Letzte Woche wurde das Kriegsrecht in Adoran ausgerufen - ein Ereignis, das den Beginn unserer Offensive gegen eine feindliche Burg, die ich persönlich nie gesehen habe, markierte. Es gab einen Trupp an Sappeuren, die sich in eben jene Burg einschlichen (offenkundig konnte diese Festung nicht durch besonders gute Abwehrmaßnahmen glänzen, wenn Ihr mich fragt) um sie zu zerstören, während der breite Rest, also das Regiment, wir, und weitere Bürger und Freiwillige, sowie Zwerge, Thyren, Elfen und sogar einige weniger Menekaner, den Feind ablenkten.
Wir lenkten den Feind ab, indem wir uns wiederholt verprügeln ließen. Es funktionierte soweit ausgesprochen gut, da der Feind sich mit einer gewissen Begeisterung auf diese Taktik einließ - über eine Freiwilligkeit dieser Rollenverteilung auf unserer Seite bin ich mir dahingehend jedoch noch unschlüssig. Für mich persönlich kann ich klar feststellen, dass ich lieber auf der prügelnden Seite gewesen wäre.

Doch wie dem auch sei, wir errichteten ein Lager vor den Ruinen Varunas und ließen uns tagtäglich in Kämpfe verstricken. Wenn wir in keine verstrickt wurden, fingen wir eben selbst welche an, da der Feind bequemerweise ebenso ein Lager unweit des Unsrigen aufschlug. Verständlicherweise, man will ja einen Krieg ausfechten und keine Dauerwanderungen unternehmen. Nach einigen Tagen des Hin- und Hers zwischen den Lagern haben wir schließlich, sobald die Burg zerstört war, das Lager abgebrannt, und traten den geordneten taktischen Rückzug an (böse Zungen behaupten, wir wären weggelaufen, doch dieser vollkommen falsche Eindruck ist allein der Geschwindigkeit des Rückzugs geschuldet. Glaubt so etwas nicht).

Soweit es die Familie betrifft, kann ich berichten, dass so gut wie alle anwesend waren und sich nach Kräften bemühten. Sogar Hyram - jener hatte zwar eine Schalcht verschlafen, sprichwörtlich Herr, doch nahm er sich unser Missfallen hernach zu Herzen und bemühte bei Kämpfen sogar seinen Bogen.
Linhart und Berthold hielten wie stets die Moral hoch, indem sie über alle anderen herzogen und mit kleinen Spielen und Wetten die Langeweile fernhielten, wenn die Wacht lang wurde (Herr Berthold schuldet mir im Übrigen noch 6 Kronen, da er sich ungeschickt dabei anstellte, einen Baum mit Brei zu bewerfen. Er ist kein sehr guter Schütze. Außerdem glaube ich, dass er schielt).
Gerold hielt sich im Gefolge der anwesenden Priesterschaft auf und verlas zum Schluss eine kleine Predigt im Rahmen einer Feldmesse, die, soweit ich es von meiner Position auf der Palisade aus abschätzen konnte, recht ergreifend klang.
Tarlesin stand wacker in den Reihen des Regiments, wie kaum anders zu erwarten.
Tatsächlich glänzen konnte allerdings Kevan. Er wurde der Frau Oberst vorstellig und hatte die Ehre, eine kleine Reiterei für einen der Angriffe zusammenzustellen, die später unter dem Kommando des Kronritters von Gipfelsturm agierte. Er beabsichtigt, der Frau Oberst auch weiterhin unterstützend zur Seite zu stehen, wo möglich und gefordert.
Im Rahmen der Reiterei und auch späterer Angriffe fiel mir übrigens Ruth als recht geschickte und auch hinterhältige Kämpferin auf. Sie hatte es mehrfach geschafft, den Feind zu täuschen (ein eigentlich einfacher Gedanke: Man ziehe sich etwas Dunkles an und schaue finster und leidvoll drein) und von hinten anzugreifen, bis man sie doch stellte und anscheinend auch folterte. Sie ist jedoch derweil auf freiem Fuße und halbwegs guter Verfassung. Eine "Kaliq" aus Menek'ur kümmert sich um sie. Ich fand noch nicht heraus was das ist, und es war mir peinlich, danach in großer Gesellschaft zu fragen, als sie da alle saßen und nickten und es zu wissen schienen. In jedem Fall ist es eine Dienerin der Mutter, womit das Wichtigste wohl klar wäre.

Rondrik nun, um zu jenem zurückzukommen, war, soweit ich es sah, überall ein wenig dabei, sowohl bei der Reiterei, als auch später unter den Fußsoldaten. Er genießt Kevans Sympathie, ist in keine familiären Konflikte verstrickt, und scheint pragmatisch, effektiv und mit rudimentären Manieren ausgestattet, zudem verfügt er über Kontakte in Menek'ur. Ich denke daher, dass sein Anliegen eine Chance haben könnte - und wir damit eine Chance erhielten, beim nächsten Mal nicht ausschließlich die Füße des Feindes aus liegender Position heraus betrachten zu dürfen.

ATR

P.S.: Fräulein Ivit ist wieder gesundet. Sie wird allerdings ob ihrer Anstellung in Bajard von einem Diener des Raben umworben, der dort missionarisch unterwegs ist (wenngleich ich Mühe habe mir vorzustellen, welcher Kretin sich von der Aussicht verlocken lassen sollte, seine Seele einem nach Verwesung stinkendem Monstrum überschreiben zu wollen...diese missionarische Tätigkeit kann unmöglich allzu erfüllend sein). Soweit scheint die Situation kontrolliert und bar direkter Bedrohung, wir behalten es jedoch natürlich im Auge.


Anna starrte auf die fertigen Zeilen hinab, ohne wirklich hinzusehen. Das bis auf das Licht einer Kerze in ihrem Zimmer in Dunkelheit getauchte Haus lag still da, tief in der über Adoran ziehenden Spätsommernacht versunken. Den geöffneten Fensterläden zum Trotz regte sich draußen kein Lüftchen - allein der Duft von warmem Straßenstaub und diversen Gartenblumen, deren Namen Anna ohnehin nicht kannte, strömte hinein. Irgendwo, weit entfernt, hallte Hundegebell auf, brach dann ebenso schnell ab, wie es begann, und die Welt stand wieder still.
Geisterstunde.

Sie hatte eigentlich nicht schreiben wollen, nicht heute, vielleicht nicht einmal morgen, doch der latente Ärger über den Abend hatte sie auch nicht zur Ruhe kommen lassen. Es wäre einfach gewesen, den Grund in den gehörten Neckereien zu suchen. Und tatsächlich, es war nichts gewesen, was man gern über sich hörte. Zwar nichts, was in vollem Ernst gefallen wäre, doch auch wieder nichts, was man gänzlich aus der Luft gegriffen hätte. Über das Dazwischen, die Frage nach dem Anteil von Wahrheit, hätte man lange philosophieren, hätte abwägen können, inwiefern man nun den Scherz Scherz sein lassen, oder sich doch brüskiert und schmollend zurückziehen sollte, wenn man sich gerade besonders kindisch und anstrengend fühlte.
Fakt war jedoch, dass nichts von dem Gesagten der eigentliche Grund für den starr verkrampften Magen und raschen Aufbruch gewesen war. Und doch, doch... Sie schloss die Hand um das Kettchen in ihrer Tasche, atmete durch. Er konnte es nicht wissen. Schluss damit.

