FAQ Login
Suchen Profil
Mitgliederliste Benutzergruppen
Einloggen, um private Nachrichten zu lesen
        Login
Gefangene Freiheit
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Alathair - Online Rollenspielshard Foren-Übersicht » Chargeschichten » Gefangene Freiheit
Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  
Autor Nachricht
Shanna Llastobhar





 Beitrag Verfasst am: 19 Feb 2007 23:56    Titel: Gefangene Freiheit
Antworten mit Zitat

Von Krämpfen geschüttelt lag die junge Frau auf dem Himmelbett. Ihre Stirn war überzogen von kleinen glänzenden Schweißperlen, ihre Lippen so weiß wie ihr Haar und ihre Augen von dunkelroten Rändern umzogen. Mit sorgenvollem Blick sah Arienh Llastobhar hinab auf ihre Tochter – Shanna Llastobhar. Schon seit mehreren Wochen lag jene nun schon in jenem Zustand, die Heiler waren ratlos. Mit zahllosen Verletzungen hatte sich die junge Frau zu dem Wohnsitz ihrer Mutter geschleppt und war auf der Türschwelle zusammengebrochen. Am darauffolgenden Tag konnte sie im Zustand des Wachseins mit Arienh sprechen. „Erkennst du mich nicht mehr, Mutter?“, hatte sie gefragt. Erschrocken war Arienh zurückgewichen, glaubte sie ihre beiden Töchter doch glücklich auf Gerimor. „Aber... aber du kannst nicht...“, flüsterte Arienh stockend. Ein schmerzlicher Ausdruck erschien in den strahlend blauen und von Krankheit glänzenden Augen der jungen Frau. Mit gebrochener Stimme fuhr sie fort: „Ich bin Shanna. Vor sieben Jahren verließ ich euch, um den Mörder meines geliebten Vaters, deines Mannes Bennar, zu finden. Mögest du mir meinen raschen Aufbruch verzeihen!“ Von Zweifeln geplagt hatte Arienh lange Zeit mit der jungen Frau gesprochen. Sie wusste Dinge, welche nur ihre wahre Tochter wissen konnte und so gab es nur eine logische Erklärung für ihre Anwesenheit: Dies war Shanna, ihre und Bennars Tochter... In der darauffolgenden Nacht war Shanna wieder in ihren Zustand der Krankheit verfallen. Die Heiler versorgten ihre Wunden, welche langsam heilten, doch es schien ein Schatten auf ihr zu liegen, von dem sie die Ärzte nicht heilen konnten. Seitdem verweilte Arienh tagtäglich an dem Krankenbett ihrer Tochter und hielt ihre Hand.

Shanna Llastobhar war am 7. Rabenmond des Jahres 229 als Kind von Arienh aus dem Hause Llastobhar und Bennar geboren worden. Ebenso wie ihre Mutter und ihre ältere Schwester war sie von dem Fluch ihres Urgroßvaters Caradawc getroffen und hatte sehr blasse Haut und schneeweiße Haare. Wie ihre große Schwester Sorcha hatte Shanna große himmelsblaue Augen und jene blickten neugierig und aufgeweckt in die Welt hinein. Schon in ihrer frühesten Kindheit vergötterte das kleine Mädchen ihren Vater Bennar, einem Jagdmeister, welcher sich nur allzu häufig in die nahegelegenen Wälder zurückzog. Immer öfter folgte das Kind seinem Vater in die Wälder und jener lehrte sie mit Freuden den rechten Umgang mit der Natur und dem Bogen. Bereits im Alter von zehn Jahren war Shanna eine hervorragende Schütze. Mehr als Sorcha zeigte Shanna Interesse an allen lebenden Dingen – Tieren wie Pflanzen. Dennoch waren es vor allem ihre Künste mit dem Bogen, welche Bennar mit Stolz erfüllten, so wie Sorchas angehendes Interesse für den Schwertkampf. Doch diese glückliche Zeit währte nicht lange...

