Zwei Seiten einer Medaille

[Tirza]

Ein Weg, der genauso gut ins Nirgendwo hätte führen können.
Der Himmel machte sich als regenwolkenverhangenes Ungetüm aus; ansonsten neben ihr Bäume, hinter ihr Bäume, vor ihr Bäume. Die Blätterdächer waren ein Meer aus Grünschattierungen und sie kam sich vor wie ein darin schwimmender Fisch. Drückend schwül lastete die Luft auf ihren Schultern und aus jeder Pore schien Schweiß zu dringen. Selbst die Insekten flogen träge tiefer. Bald würde es wieder regnen und der Regen würde etwas Abkühlung bringen. Sie hätte alles für ein Pferd gegeben. Oder ein Maultier. Sie war es gewohnt, lange Strecken zu Fuß zu bewältigen, aber diese Strecken hatten immer ein Ziel. Am Ende einer Wegstrecke wurde ein Lager aufgeschlagen und sie hatte sich am Feuer ausruhen können. Nun wanderte sie, tagein, tagaus und mit jedem Schritt wuchs ihr eine neue Blase an der Ferse.
Am Anfang hatte sie sich selber zur Eile gezwungen. Zu groß war die Gefahr, das ihre Sippe auf der Suche nach ihr war. Keine langen Pausen, nur wenn es wirklich notwendig gewesen war. Sie hatte nicht so große Angst vor einer möglichen Strafe, sondern eher davor, das die gramverzerrten Gesichter ihrer Eltern, ihrer Onkel und Tanten, das „Kind, warum bist du nur davon gelaufen?“ und dieses „Wie kannst du uns das antun, gerade nach deinem Bruder ...?“ sie zum Bleiben zwingen würden. Schließlich war sie kein herzloser Mensch. Gerade weil sie dieses Leid, diese stille Trauer nicht mehr ertragen hatte, war sie fortgegangen. Sie hatte ein paar Münzen unauffällig zur Seite geschafft und war dann, gerade als ihr Vater seinen gefährlich Messertrick vor einer gaffenden Menge vorführte, verschwunden. Die Goldmünzen hütete sie wie einen Schatz und gab davon so viel wie nötig und so wenig wie möglich aus. Handlesen für einen Becher Wein; ein Lied für eine warme Mahlzeit. Meist hatte sie damit Erfolg. Die Tavernenwirte ließen sich gerne dazu überreden, ihr zu gestatten, einige ihrer kleinen Kunststückchen aufzuführen. Wenn alles nichts half, stahl sie. Im Schutze der Dämmerung kamen so einige Hühnereier abhanden. Als sie meinte, das sie die Wagenkolonne ihrer Sippe weit genug hinter sich gelassen hatte, gestattete sie sich längere Pause. Sie schlief unter freiem Himmel oder in Scheunen. Ob den Bauern das nun passte oder nicht war ihr dabei ziemlich gleichgültig. Oft war sie schon lange vor Tagesanbruch verschwunden.
Irgendwas knurrte ganz in ihrer Nähe und ließ sie zusammenfahren. Panisch blickte sie sich um und erwartete jederzeit einen wilden Eber durch das Gebüsch preschen. Genauso war auch ihr Bruder Tihan ums Leben gekommen. Die Gedanken an seinen gewaltsamen Tod ließen sie trotz der Schwüle erschaudern und ihre eben noch akute Angst vergessen. Nach seinem Tod war alles anders gewesen. Die Lieder leiser, die Gespräche rund ums Feuer gedämpfter. Sie wollte lachen und tanzen. Sie wusste, das auch ihr Bruder das so gewollt hätte. Es war, als ob sich ein unsichtbares Leichentuch über das Lager gelegt hatte. Lebendig vergraben. Das war nichts für sie.
Wieder dieses Knurren. Erst jetzt merkte sie, das es ihr eigener Magen war, hungrig wie ein Wolf. Die Blase an ihrem rechten großen Zeh hatte mindestens zwei Kinder bekommen. Sie pirschte in den Wald und entschied sich für eine gemütliche Stelle an einem vermutlich von einem Blitz gefällten Baumstamm. Dort würde sie Rast machen. Und auf die ersehnte Abkühlung hoffen ...