Draußen knarzte die Gartentür, riss Anna aus dem übermüdeten Karussell der Gedanken. Sie hob den Kopf und horchte. Die Welt war wieder in Bewegung geraten. Fünf, vier, drei... ein Aufschlagen und Schließen der Eingangstüre, bald gefolgt von schweren, gemessenen Schritten hinauf. Kaum merkliches Zittern von Dielen nahe der Tür, als die fremden Füße an ihrem Zimmer vorbeizogen. Noch eine Tür, schließlich das leise Rumoren von jemandem, der sich zum Schlaf bereit machte, im Nebenraum.
Die Luft draußen regte sich plötzlich, als hätte die im Haus eingekehrte Bewegung auch die Starre der Außenwelt aufgebrochen, strich der reglos am Fenster sitzenden Frau kühl über den Nacken - neben dem Flackern der Kerzenflamme die einzige Vorwarnung, ehe die nächtliche Stille der Straße von ansatzlosem Rascheln dichten Sommerregens abgelöst wurde.

Anna saß da. Sie saß da, während es rasch kühler wurde, und der Geruch ihr unbekannter und vollkommen gleichgültiger Gartenblumen von Regenduft verdrängt wurde. Sie saß da, während die Geräusche im Nebenzimmer weniger wurden und schließlich gänzlich verklangen. Sie saß da, während die Kerze auf der Fensterbank immer kleiner und das unruhig im Wind zappelnde Flämmchen immer fahler geriet. Dann stand sie mit einem Ruck auf, wandte sich um, und schleuderte das Silberkettchen hinaus.

Einige Minuten später rannte eine barfüßige Frauengestalt aus dem Haus, lief, kleine Fontänen aus Wasser und Matsch aufwirbelnd, durch den Garten und auf die Straße, um dort im knöcheltief über das Pflaster strömenden Regenwasser hektisch nach etwas zu suchen.



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Irgendwo in Alumenas, vor etwa 6 Jahren. Frühjahr, am gleichen Abend


"Nein, das musst du ändern."

"Ich sehe keinen Grund."

"Keinen Grund? Willst du mich verschaukeln, Mann? Weißt du, wer so heißt?"

"Du hast es bereits erläutert."

"Alte Männer. Alte Männer mit Halbglatze, Ziegenbart und Gehstock heißen Kaldo. Beim Arsch meiner Mutter, lauf' mit mir morgen über den Kleinen Markt, brüll' Kaldo, es werden sich drei von der Sorte umdrehen, eine Krone drauf!"

"Du hast keine Krone, Julius."

"Ja, hab' keine Krone... Die hast du mir weggenommen! Bastard. Egal, darum geht es nicht. Es geht darum, dass du einen anderen Namen wählen solltest, wen würde es denn stören? Wer kennt deinen richtigen schon, außer uns hier?"

"Ich habe die Krone ehrlich gewonnen. Und bin zufrieden mit meinem Namen, herzlichen Dank dennoch."

"Zufrieden, sagt er. Zufrieden. Hört ihr das?"

"Er könnte sich Craven nennen."

"Das klingt bescheuert."

"Das hätte Stil."

"Als hättest du Ahnung von Stil."

"Allemal mehr als du, du alte Zippe!"

"Was, was sagst du? Flüster lauter, Olsun... Ah? Nein. Nein, das hat nichts mit dem Ausschnitt zu tun."

"Das nächste Freudenhaus ist nur zwei Straßen weiter, wenn es um Ausschnitte geht..."

"Hast du dort unser Geld gelassen?"

"Was heißt alt, ich habe kaum 30 Sommer erblickt?"

"Hört mal, darum geht es doch gar nicht!"

Es war nun das zweite oder dritte Mal, dass Julius die Sache mit dem Namen aufgriff. Kaldo ließ es mit einer bemerkenswerten Geduld über sich ergehen, die jedoch womöglich die gleiche Ursache hatte, wie auch Julius' im Kreis laufenden Wortmeldungen: Den Alkohol. Jener war billig, floss in Strömen, und ließ allmählich keinen der am Tisch Sitzenden unbehelligt. Die vergehende Zeit brach sich träge in leeren Gläsern und Krügen auf dem Tisch, planschte in trüben Resten von Schnaps und Bier und ließ sich nicht mehr so richtig greifen. Allein, dass der Abend bereits gut fortgeschritten war, ließ sich zweifellos bestätigen - die steigenden Lautstärke und Quote umfallender und stolpernder Gäste in der Schänke sprachen eine deutliche Sprache.

Am schiefen Tisch unweit der Türe, den das Grüppchen okkupiert hielt, hatte sich bis dahin viel geklärt. So wusste man nun, dass der Dieb den Namen Kaldo trug (ein Detail, das Julius seit dem keine Ruhe mehr ließ). Man wusste auch, dass man das gestohlene Geld nicht zurückbekommen würde - vor allem, da es größtenteils schon ausgegeben worden war. Wofür, wusste man zwar noch nicht, allerdings wurde mit dem Verbliebenen eine Versöhnungsrunde bezahlt...und noch eine, und noch eine, so viele eben, bis die Animositäten sich in typisch weitherziger Trunkenheit, wie man jener nur in Schänken mit nie gewischten Tischen begegnen konnte, auflösten. Schließlich lautete die führende Lebensweisheit in der 'Sonnenau' seit jeher: "Sage mir, wer heute bezahlt, und ich sage dir, wer mein Freund ist." (anderen Quellen zufolge lautete die führende Weisheit allerdings vielmehr "Nimm, was du kriegen kannst, und lauf", während wieder andere sich auf "Öffne niemandem nach Einbruch der Dunkelheit die Tür" versteiften, und eine gewisse, schlagkräftige Minderheit schließlich für "Gib mir dein Geld, aber schnell" plädierte...doch das waren bloß Nuancen).
Mit der Zeit erfuhr man auch, dass Kaldo noch keine bestimmten Pläne oder Kontakte in der Hauptstadt besaß, dafür jedoch schnelle Fäuste und ebenso schnelle Finger: Nach einer spontanen Einführung in die Grundsätze des Schlossknackens an einem alten, vom Wirt mit unbegeisterten Zügen gestellten Schloss, brach der Neuzugang zu allgemeinem Entzücken ohne größere Mühe das Schloss einer Schatulle auf. Woher die Schatulle aufgetaucht war, klärte sich an diesem Abend nicht mehr, und da drinnen nur irgendwelche vergilbten Papiere waren, blieb es auch von geringem Interesse.


"Naturtalent, ganz offensichtlich."

"So ein Unsinn, er konnte es schon."

"Das konnte ich keinesfalls."

"Ich fand es beeindruckend."

"Selbstverständlich fandest du das Anna, bei dir darf man sich freuen, wenn du dir mit der Gabel nicht das Auge ausstichst."

"Gib es schon zu, das war nicht das erste Mal."

"Ich sagte doch, ich habe so etwas noch nicht getan."

"Und du würdest uns natürlich nicht anlügen. Was hast du bislang gemacht, mh? Was trieb dich her?"

Der Neue schwieg, hob allein die Schultern und griff nach seinem Bierkrug. Konstantin schnaubte - als Einziger der Gesellschaft behielt er eine gewisse Mürrischkeit bei, in offensichtlicher Folge der blutig geschlagenen Nase und angeknackster Würde.
Einen fliehend kurzen Moment lang wich die schnapsgetränkte Fröhlichkeit einen Hauch zurück, machte leiser Anspannung Platz. Das Schweigen dehnte sich. Konstantin lehnte sich vor, die hellen Augen geschmälert.