Zu jener Zeit war Shanna gerade 13 Jahre alt geworden, Sorcha hatte ihr 18. Lebensjahr fast vollendet, als der Kummer über die Familie hereinbrach. Niemals würde Shanna wieder vergessen wie ein einzelner Tag ihr ganzes Leben auf solch grausame Weise gewandelt hatte. Einige Holzarbeiter trugen seinen leblosen Körper aus den Wäldern. Bereits bevor Shanna sein Gesicht sehen konnte, spürte sie den furchtbaren Schrecken, welcher langsam von ihren Füßen über ihre Beine hinauf wanderte, wie ein eisiger Schauer, der unter ihrer Haut seinen Weg fand, vorbei an Fleisch und Venen und schließlich ihr Herz und ihren Geist ergriff. Wie einer Marmorstatue stand das junge Mädchen auf dem Hofplatz, während die Leiche ihres geliebten Vaters an ihr vorbei zum Haus der Mutter getragen wurde. Durch dichten Nebel hörte sie die Schmerzensschreie ihrer Mutter, das herzzerreißende Schluchzen ihrer Schwester. Lange verweilte sie, unfähig sich zu bewegen, nur an dem Blinzeln ihrer Augen und einer einsamen Träne, welche ihr über die schneeweiße Wange rann, konnte man erkennen, dass sie noch lebte. Stunden vergingen. Sorcha trat zu ihr und sprach zu ihr, doch keines ihrer Worte fand den Weg in Shannas Geist. Erst spät in der Nacht kehrten ihre Gedanken in ihren Körper zurück und sie ließ sich übermannt von Schwäche und Schmerz zu Boden fallen. Ihre lauten Schreie hallten über den Hof, die nahen Häuser und drangen bis tief in den Wald. Sorcha eilte herbei und brachte das Mädchen ins Haus. Nachdem der Bann von Shanna gefallen war, konnte sie nicht mehr aufhören zu weinen. Irgendwann als der Morgen graute, fiel sie in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf. Den ganzen nächsten Tag verbrachte sie in einem Zustand des Schweigens, sie bewegte sich nicht und obwohl sie aussah als wäre sie in Gedanken weit fort, vernahm sie doch jedes Wort. Viele der Dorfbewohner kamen und gaben ihrem Bedauern Ausdruck. Ein Holzarbeiter erklärte Sorcha, welche als einzige der Familie stark genug erschien jene Worte in Empfang zu nehmen, dass Bennar durch eine Schar von Räubern hinterrücks überfallen worden war und so den Tod gefunden hatte. Shanna sah wie ihre Mutter Arienh in der Ecke des Raumes still den Kopf schüttelte und erste Zweifel keimten in dem jungen Herzen.

Einige Tage vergingen. Die schwangere Arienh schien der Schmerz über den Verlust ihres geliebten Mannes so sehr zu quälen, dass sie kaum noch etwas aß und nie schlief. Sie grämte sich, denn ohne es ihren beiden Töchtern mitzuteilen, ahnte sie, dass nicht die Räuber Bennar von seiner Familie fortgerissen hatten. Shanna sprach in der Zeit nicht ein Wort. Sie entfernte den Dolch aus dem Rücken ihres Vaters und bewahrte ihn. Sie wusch seinen Leichnam und bahrte seinen Körper auf. Jede Nacht verbrachte sie damit hasserfüllt den Dolch zu betrachten, welcher ihrem Vater den Todesstoß versetzt hatte. Arienh erlitt eine Frühgeburt, der Knabe kam schwächlich und blind zur Welt, doch er lebte. Niall. Von der Geburt des Knaben bis zum Äußersten geschwächt, verfiel Arienh in einen tiefen und langandauernden Schlaf.
