Traum und Wirklichkeit

[Jilawen Bremmard]

Nichts ist jemals vollkommen - auch die Dunkelheit in dem kleinen Herbergszimmer war es nicht, doch immerhin tief und gegenwärtig genug, als dass sie keine Erleichterung für Jilawen versprach. Das junge Mädchen erwachte just aus einem Traum, der sie noch jetzt, zurück in der Wirklichkeit, keuchen ließ wie ein gehetztes Tier. Erst langsam lichtete sich der Nebel des Schlafes und sie realisierte wo sie sich befand. Auch dann hielt die Nacht nichts verheissungsvolles für sie bereit, denn hier gab es nicths bekanntes, nichts lange gewohntes an das sie sich halten konnte. Das ihr Trost spenden würde.

Die dünne Decke um die Schultern ziehend ging das Mädchen zum Fenster, öffnete es und ließ den Mondenschein herein - sie stand lange so, fast reglos, als wäre sie unter dem blick des silbernen Himmelsauges zu Stein geworden. In gewisser Weise verließ sie die Wirklichkeit auch, kehrte auf die einzige Weise in die Vergangenheit zurück, die ihr möglich war. Dort, in dem Land hinter ihrer Stirn wurde es Tag - begann das Jahr eben, voller Grün, voller Blüten, voll klarer Bäche und lautem Lachen. Dort rannte sie mit einem dunkelblonden Mädchen um die Wette, übte mit ihr kaum enden wollende Stunden lang Schriftzeichen, die beiden wie fremde Glyphen unbekannter Völker scheinen wollten. Sang mit ihr die Vögel zu begrüssen und ging mit ihr in die Kirche, fein zurecht gemacht, um wichtig scheinende Dinge zu bitten.

Lange war es her, seit sie das getan hatte - das einzige, um das sie bitten wollte, würde ihr nicht erfüllt werden. Jenes Mädchen, das Jilawen jetzt sah, lebte nur noch in ihrem Kopf, in ihrer Erinnerung - einer Zeit in der sie nicht wirklich zurückkehren konnte. Es war zu spät für ein liebes Wort, eine Entschuldigung. Für einen unbedachten Streit, einen Wettlauf zum Fluss, ein unerwartetes Geschenk. Zu spät. Jetzt und für immer.

Und so konnte sie auch nicht mehr bleiben. Das Haus in dem sie so lange gelebt hatte, war nicht mehr ihr Heim. Die Menschen die sie Eltern genannt hatte, die es in jenen vielen Jahren auch wurden, obwohl sie die zwei kleinen Mädchen nur aufgenommen hatten, waren Fremde. Jetzt war sie allein. Und ihre Bilder hatten ihre Farben verloren.

Unwillkürlich wandte sich Jilawen bei diesem Gedanken vom Fenster um, zur Wand neben dem Bett - traumwandlerische Schritte führten sie dorthin, ließen sie mit einem Ruck das Handtuch fortziehen. Sie lachte rauh - als hätte sie etwas anderes zu sehen erwartet. Aber es stand noch da, zeigte noch immer, was es zuvor auch gezeigt hatte. Die Wirklichkeit, eingefangen und festgehalten. Auch das für immer, oder so lange, wie sie es ertragen konnte, diese Wirklichkeit anzusehen.

Oft hatte die Braunhaarige erwogen, das Bild zu zerstören, das jetzt in silbriges Mondlicht und dunkelblaue Nacht getaucht dalehnte. Nie hatte sie es über sich gebracht, auch wenn sie das Rot darauf nicht ertragen konnte, fürchtete sie, sich irgendwann nicht mehr an das Gesicht inmitten des Rotes erinnern zu können.

Tatsächlich sah es friedlich aus. Vielleicht war jeder Friede, den ihre Familie je zugesprochen bekommen hatte in diesem Augenblick verbraucht worden, dachte Jilawen plötzlich. Dann riss sie sich los, rollte sich auf ihrem Bett zusammen, auch wenn sie wusste, dass der Schlaf nicht mehr kommen würde, bis die Sonne die Nacht vertrieb.

Nicht wenig später musste sie noch einmal aufstehen und das Bild wieder verhängen. Ohne Zweifel war es ihr bestes Bild und noch jetzt, durch den Stoff hindurch, schienen die Augen des Mädchens darauf sie anzusehen.