"Keine Antwort? Ist es dir woanders zu heiß geworden? Oder ist es eine Masche?"

"Es ist keine Masche. Es geht dich nichts an."

"Also eine Masche. Die Älteste der Welt. Tue geheimnisvoll, dann springen dich die Weiber schon an. Billig."

Julius schnaubte vernehmlich - ein kurzes Geräusch, und doch ausreichend, die Spannung zu brechen, als der Rest ebenso zu lachen anfing. Einige Atemzüge später war die heitere Gesellschaft bereits in die üblichen Gespräche über alles und nichts verfallen, an die sich am nächsten Morgen kaum jemand erinnern würde.
Kaldo lächelte schmal und trank. Anna unterdrückte das Bedürfnis, der Nase des Blondschopfes einen neuen Schlag zu verpassen.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 28 Aug 2018 09:23, insgesamt einmal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 02 Sep 2018 15:44    Titel: Chance auf Wahrheit
Antworten mit Zitat


Werlental, Gasthaus "Zur Königin", Bruchstein. Vor knapp 2 Jahren.


Ich habe dir ein Angebot zu machen.
Ich höre, Herr.
Nein, nein, kein Befehl. Ein Angebot. Siehst du... setz dich, Mädchen. Du entsinnst dich sicherlich meiner Meinung, dass alles, was es zu haben lohnt, verdient werden muss.
Ihr sprecht von so etwas wie... Licht? Oder einem Bett? Oder dem eigenen...
Spare dir die Spitzen. Du bist weder meine Hure noch meine Gattin, als dass mich deine verletzten Gefühle interessieren würden.
Verzeihung, Herr.
Verziehen. Ich will auf das hinaus, was es tatsächlich zu haben lohnt. Ich spreche von Chancen.
Chancen?
Chancen. Ich trage mich mit der Überzeugung, dass jeder früher oder später eine Chance verdient. Sogar du.
Ihr habt mir eine Chance gegeben. Daran entsinne ich mich, wenn Ihr darauf hinauswollt.
Nein. Ich habe dir Befehle gegeben. Die du so weit befolgt hast, dass man dir keine Nachlässigkeit nachsagen könnte, und keinen Fingerbreit weiter. Nein, spare dir den Widerspruch, du machst mir bloß wieder Kopfschmerzen. Sei nicht anstrengend. Nochmal. Du hattest Befehle. Deine Chance erhälst du jetzt.
Welche?
Die Chance auf Freiheit.
...
...
...was kostet mich das?
Die richtige Frage wäre: Wen? Nein. Schau mich nicht wieder so an. Kopfschmerzen, weißt du noch?

---------------------------------------------------------------------------------


Warum gibst du vor, es nicht mehr zu wissen?

Sie hatte es gelernt. Wie fast jedes Kind, das irgendeine Form von Erziehung genoss, die sich darauf richtete, aus dem Kind ein gutes Kind, ein respektables Mitglied der Gesellschaft zu machen. Ob Elternhaus, Waisenhaus, oder was es sonst an Häusern gab, es waren stets die gleichen einfachen Wahrheiten.

Sei brav.
Sei höflich.
Ziehe die Schuhe aus, wenn du von draußen kommst.
Vorsicht mit dem Messer.
Steck nicht den Finger da rein.
Mache keine Schulden.
Vorsicht mit dem Feuer.
Lüge nicht.
Kein Alkohol.
Sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück.
Halte dein Zimmer sauber.
Warte auf die Hochzeit.
Besuche die Messe.
Mach nichts kaputt.
Steck NICHT den verdammten Finger da rein!

Kleine Kinder nickten mit großen Augen zu diesen Belehrungen, um die Hälfte davon sogleich zu brechen, sobald niemand hinschaute. Größere Kinder machten sich, um etliche unangenehmen Erfahrungen weiser, ihre Gedanken darüber, und begannen das ein oder andere einzuhalten. Mit dem Verlassen des Kindesalters brach man das, was noch nicht gebrochen worden war, und noch Einiges von dem, was nicht gesagt, aber mehr oder minder erwartet wurde - der Unterschied zu den Vergehen der Kindheit war jedoch, dass man allmählich lernte, sich tatsächlich nicht dabei erwischen zu lassen. Mit dem Einzug des Erwachsenenlebens begriff man endlich, dass die meisten dieser Regeln eher Richtlinien waren, die vielleicht, unter Umständen, Geltung fanden, zumindest, wenn es um einen selbst ging. Andere verurteilte man natürlich, wenn es doch ans Licht kam, und wenn man dabei eine angemessen empörte Miene aufbehielt, galt man als ein respektables Mitglied der Gesellschaft. Wenn die Empörung besonders gut und häufig gelang, wurde man Politiker.

Die Empörung hatte Anna nie so recht gemeistert. Sie gehörte zu den Menschen, die, wenn sie eine alte Gruft mit einem großen unheilvoll wirkenden Sarkophag betraten, vor der Öffnung dessen eine alte Pergamentrolle und ein Schild mit roten Großbuchstaben warnten, bei erster sich bietender Gelegenheit den Deckel zurückschieben und mit einem spitzen Stock darin herumstochern würden. Diese Einstellung stand dem Einnehmen eines respektablen Platzes in der Gesellschaft beständig im Wege, auch lange nachdem sie die Straßen Alumenas' hinter sich gelassen hatte. Was sie dennoch erreichte, erreichte sie zumeist durch eine gesunde Mischung aus Zwang und Alkohol - und über den Rest ließ sich lügen. Darin war sie mittlerweile recht gut geworden. Das Geheimnis bestand darin, zur richtigen Gelegenheit auf die richtige Art zu lügen.

Da gab es einerseits die blatante Lüge. Man konnte sie mit steinernem Gesicht vortragen, wenn man zeigen wollte, dass man log und sich keinen Deut dafür schämte. Solcherlei konnte für Verwirrung sorgen oder zumindest ein unangenehmes Gespräch auf eine Weise beenden, die vor allem für den Gegenüber unangenehm war. Man konnte sie auch nebensächlich fallen und überzeugend wirken lassen, wenn weder Wahrheit (Temora bewahre) noch Zweideutigkeiten sinnig erschienen. Das war vor allem bei Unterhaltungen mit halb bekannten Menschen oder in Spielrunden der Fall.

Dann gab es die halbe Lüge, die daraus bestand, dass man zwar nicht wirklich log, aber nur einen Teil der Wahrheit aussprach. Sie war schwierigen Fragen vorbehalten, Fragen, die nur gewisse Personen stellen würden, denen man, den letzten Rest Gewissens zusammengekratzt, nicht direkt ins Gesicht lügen wollte. Oder man nutzte die Taktik, um sich besonders geschickt vorzukommen. Hinterher schmunzelte man womöglich kalt.

Eine gleichsam beliebte, wenn auch weniger offensichtliche Art der Lüge war es, Fragen haarscharf daneben zu beantworten oder mit Gegenfragen zu torpedieren. Mit etwas Glück vergaß derjenige hinterher, dass das eigentlich Gefragte gar nicht beantwortet worden war. Es eignete sich immer dann, wenn es persönlich wurde, aber besser nicht persönlich werden sollte. Diese Art von Fragen ehrlich zu beantworten trug ein zu hohes Risiko mit sich, hinterher nicht mehr genug Alkohol im Haus zu finden.