Shanna erhob sich, als sie die ruhigen Atemgeräusche Sorchas vernahm und packte rasch einiges zusammen, was sie zum Überleben in der Wildnis benötigte. Kurz beugte sie sich über den Körper ihrer Schwester und blickte jene Schlafende traurig und schmerzerfüllt an. „Pass auf Mutter und Niall auf! Sie brauchen dich jetzt. Du bist die Starke von uns beiden...“, flüsterte Shanna in die nächtliche Dunkelheit, ehe sie Sorcha einen Kuss auf die Stirn hauchte und die Kammer verließ. Sie eilte lautlos in die Kammer ihrer Mutter, wo auch der kleine Niall schlief. „Mögest du mir jemals verzeihen, Mutter. Ich muss gehen!“, flüsterte sie, auch Arienh einen Kuss auf die Stirn hauchend. Schließlich trat sie an die Wiege des Säuglings und stellte erschreckt fest, dass der Junge seine Augen geöffnet hatte. Sie kniete sich neben seine Wiege. „Oh, kleiner Bruder.“, flüsterte sie mit tränenschwerer Stimme, „Zu viel Leid ist schon auf dein junges Leben geladen. Ich hoffe, ich kehre bald zurück und kann mit dir spielen und dir Geschichten vorlesen, damit du ein glücklicher kleiner Junge wirst. Und sollte ich niemals zurückkehren, wünsche ich dir ein Leben voller Liebe und Farben... Deiner Farben versteht sich. Ich liebe dich, Niall, kleiner Engel.“ Vorsichtig legte sie ihren Finger in seine Hand, welchen er auch sogleich ergriff. Von Gefühlen überwältigt, weinte sie leise und hätte beinahe nicht den Willen aufgebracht von ihm zu gehen. Erst als der Knabe eingeschlafen war, löste sie ihren Finger von seiner Hand und erhob sich wieder. „Vergib mir!“, raunte sie und rannte aus dem Zimmer. Im Wohnraum des Erdgeschosses hielt sie an und wand sich dem aufgebahrten Leichnam Bennars zu, der morgen beerdigt werden sollte. Leise trat sie neben seinen Körper als wolle sie ihn nicht aufwecken. Während sie ihn betrachtete, um sich seine Züge auf ewig einzuprägen, dachte sie Seiner – an seine Miene und Stimme und Lächeln und Gewohnheiten und Tun und Lassen –; er selbst war in jenes andere Land hinübergegangen, es war so schmerzlich, an seine Gestalt zu denken; es war wie die Erinnerung an das eigene Heim, wenn man wusste, dass es jetzt öde stand und dass die verfaulenden Balken zusammenstürzten. Und sie vermochte nicht, ihre Seele so weit zu erheben, dass sie einen Schimmer jenes Landes erblickte, wo die Toten waren, wo alle Liebe, Güte und Treue schließlich hinfloss und währte. Schließlich zog sie den Dolch aus ihrer Tasche, durch den ihr Vater den Tod gefunden hatte und schnitt sich tief in das Fleisch ihrer Hand, sodass das Blut hervorquoll. Während ihr Blut auf seine Kleidung tropfte, zischte sie leise: „Ich werde deinen Mörder finden! Niemals soll mein Geist Ruhe finden, bevor ich die Ungerechtigkeit an dir, an Arienh, an Sorcha, an dem kleinen Niall und mir nicht gerächt ist!“, sanfter und schluchzend fügte sie dann hinzu: „Möge dein Geist Ruhe finden, so wie meine Ruhe mit deinem Geist gegangen ist. Ich liebe dich!“ Die letzten Worte wurden fast von ihren Tränen erstickt, doch Shanna war sich sicher, dass ihr Vater sie gehört hatte. Vorsichtig zog sie ihm seinen Armreif über die Hand und packte ihn in ihre Tasche, bevor sie mit zerrissenem Herzen und wundem Geist die Haustür hinter sich zuzog und in Richtung Wald verschwand.

Viele Tage wanderte Shanna durch die Wälder bis sie die Spur ihres Vaters fand und jener folgte. Seine Spur endete an einem riesigen, alten Baum. Über seinen Stamm waren getrocknete Blutspritzer versprenkelt, auch seine aus dem Boden ragenden Wurzeln waren von dem rötlich-braunen Blut benetzt. Traurig blickte Shanna den Stamm empor, wahrscheinlich war es das Bild, welches ihr Vater zuletzt gesehen hatte, ehe er hinübergegangen war. „Könntest du mir nur sagen, was du gesehen hast...“, meinte sie leise zu dem Baum. Dann begann sie die Spuren an seinen Füßen sorgsam zu betrachten. Hier war ihr Vater gestorben... Seine letzten Schritte waren rascher gewesen, bestimmt hatte er die Gefahr vernommen. Shanna schritt um den Baum herum. Aus der anderen Seite des Stammes ragte ein Pfeil. Vorsichtig entfernte sie jenen und bemerkte die grünliche Flüssigkeit, welche an seiner Spitze klebte – Gift. Welcher arme Räuber hatte Zugang zu Giften? Sicherlich würden Räuber Gifte verwenden, hätten sie eine Quelle dazu, aber üblicherweise begnügten sie sich damit ihre Opfer niederzuschlagen und auszurauben. Ihrem Vater war nur sein Goldbeutel entwendet worden, kein Schmuck, keine Kleidung. Der Zweifel an Bennars Tod durch Räuber wuchs mehr und mehr in Shannas Herzen. Durch einen geübten Blick konnte sie den ehemaligen Standort des Schützen ausmachen und untersuchte jenen nach Spuren. Es waren nur einige Tropfen des Giftes und ein paar Fasern der Pfeilfedern am Boden zu erkennen. Seufzend ging sie zurück zum Baum. Bis zum Einbruch der Dunkelheit suchte sie nach Spuren, Fußabdrücken und Zeichen bis ihre Augen in der nahenden Dämmerung kaum noch etwas erkennen konnten. Schließlich ließ sie sich erschöpft gegen den Baum sinken. Viele der Spuren deuteten in dieselbe Richtung: Es musste sich um eine Gruppe von fünf bis sieben Mann gehandelt haben, welche Bennar hier eine Falle gestellt hatten. Das bedeutete, dass sie seine Routen durch den Wald gekannt hatten und ihn schon einige Zeit, vielleicht schon Monde zuvor, verfolgt und ausgekundschaftet hatten. Dies war nicht die Vorgehensweise einer Räuberbande. Hierbei handelte es sich um einen geplanten Mord an ihrem Vater, der nur den Anschein eines Überfalls erwecken sollte. Abermals erschreckt über jene Erkenntnis zog Shanna die Luft ein. Doch wer sollte ein Interesse an dem Tod eines einfachen Jagdmeisters haben? So sehr sie sich auch den Kopf darüber zerbrach, wollte ihr keine rechte Erklärung einfallen. Schließlich schlief sie an den Baum gelehnt ein.

Am nächsten Morgen machte sie sich auf die Spuren der „Räuber“ zu verfolgen. Teilweise war es schwierig, scheinbar hatten sie sich große Mühen gemacht ihre Spuren zu verwischen. Dennoch gab Shanna nicht auf. Mehrere Monde folgte sie ihren Schritten, schien immer etwas mehr als eine Woche hinter ihnen zu liegen. Sie durchstöberte ihre Lagerplätze und bewahrte kleine Gegenstände, welche jene verloren hatten. Zunächst schienen sie kein bestimmtes Ziel zu haben, gingen teilweise gar im Kreis, doch eines Tages wandte sich ihr Weg in Richtung einer kleinen Ansiedlung. Tief zog sich Shanna ihre Kapuze ins Gesicht, bevor sie jene betrat. Keine Spur der „Räuber“ führte mehr aus der Siedlung heraus, also mussten sie sich noch dort befinden. Die Siedlung wirkte recht ärmlich, doch aus diesem Bild heraus stach ein riesiges weiß getünchtes Herrenhaus, welches am Rande jener Siedlung