Die schwierigste, und am Seltensten benutzte Art der Lüge war schließlich die Wahrheit. Eine pure, ungeschminkte Wahrheit, ohne Winkelzüge, ohne Verschwiegenes, so klar und rein wie ein Blitzschlag, eine Wahrheit, die keine Fragen offenließ. Diese Wahrheit ließ sich gleich einer hübschen Decke über eine andere Wahrheit ziehen, eine, die wesentlich weniger offensichtlich, dafür umso hässlicher war, und so tief saß, dass lediglich langes Überlegen und sehr, sehr gute Kenntnis des derart Lügenden auch nur eine Ahnung von Verdacht wecken könnten, dass es diese überhaupt gab.

Für Letzteres hasste sie sich.


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 02 Sep 2018 15:46, insgesamt 2-mal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 07 Sep 2018 13:08    Titel: Sonnenau
Antworten mit Zitat


Irgendwo in Alumenas, vor etwa 6 Jahren. Frühjahr.

Börn Haferklamm (eigentlich hätte er Bjorn heißen sollen, doch der damals zuständige Schreiber betrachtete Rechtschreibregeln vielmehr als unverbindliche Vorschläge) drückte sich tiefer unter einen steinernen Vorsprung und blinzelte fahrig in den hinabströmenden Regen. Die Meisten mochten sich beschweren, dass Regen eine dunkle Nacht umso dunkler gestaltete, diese Einschätzung teilte er jedoch nicht. Im Gegenteil: Das Licht der Fenster (an Laternen erinnerten in dieser Gegend lediglich leere Verankerungen an den Hauswänden - die Laternen selbst waren längst von jenen Leuten mitgenommen worden, die an jedem nicht fest mit dem Boden verschraubtem Gegenstand ein unsichtbares "Zu verschenken"-Schild zu sehen glaubten) brach sich in den Silberfäden des Wassers, wurde von diesen aufgenommen und weiterverteilt. Börn mochte Regen, solange er einen trockenen Unterschlupf fand, und an solcherlei mangelte es in der Sonnenau nicht.

Man hätte sagen können, dass das an der alten Stadtmauer entlangmäandernde Viertel seine besten Tage hinter sich hatte, hätte es diese besten Tage denn je gehabt. Das war allerdings nicht der Fall. Irgendwann, in grauer Vorzeit, als die Mauern noch neu und die Stadt wesentlich kleiner gewesen war, hatten sich hier weitläufige Streuobstwiesen befunden: Ein geschützter Garten, wäre es zum Krieg gekommen, und ein beliebter Ort für die Simulation ländlichen Lustwandelns, ohne wirklich aufs Land hinauszumüssen, zu Friedenszeiten.
Nach und nach mangelte es jedoch an Platz, und irgendwann duckten sich die ersten kleinen, schiefen Häuschen unter die hoch aufragende Stadtmauer: Da, wo es zu schattig für Obststräucher war, und wo ohnehin niemand wohnen wollte, man wäre ja im Falle eines Angriffs als Erster dran gewesen. Die ersten armen Schlucker zogen jedoch, wie es so kommt, andere arme Schlucker an, und die wiederum zogen arme Schlucker an, die eigentlich gar nicht so arm, dafür aber umso krimineller veranlagt waren, und nur zu gern an einem Ort wohnen wollten, für den sich die Wache nicht sonderlich interessierte. Aus einigen wenigen Häuschen wurden mehr und mehr, die Obstbäume fielen, die Wiesen verkamen zu schlammigen Straßen, und irgendwann erinnerte allein der Name des Viertels daran, dass hier einst etwas Anderes gewesen war, als ein Gewirr enger Gassen und schiefer Häuser, die teilweise allein durch Sturheit und Ignoranz der Schwerkraft zu trotzen schienen.
Die chaotische Enge wiederum bot einen unschätzbaren Vorteil für Leute wie Börn - es gab immer eine irgendeinen Vorsprung oder eine aberwitzig geformte Mauer, unter der sich Schutz vor Wind und Wetter finden ließ. Hier die verkrüppelte Version eines Balkons, der einmal geplant und nie fertig ausgeführt worden war, dort eine sich zu weit nach außen lehnende Rinne, da ein Ziersims, der bei seinem Dekorationsauftrag kläglich versagte, drüben ein Obergeschoss, das um gut einen Schritt breiter als das Untergeschoss war... man fand schon etwas.

Natürlich bettelte er hier nicht. Die meisten Leute in der Sonnenau hatten entweder selbst kaum genug, oder gehörten zu der Sorte, die den Napf eines Bettlers plündern würde, sobald dieser wegsah. Nein, gebettelt wurde in besseren Vierteln, am besten im Umkreis der Glaubensstätten. Börn machte es seit über 20 Jahren, und er war gut darin, besonders armselig auszusehen, und besonders schnell zu verschwinden, wenn doch einmal ein unleidlich dreinschauender Wachmann auftauchte.
Er verdiente recht gut, für die Verhältnisse seines Metiers, wahrscheinlich genug, um sich irgendwo in der Sonnenau ein kleines Zimmerchen zu nehmen - doch zumeist kümmerte er sich allein zur Winterzeit darum, dann, wenn es das über den Sommer Angesparte erlaubte, die eisige Kälte größtenteils im Warmen zu verbringen. Börn plante so etwas voraus, und darauf war er stolz, ebenso stolz wie auf seine Ortskenntnis. Er kannte nicht nur die besten Orte zum betteln, sondern auch die besten Plätze zum Übernachten. Er wusste wo man sich unterstellte, wenn der Regen von Norden oder Westen kam, und wo man besser aufgehoben war, wenn es stürmte. Alles in allem war er recht zufrieden - so zufrieden, wie man es in seiner Position eben sein konnte. Es hätte auch schlimmer kommen können.

Börn zog eine halb geleerte Flasche mit Alkohol unklarer Natur unter seinem Umhang hervor. Verkauft wurde so etwas in den billigsten Tavernen (und das musste hier schon etwas heißen) der Sonnenau als Schnaps, faktisch war es aber...etwas. Eine bessere Umschreibung gab es nicht, doch es wärmte bei klammem Wetter und machte wahrscheinlich nicht blind, was die Grundvoraussetzungen für Schnaps ausreichend erfüllte. Er nahm einen langen Schluck, ließ das Gebräu auf der Zunge zergehen, und stellte zarte Noten von Birne und altem Tuch im Abgang fest. Weiteres Kramen forderte geringfügig mit Krümeln bedeckten, kalten Schinken hervor - das Fleisch war nur zwei Mal von jemandem am Rand angebissen und dann weggeworfen worden. Der Bettler nickte sich selbst zufrieden zu. Feierabend.
Unweit klangen Stimmen auf, das friedliche Prasseln von Regen störend, und ließen ihn den Kopf drehen. Der Lärm - jene Art von Lärm, den junge Leute nach einem ausgedehnten Schänkenbesuch verursachten - näherte sich aus Richtung Weißelstraße, bis die Störenfriede schließlich im Sichtfeld erschienen. Börn lehnte sich bequemer zurück, genoss jene Art von Behaglichkeit, die jenen zusteht, die im Trockenen sitzend Andere dabei beobachten, wie sie durch den Regen laufen.