stand. Zwei Wachposten standen vor dem Tor und Shanna sah in dem Garten ein etwa zehnjähriges Mädchen mit einem Ball spielen. Was ihr jedoch jegliche Luft aus den Lungen presste war die Tatsache, dass das Mädchen ebenso wie sie selbst, wie ihre Schwester und Mutter schneeweißes Haar hatte. Bewegungsunfähig starrte sie auf das Kind... sie war eine Llastobhar. Natürlich hatte ihre Mutter von den anderen Zweigen der Familie erzählt, doch sprach sie teilweise nur sehr ungern über jene und das, wie Shanna ahnte, mit gutem Grund. Noch etwas tiefer zog sie sich ihre Kapuze ins Gesicht, ehe sie auf die Wachposten zutrat und fragte: „Verzeiht, wer wohnt in diesem Haus?“. Der Wachmann musterte sie argwöhnisch und antwortete schließlich mit stolzer Stimme: „In diesem Herrenhaus residiert Herr Tuirean Llastobhar und seine Familie.“ Tuirean... Das war der Bruder ihrer Mutter Arienh, Shannas Onkel also. Kurz nickte sie dem Wachmann zu, ehe sie sich wieder in Richtung des Waldes begab. Die Blutspur ihres toten Vaters führte also in das Haus von Tuirean Llastobhar, dem Bruder ihrer Mutter. Arienh hatte nicht viele Worte über ihn verloren, aber Shanna hatte aus dem Wenigen herauslesen können, dass Tuirean und seine Frau Ginessa Dza Feharam kühle und berechnende Wesen waren, welche dem Wunsch von Caradawc die Familie Llastobhar zu einer mächtigen Magierfamilie zu machen noch nicht aus den Augen verloren hatten. Tuirean und seine Frau hatten zusammen vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen. Shanna wusste nicht, welches übergeordnete Ziel Tuirean verfolgte, dennoch war sie sich sicher in ihm den Mörder ihres Vaters gefunden zu haben. Bei diesem Gedanken erstarkte abermals der Hass in Shanna. Welch abartiges Unterfangen den Mann seiner Schwester zu ermorden?! Was für ein kranker Geist stand wohl hinter dieser Tat?
Mehrere Monde verbrachte Shanna damit das Haus ihres Onkels zu beobachten. Dabei achtete sie besonders auf die Mitglieder der Familie. Auch die drei Jungen hatten weiße Haare, ebenso wie ihr Vater. Man konnte kaum bestreiten, dass Tuirean und seine Söhne von großer Schönheit waren, doch das kleine Mädchen schien sich nicht so recht in das Gefüge der Familie einzufinden. Gerne wäre Shanna zu ihr gegangen, um mit ihr zu spielen und zu reden, doch vermochte sie es nicht. Oft dachte sie auch an Sorcha, ihre Mutter und den kleinen Niall, er musste nun schon fast ein Jahr alt sein... Sie musste sich an diesem Mann rächen, der ihrer Familie dieses Leid bereitet hatte!

Eines Morgens sah Shanna eine Gruppe von fünf Männern das Anwesen Tuireans und seiner Familie verlassen. Sie trugen Rüstungen aus Leder und schienen schnell vorankommen zu wollen. Rasch verbarg sich Shanna in einem Gebüsch und ließ die Männer vorüberziehen. Dann betrachtete sie ihre Spuren. Es waren ohne Zweifel die Fußabdrücke derer, denen sie mondelang quer durch die Wälder gefolgt war. Die Männer, welche ihren Vater getötet hatten. Rasch ergriff Shanna ihre wenigen Habseligkeiten und folgte ihnen lautlos durch die Wälder. Als sie sich an diesem Abend ein Lager bereiteten wurden sie beobachtet. Nachdem sie sich zur Ruhe begeben hatten, nahm Shanna leise ihren Bogen von ihrem Rücken. „Nicht einmal eine Wache stellt ihr auf... Ihr macht es mir zu leicht!