Gut, laufen war hier das falsche Wort. Die Gruppe war offenkundig schon seit einiger Zeit unterwegs, vollkommen durchnässt, und hatte darob jegliche Eile aufgegeben, schlenderte palavernd und lachend die Straße hinab. Er nahm einen neuen Schluck, das Gehabe der Vorbeiziehenden musternd, als sie sich näherten. Menschen beobachten, das gehörte auch zu seinen Stärken, wie es bei jedem erfolgreichen Bettler der Fall war und sein musste. Ohne Menschenkenntnis blieb der Napf am Ende des Tages leer.
Einige der Gesichter kannte er, zumindest vom Sehen. Den fülligeren Braunschopf, der nicht genau zu wissen schien, wo er mit seinen Armen hinsollte, den kannte er. Der Sohn eines Schlachters aus dem Stechhaus in der Toten Gasse. Ein Nichtnutz, natürlich, zu dumm zum Scheißen, aber gutmütig wie ein Ochse. Wie hieß er gleich? Julian? Julius? Irgendetwas in der Art. Auch der Anführer des Trupps, dessen helle Mähne durchnässt am Schädel klebte, war kein fremdes Gesicht: Einer der Spieler und Gelegenheitsdiebe im Viertel, kein produktives Mitglied der Gesellschaft zwar, aber wer war das hier schon? Er war immer freundlich zu Börn, schien sich stets aufrichtig um seine Leute zu kümmern, und das galt es zu respektieren. Die Blondine an dessen Seite kannte er ebenfalls - ein unstetes Wesen, das man alle Nase lang mit jemand Anderem umherziehen sah, ein hübscher Parasit mit dem Gespür für die richtige Zeit und den richtigen Ort. Würde wahrscheinlich früher oder später als Hure enden.
Der Große an der Seite... Nein, der war neu. Und auffällig.

Börn blinzelte und lehnte sich ein wenig voran, nahm das vom Dach über ihm in den Nacken herabprasselnde Regenwasser in Kauf, um genauer sehen zu können. Groß war nicht ganz richtig - der Kerl war nicht klein, aber auch nicht dargestalt, dass er die Anderen deutlich überragen würde. Es war vielmehr die Art, wie er sich hielt, die ihn herausstechen ließ, die unerschütterliche Selbstsicherheit, die durch jede Regung strahlte, als würde ihm die Straße, oder gleich die ganze Stadt gehören. Der Mann bewegte sich wie einer, der ganz selbstverständlich davon ausging, dass sich die Welt schon anpassen würde - und das Beunruhigende an so jemandem war, dass die Welt sich in gewissen Situationen überrumpeln ließ und tatsächlich mitmachte.
Und Börn schien nicht der einzige zu sein, der es bemerkte. Man musste genau hinsehen (so genau, wie es eben ein halb betrunkener Bettler an einer Hauswand zu tun vermochte, der um diese Uhrzeit, bei diesem Wetter wahrlich nichts Besseres zu tun hatte, als vorbeiziehendes Vok zu betrachten) um es zu erkennen, doch sie war da: Eine kaum merkliche, schwindend geringe Störung in der Rollenverteilung des durchnässten Grüppchens. Sie schwatzten und lachten und schubsten, benahmen sich also insgesamt so, wie sich junge, angetrunkene Leute bei einem Streifzug durch die nächtliche Stadt zu benehmen hatten, bis auf eine: Das Blondchen. Sicher, auf den ersten Blick klebte sie vordergründig am Anführer, wie es solche ihrer Art stets zu tun pflegten, hielt mit jenem Schritt, wie zufällig an seiner Seite verbleibend... doch wenn sie lachte, wenn sie einen Augenblick lang ihre Rolle vergaß, sah sie zum Großen hin. Ein erster kleiner Ruck in den festgelaufenen Bahnen einer Welt, die sich zu ändern begann.

Einen Moment lang fühlte Börn sich versucht, dem kleinen Trupp zu folgen und diese Entwicklung weiter zu beobachten, dem Regen zum Trotz. Allerdings reagierten die Meisten nicht unbedingt verständnisvoll darauf, wenn ihnen mitten in der Nacht ein starrender Bettler folgte. So ließ er am Ende die Neugier Neugier sein, lehnte er sich wieder in die kühle Trockenheit seines Unterschlupfes zurück und hob die Flasche zum Mund.
Altes Tuch im Abgang. Na wenigstens keine Rattenscheiße.
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 20 Sep 2018 14:09    Titel: Sternstunden und Teerosen
Antworten mit Zitat


Irgendwo in Alumenas, vor etwa 6 Jahren. Noch immer Frühjahr.


Manche Geschichten beginnen mit Blumensträußen und Teestunden.



"Hälst du das hier für ein Spiel?"

Der Tag war lang gewesen. Er hätte kürzer sein können, und schöner sicherlich auch, doch irgendwie war es von Anfang an nicht so recht gelaufen. Mit dem falschen Fuß aufgestanden, in den falschen Haufen hineingetreten, all das eben - ein Tag, an dem nichts wirklich vorgefallen war, doch auf eine so enervierende Weise, dass man zum Abend hin drauf und dran war, jemandem von hinten in den Schritt zu treten. Nun sprühten also vorhersehbar Funken, ohne sich an der Feuchtigkeit der vom unlängst gefallenen Regen geschwängerten Abendluft stören zu lassen.

"Seit wann ist so etwas kein Spiel?"

Sie sah Enna nicht direkt an, blickte in stur gereizter Langeweile an deren Ohr vorbei zur chaotisch wiegenden Menschenmenge unweit. Der Tanz am Kleinen Markt war der Ball des kleinen Mannes, und weil dafür nicht viel mehr nötig war, als viel Alkohol, viel Gehopse, und irgendetwas, was mal mehr, mal weniger nach Musik klang, die zudem lediglich schnell und fröhlich, aber nicht sonderlich fantasievoll sein musste, war es ein Ereignis, das in den warmen Jahreszeiten so gut wie wöchentlich stattfand. Anna mochte es. Mochte das Hüpfen und Drehen bis es einem in den Ohren klingelte, das warme, schnell zu Kopf steigende Prickeln, wenn man nur genug von dem billigen Bier am Platz trank, sie mochte sogar die wunden Füße am nächsten Tag. Und darum hatte sich der Konflikt der letzten Minuten am Ende entfaltet.
Anna wollte tanzen. Die Anderen wollten sich lieber darauf konzentrieren, den trunkenen Tänzern ihr Geld aus der Tasche zu ziehen, im höchst sprichwörtlichen Sinne. Was Kaldo wollte, blieb unklar. Er erging sich seit gut einem Viertel Wassermaß in beobachtendem Danebenstehen: Ein Verhalten, in das er immer einmal wieder ohne Vorwarnung verfiel, und das Anna zu besseren Zeiten als angenehm geheimnisvoll, heute jedoch als nervtötend bis überheblich empfand. Sie wollte wirklich gerne jemandem in den Schritt treten.


"Seit wir letzten Winter nach Abfällen suchen mussten. Du magst nicht dabei gewesen sein, Prinzessin, aber ich war es."

Ennas Zischen riss sie aus den aggressiven Absichten dem mehr oder minder unschuldig danebenstehendem Mann gegenüber, und fokusierte die rastlose Gereiztheit wieder auf die hastig, gedämpft keifende Brünette.

"Es geht hier nicht um Spaß. Niemand ist hier aus Spaß, außer dir, und du kannst es dir bloß erlauben, weil du noch jung und hübsch bist und die Kerle dich gern um sich haben. Noch, lass mich das einmal betonen, und auch dann weiß ich nicht, was mit dir nicht stimmt, dass du es als Spaß ansiehst. Es ist mir aber ehrlich gleich, was mit dir ist. Von uns hat bestimmt keiner Lust, später wieder alte Brotreste aus der Rinne fischen zu müssen, wenn sich gerade einmal nichts ergab. Glaubst du, so etwas macht Spaß? Olsun hat übrigens eine bettlägrige Mutter, wusstest du das? Glaubst du, er ist aus Spaß hier? Wir brauchen das Geld zum Überleben, du selbstverliebte Ziege. Und deswegen fangen wir jetzt schon an, und wir verdienen diesmal genug, um im Winter weder frieren, noch hungern zu müssen. Und vielleicht, wenn du dich nun endlich zusammenreißen würdest, vielleicht bringen wir dann auch deinen Hintern durch. Vielleicht sogar seinen da. Also reiß dich zusammen, steh Schmiere, wie es dir gesagt wurde, und erkläre ihm, worauf es dabei ankommt. So schwer kann das nicht sein, beim Arsch meiner Mutter... Übernimm ein Mal etwas Verantwortung!"

Damit fuhr die Schwarzhaarige auf dem Absatz herum, stapfte, noch immer vor sich hermurmelnd, durch die hopsende Menge davon. Konstantin, Olsun und Julius hatten sich bereits irgendwo zwischen den Tanzenden und Trinkenden verloren. Anna starrte ihr schweigend hinterher, hin und her gerissen zwischen dem Konflikt aus wütend nach blutiger Rache verlangendem Kreischen in der einen Ecke ihres Kopfes, und unerwartetem, schlechtem Gewissen in der Anderen. Ihr Gewissen meldete sich recht selten zu Wort, und wenn es einmal geschah, sorgte dieses Ausnahmeereignis stets für verdatterte Sprachlosigkeit.
Schließlich hüstelte Kaldo neben ihr, den Blick zur Menge gewandt.


"Also...?"

"Also..."

Anna holte Luft und beschloss, Verantwortung zu übernehmen.

"Du musst darauf achten, ob eine Wache auftaucht und...irgendwie aufmerksam wird. Offensichtlich. Das wirst du schon merken. Oder ob du jemandem in der Menge siehst, der mehr Ausschau hält, als tanzt. Das ist ebenfalls verdächtig. Verhält sich ja niemand ohne Grund so. Und wenn man sowas sieht, alarmiert man die Anderen."

"Verstehe. Wir stehen also hier und passen auf. Das ist alles?"

"Das ist alles."

"Aha."

Nur ein Wort, ehe sich unangenehm betretenes Schweigen senkte. Einige Minuten lang starrten Beide zu den Feiernden herüber.

"Ich meine... sie hat schon Recht. Enna. Wir müssen vorsorgen."

"Natürlich."

"Im Winter ist es immer schwierig. Die Tavernen sind leerer, die Straßen sowieso, und dafür sitzen sie alle in ihren Häusern, dass man kaum reinkommt. Man kann nicht nur ans Hier und Heute denken."

"Völlig klar."

"Verantwortung ist wichtig."

"Selbstredend."

"Gut."

"Gut."

"..."

"..."

"Verschwinden wir?"

"Bei den Göttern, ja!"


Manche Geschichten beginnen mit zaghaften Blicken über einen weiten Raum hinweg und langen Spaziergängen unter Sternen.


Es war eine blöde Idee gewesen.
Anna drückte sich so weit es ging in die nicht besonders tiefen Untiefen des Schrankes und versuchte, möglichst wenig zu atmen. Das lag einerseits daran, dass die Luft hier drin stickig war, und die alten Mäntel und Kleider und - liebe Güte, war das ein Nachthemd in ihrem Gesicht? - was auch immer sonst hier hing, nach altem Tuch und Motten müffelten. Der andere, gewichtigere Grund, bewegte sich draußen durch den Raum. Der Grund war robust gebaut, schnaufte bei jedem Schritt, und hielt, soweit es die Sicht durch die Türritzen erlaubte, ein großes schwertähnliches Objekt in der Hand. Möglicherweise tatsächlich ein Schwert, möglicherweise bloß einen Schürhaken - so oder so wollte man davon auf gar keinen Fall erwischt werden. Kaldo, der sich neben ihr in der leidenschaftlichen Umklammerung zweier alter Pelzmäntel befand, hielt ebenso die Luft an, als der Mann draußen langsam vorbeiging.
Eine wirklich blöde Idee.
Das hatte sie noch gedacht, als sie das halb offene Fenster aufgedrückt und in das Haus gekrochen waren. In einem menschenleeren Haus wäre niemals ein Fenster geöffnet gewesen, nicht einmal hier in der besseren Gegend Alumenas'. Und natürlich hatte bald irgendwo eine Diele unglücklich geknarzt, und nun lief der Hausherr mit einem schwertähnlichen, auf jeden Fall Schmerzen versprechendem Objekt in der Hand durchs Haus auf der Suche nach möglichen Übeltätern, während sich besagte Übeltäter in seinen alten Nachthemden versteckten. Großartig. Großartig blöde.

Tickende Nervosität rumorte durch ihren Brustkorb, und erinnerte mit einem Male unhilfreich daran, dass all das nicht nur unglaublich blöde, sondern auf eine abstruse Weise auch unglaublich lustig war. Aus dem Ticken wurde bald ein Kitzeln, schließlich ein Zittern, als das Lachen sich mit zunehmendem Nachdruck einen Weg nach Außen suchte. Anna ballte die Hände zu Fäusten und versuchte an irgendetwas möglichst Unwitziges zu denken, die Gedanken kehrten jedoch in stur selbstmörderischer Absicht immer wieder zu dem Faktum zurück, wie idiotisch sie beide gerade aussehen mussten. Und sicher trug auch der Hausherr draußen ein Nachthemd...vielleicht sogar eine Nachthaube, und all das mit einem Schwert bewaffnet...oh ihr Götter... Der innere Kampf wurde jäh durch ihren Schranknachbarn beendet, der irgendetwas davon bemerkt haben musste - zumindest legte sich plötzlich, rasch eine breite Handfläche über ihren Mund, gerade in jenem Moment, als sie glaubte, es nicht mehr zurückhalten zu können. Das drohende Lachen verwandelte sich in ein kaum hörbares, ersticktes Glucksen in die Handfläche des Mannes hinein, gefolgt von leisem, erleichtertem Schnauben. Die Schritte draußen entfernten sich langsam. Vorbei. Vielleicht würde der Kerl sich bald wieder hinlegen und das Geräusch einer Maus zuschreiben. Anna begann sich zu entspannen. In diesem Augenblick zuckte die Hand an ihrem Mund und Kaldo begann selbst zu lachen.

Einen Moment später stürzten zwei aus voller Kehle lachende, gackernde Gestalten aus einem Fenster im - glücklicherweise nicht allzu hoch liegenden - Obergeschoss des Hauses, dicht gefolgt vom brüllenden, einen Schürhaken schwingenden Hausherrn. Sie lachten noch, als sie die Straße hinabrasten, vorbei an sich öffnenden Fenstern und Türen, hinter sich eine aufgewirbelte Welle aus Gezeter und Geschrei herziehend. Sie lachten immer noch, atemlos, japsend, als entfernt der schwere Stiefeltritt mehrerer Wachen aufbrandete, die von dem Lärm angezogen die Verfolgung aufnahmen. Das Lachen ließ sich einfach nicht ablegen, schlidderte mit ihnen über noch regenfeuchtes Pflaster, sprang an ihrer Seite über Zäune und Mauerwerk, raste in ihrem Nacken durch fremde Hinterhöfe und nur knapp an den Zähnen eines Kettenhundes vorbei. Es war, als hätte das Geräusch ein Eigenleben entwickelt, es sich zur Aufgabe gemacht, möglichst die halbe Stadt aufzuwecken, und zu diesem Zwecke die Kontrolle über Verstand und Selbsterhaltungstrieb übernommen.
Und dann verklang es, so schnell und plötzlich, wie es gekommen war - vielleicht dem allmählich fehlenden Atem, vielleicht auch dem langsam, aber sicher heranrollenden Schritten der uniformierten Verfolgung geschuldet. Es verklang und ließ so viel Platz für klare Gedanken, wie nötig war, um abrupt zur Seite zu schwenken, unter einer Plane hindurchzukriechen, und erschöpft in dem schmalen Spalt einer Brandgasse zwischen zwei hoch aufragenden Hauswänden zu verharren. Nur wenige Momente später donnerten in der eben verlassenen Straße die Schritte der Wachleute vorbei und verklangen bald in der Entfernung.

Anna lehnte sich schwer an den kühlen Stein in ihrem Rücken. Stille, durchbrochen allein von pfeiffenden Atemzügen und dem leisen Tröpfeln von Wasser aus überlaufenden Regenrinnen irgendwo weit oben. Aus einem Gitter unweit des Bodens drang Kellerduft hinauf, mischte sich mit dem Geruch feuchten Pflasters und nach langem Winterschlaf erwachender Gärten. Ihre Lungen brannten.
Und dann fing sie Kaldos Blick auf.

An diesen Moment erinnerte sie sich noch Jahre später, so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen. An das gleichzeitige, atemlose Aufgrinsen. An die plötzliche, deutliche Klarheit darüber, was passieren würde. An den veränderten Takt des gehetzten Herzschlages.
An den Geschmack seiner Lippen.
An die Gier.


Manche Geschichten beginnen mit einer blöden Idee und einem hastig hinaufgeschobenem Rock in einer Brandgasse.



Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 20 Sep 2018 14:10, insgesamt einmal bearbeitet
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Anna Theodora Reger





 Beitrag Verfasst am: 27 Sep 2018 14:38    Titel: Von Namen und Nachnamen
Antworten mit Zitat

Zitat:
Herr,

Ich habe Eure Erlaubnis an Herrn Rondrik übermittelt. Jene des Fanras traf ebenso bereits ein, man kann also damit rechnen, dass etwas passieren wird. Rondrik wirkt mir nicht unbedingt wie ein Taugenichts, wenngleich diese eigenartige Geschichte damals zu Misstrauen gemahnt. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm genug zu trinken, dass er seine Zunge lockern möge, aber diese wird sich sicherlich noch bieten.

Derweil habe ich äußerst gute Neuigkeiten betreffs Herrn Kevan. Er hat offenkundig einen ausreichend guten Eindruck während der Offensive hinterlassen, um nun, zusammen mit einem Herrn Schnellwasser, zum Pagen der Ritterschaft berufen worden zu sein. Die Beiden haben kürzlich die vertrauensvolle Aufgabe erhalten, ein Turnier anlässlich der Schwerttage zu organisieren, das, wie ich erwähnen darf, ein voller Erfolg war. Über Herrn Schnellwasser kann ich bislang allerdings nicht viel sagen, außer, dass er ein Mitglied des Regiments ist, Scheu hat, vor einer Menge zu sprechen, und die hiesige Tavernenwirtin duzt. Er erscheint mir trotz des Letzeren eine angemessene Gesellschaft zu sein, die keinen schlechten Einfluss ausüben sollte.

Das mit dem Duzen ist auf Gerimor übrigens weit verbreitet. Man bekommt es recht oft und gerne angeboten, manchmal schon beim ersten Zusammentreffen. Vermutlich lässt sich hier der Abenteuer- und Unternehmungsgeist der Insulaner sehen, die oftmals keinen Grund mehr darin erkennen, steifen Regeln zu folgen, und mit dem direkten Ziellauf in die Vertrautheit des "Du" auch Fremden wie mir freundschaftlichen Anschluss anbieten.
Kurzum: Es ist abscheulich. Was ist aus der guten alten Sitte geworden, sich bei Nähebedürftigkeit eine Katze oder derlei zu besorgen? Was ist mit Klasse und Manieren passiert, Herr? Und sagt nicht, dass ich jenen passiert wäre. Ihr habt mich seit gut zwei Jahren kaum noch ermahnen müssen.

Doch verzeiht, ich schweife ab.

Eine weitere Neuerung gibt es in den Reihen der Fanras. So haben sowohl Herr Linhart, als auch Fräulein Finnaia recht plötzlich ihre Begabung für Magie entdeckt. Ich bin mir nicht sicher, wie so etwas funktioniert, aber laut Herrn Linhart geschah es, dass er sich in einer Wüste verlaufen hatte und sich dort, verdurstend, Wasser herbeizaubern konnte. Wo Herr Linhart hier eine Wüste fand, weiß ich noch nicht, aber wenn sich jemand derart verlaufen kann, um in eine zu stolpern, dann er. Über den Fall von Fräulein Finnaia ist mir bislang nichts Näheres bekannt, soweit lässt sich aber klar sagen, dass sie sich weder ordentliche Kleidung, noch einen Mann herbeizaubern konnte. Bislang habe man allerdings nichts von der Magie der Beiden gesehen, und dahingehend ist all das etwas enttäuschend. Man hätte nun wirklich zumindest bunte Lichter oder etwas in der Art erwarten können.

Von den Übrigen Eurer Kinder derweil kann ich bislang leider nicht viel Neues erzählen. Sie befinden sich alle auf der jeweils gewählten Laufbahn, erfüllen ihre Aufgaben, und tun, was sie sollen. Allerdings gefallen sich Herr Gerold und Fräulein Ivit in den letzten Tagen darin, gewisse Probleme zu verursachen. Sie zeigen sich unzufrieden damit, dass ich ein Zimmer im Hause Herrn Kevans habe. Ich bin noch unschlüssig, was ich ihnen diesbezüglich sagen soll - sie scheinen jedenfalls dem Glauben verfallen, Ihr wüsstet es nicht, und sorgen sich um den Eindruck.

Es war amüsant, ausgerechnet von Fräulein Ivit dahingehend belehrt zu werden, zugegeben. Sie redet doch tatsächlich so, als hätte sie nicht persönlich Schande über die gesamte Familie gebracht. So, als wäre sie in der Tat eine Merat und hätte irgendetwas, auch nur eine Kleinigkeit von dem, was sie ist, in irgendeiner Weise verdient. Als wäre sie mehr, als ein auf der Straße aufgegriffener Niemand mit hübschem Gesicht und hohlem Schädel.
Und Gerold? Was hat er eigentlich vollbracht, außer in einem kindischen Akt der Rebellion hinter Klostermauern zu verschwinden, und seitdem seine Backen bedeutsam aufzublasen? Sie haben ihn dort demletzt zum Akoluthen erhoben, und ich würde mich nicht wundern, wenn sie es nur getan haben, damit er endlich wieder geht, und sei es nur, um seine hübsche neue Robe draußen vorzuführen. Das arrogante Gehabe kann sich doch keiner länger antun.

Aber das liegt ja in Eurer ganzen verfluchten, überflüssigen Familie, nicht wahr? Diese Arroganz, als wärt ihr alle etwas, als hättet ihr alle jemals mehr geschafft, als von dem Vermögen eurer Vorfahren zu leben und nach einem hässlichen Stück Blech zu suchen, das niemanden interess...



Die Federspitze barst mit leisem Knacken, als der Druck der krampfhaft um den Kiel gekrallten Finger zu viel wurde, riss Papier mit sich, die letzten Worte ins Nirgendwo zerrend, und hinterließ einen tintengefüllten, zerfaserten Kratzer im Fensterbrett. Anna hielt inne, mühsam um Atem und Realität ringend. Ihr Blick glitt über die zunehmend fester, unregelmäßiger geführten Worte der letzten Absätze, über den Kratzer im Holz, die weiß angelaufenen Knöchel der eigenen Hand. Sie zuckte zusammen und ließ die Feder fallen.


"Meine Güte."

Die gemurmelten Worte galten derweil lediglich sich selbst - das allein von einem obligatorisch flackernden Kerzenflämmchen spärlich erleuchtete Zimmer war, bis auf die Anwesenheit der Bewohnerin selbst, stumm und leblos. Die Nacht schlich durch Adoran, klopfte an ihre Schläfen, und goss dumpfe, schläfrige Stille in die Gassen und Häuser der Stadt, die nunmehr allein den Schlaflosen, Getriebenen, und einer irgendwo im Bereich des Marktes verirrten (und darob äußerst unglücklichen) Kuh gehörte.
Als Angehörige der beiden erstgenannten Gruppen war Anna es durchaus gewohnt, ihren Briefverkehr zumeist gen Mitternacht zu erledigen, dann, wenn die Gedanken ruhiger wurden und nichts mehr da war, um von dem langsamen Fluss der Worte auf Papier abzulenken. Ein manches Mal gestaltete sich die Tätigkeit beruhigend, beinah entspannend, geeignet, den Ballast des Tages nach und nach gleich einer dreckigen Rüstung abzulegen und in formschön verschnörkelte Schrift zu bannen. Und manchmal... nun, manchmal geriet es ein wenig zu entspannend.

Sie starrte noch einige Minuten lang auf den eigenen unvollendeten Erguss, wortlos mit den Zähnen mahlend.
So etwas. So etwas war der Grund dafür, dass sie bei aller Zuneigung dem geschriebenen Worte gegenüber kein Tagebuch führte. Man wusste nie, was am Ende darin landen würde, und ein Tagebuch konnte man schließlich nicht einfach neu schreiben, wenn man zufällig ein wenig zu ehrlich geriet - zumal Ehrlichkeit, soweit man hörte, der Sinn eines Tagebuchs sein sollte. Und sicher, man konnte das vermaledeite Ding hinterher unter einer Matraze, einer losen Bodendiele, in einer verfluchten Gruft im Wald, oder in einem ähnlich kreativen Versteck lagern, doch früher oder später... Früher oder später würde irgendein übereifriger Idiot darüber stolpern, und, genügend Geduld und ungesunde Neugier vorausgesetzt, irgendwo zwischen ermüdenden Abhandlungen über den Tagesablauf des Autors und weinerlichen Fantasien von der eigenen Bedeutsamkeit auf so etwas stoßen.
So etwas. So etwas, wie die Zeilen vor ihr. Und dann würde irgendwo die Hölle losbrechen.

Anna schüttelte sich, griff nach dem Brief und hielt jenen in die Kerzenflamme, wartete ab, bis das Feuer sich raschelnd von der angezündeten Ecke aus vorarbeitete, bald das gesamte Schreiben umgreifend. Das letzte Stückchen warf sie aus dem Fenster, bevor die Hitze die eigenen Finger hätte erreichen können, und sah zu, wie das Flämmchen in die Dunkelheit hinabsegelte, in einzelne Funken zerbrach, bis schließlich allein ein Häuflein warmer Asche am Boden auftraf. Dann erhob sie sich, ging auf leisen Sohlen auf den kleinen Flur hinaus und, nach kurzem Horchen an der Türe, in das benachbarte Zimmer.

Hier fehlte es an Kerzenlicht. Jenes war allerdings auch nicht notwendig, trennten die Tür doch nur wenige Schritte von dem dunkel aufragenden Schatten des Schreibtisches. Sie eilte vor, stieß sich, die Abstände im Dunkeln dennoch falsch einschätzend, prompt den großen Zeh an, und hüpfte einige Augenblicke lang lautlos fluchend auf einem Bein, ehe die Fingerspitzen endlich suchend über die auf dem Tisch ausliegenden Gegenstände glitten.
Vom gegenüberliegenden Bett her hörte man gleichmäßige, wenngleich etwas zu schnelle Atmung: Die üblichen Geräusche eines tiefen Fieberschlafes. Anna warf dennoch einen prüfenden Blick in die Richtung der Bettstatt, konnte aber dank Dunkelheit und Entfernung nichts weiter erkennen. Das Zimmer war in der Tat groß, deutlich größer als das der Blonden, und würde nicht tiefste Nacht herrschen, hätte man auch sehen können, dass die Qualität der Möbel hier das der ihr Eigenen bei Weitem überstieg.
Es war das Zimmer eines Merats. Eines Merats, der etwas Besseres, aus irgendeinem vermaledeiten Geburtsrecht heraus etwas unvergleichlich Höheres sein sollte, als sie selbst, eines Merats, der von Leben und Familie Chance um Chance geschenkt bekam, bloß weil er ein Merat war. Bloß deswegen. Die tastenden Finger stockten zitternd über der Klinge des Brieföffners, als sie in die Dunkelheit gen Bett starrte.
Bloß deswegen.

Die Nacht schlich durch Adoran und klopfte an ihre Schläfen. Anna atmete durch und griff die nebenliegende Schreibfeder.


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Werlental, Gasthaus "Zur Königin", Bruchstein. Vor knapp 2 Jahren.


"Du brauchst einen neuen Nachnamen. Nur Bettler und Huren haben keine Nachnamen."
"Das stimmt so nicht. Luisa aus der Toten Gasse hatte einen Nachnamen, auch wenn sie ihn nicht gerne nannte, weil ihre Schwester die Köchin im Armenspital war, und..."
"Anna. Kopfschmerzen."
"Verzeihung."
"Du brauchst einen Nachnamen. Und einen Mittelnamen, wenn wir schon dabei sind."
"Warum?"
"Es klingt eindrucksvoller. Wichtiger. Ein langer, ehrwürdig klingender Mittelname kann den Unterschied zwischen einer offenen und geschlossenen Tür ausmachen."
"Das kann ein Rammbock auch, Herr."
"Anna!"
"Was denn!"
"..."
"...Verzeihung."
"Du könntest wenigstens versuchen, schuldbewusst auszusehen, wenn du 'verzeihung' sagst."
"Würdet Ihr mir das abkaufen?"
"Lass die Gossensprache draußen. Und nein. Aber ich schätze es, wenn man sich bemüht. Wie dem auch sei... vielleicht nimmst du vorsichtshalber auch einen neuen Vornamen."
"Nein."
"Nein? Was soll dieses vulgäre Wort, 'nein'? Begründe."
"Weil es mein Name ist. Weil ich ihn mir verdient habe." Weil ich noch immer weiß, wie es sich anhörte, wenn er ihn aussprach.
"Mh."
"Bitte..."
"Wie war das?"
"Bitte."
"Ah. Jetzt bemühst du dich."


Zuletzt bearbeitet von Anna Theodora Reger am 27 Sep 2018 19:02, insgesamt einmal bearbeitet
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