“, zischte sie. Rasch legte sie einen Pfeil auf den Bogen und spannte ihn unter leisem Knirschen des Holzes. Sirrend entfloh der Pfeil dem Bogen und durchdrang den Hals eines Schlafenden, der nur noch ein Gurgeln von sich gab, ehe er erschlaffte. Ein zufriedenes Lächeln lag auf Shannas Zügen, als sie einen zweiten und dritten Pfeil abschoss. Auch jene fanden nahezu geräuschlos ihr Ziel. Gerade als sie einen vierten Pfeil auf den Bogen auflegen wollte, erhob sich einer der Männer und blickte erschreckt auf seine toten Begleiter. „Verdammt! Wir werden angegriff...“, rief er laut, weiter kam er nicht, da ein Pfeil tief in seine Brust eindrang. Von dem Ruf seines Kameraden geweckt, sprang der letzte Überlebende auf und rollte sich rasch in das nahe Gebüsch. Shanna hörte wie er dahinter aufsprang und losrannte. Ein bösartiges Lächeln schlich sich auf Shannas Gesicht. Er versucht sich also vor mir im Wald zu verstecken... Dann rief sie ihm laut hinterher: „Lauf, Häschen! Dein Tod ist hinter dir her!“. Es war nicht schwierig ihm durch die Büsche und Baumstämme hindurch zu folgen, laut brach er durchs Unterholz und schreckte kleine Tiere auf. Plötzlich war es still. Sofort hielt Shanna an und lauschte. Sie konnte seinen harten Atem hören und ihr Blick folgte jenem Geräusch. Der Mann stand dicht an einen Baum gedrückt und blickte sich angstvoll um. Als er das Sirren des Pfeils hörte, war es schon zu spät. Er durchdrang seinen Oberschenkel und bohrte sich tief in den Baum hinter ihm. Ein weiterer Pfeil flog auf ihn zu und zwang seinen Unterarm in ähnlicher Weise an den Baum. Von Schmerz und Schreck übermannt, schrie der Mann laut auf. Langsam trat Shanna aus dem Schatten auf ihn zu. „Nun, Häschen, scheinbar warst du nicht schnell genug...“, sprach sie mit grausiger Zufriedenheit in der Stimme. Sie sah wie sich seine Augen weiteten, als er sie betrachtete. Shanna nahm sich Zeit einen weiteren Pfeil auf den Bogen aufzulegen und jenen zu spannen. Abermals gellten die Schreie des Mannes durch den Wald, als der Pfeil seinen anderen Oberschenkel durchdrang. „Ich bin bereit dir einen raschen und schmerzlosen Tod zu geben, wenn du mir einige Fragen beantwortest.“, sagte sie leise, nachdem seine Schreie nur noch als Echos durch den Wald eilten. Als der Mann keine Antwort gab, fuhr sie fort: „Mein Äußeres ist dir nicht fremd, nicht wahr? Du kennst die Familie Llastobhar...“. „Ja.“, keuchte er. „Verzeih meine Unfreundlichkeit. Mein Name ist Shanna Llastobhar, Tochter von Arienh Llastobhar und Bennar.“, erklärte sie in sanfter Stimme. Allein an seiner Reaktion konnte sie erkennen, dass diese Namen ihm nicht unbekannt waren. Blut lief aus seinen Wunden und tropfte auf die Wurzeln des Baumes. „Vor einem Jahr habt ihr meinen Vater ermordet...“, sagte sie ruhig und ließ sich im Schneidersitz vor ihm auf den Boden sinken, „Versuche nicht es zu leugnen!“, fuhr sie dann etwas schneidender fort, als er den Mund öffnete, „Ich bin euch gefolgt. Ich weiß, was ihr getan habt, wann und wo, ich weiß, wo ihr gerastet habt, gegessen, mit wem ihr geredet habt und...“, sie machte eine kurze theatralische Pause, „... wo ihr hingingt!“. Schließlich erhob sie sich wieder und näherte ihr Gesicht ganz dicht an das seine. „Dein Tod wurde vor einem Jahr besiegelt, als ihr Bennar ermordet habt.“, flüsterte sie hasserfüllt, „Es ist nun an dir die Art deines Todes zu wählen.“. Dann trat sie etwas zurück und wartete. Sie konnte sehen wie er hinter der schmerzverzerrten Maske seines Gesichts nachdachte. Nur wenige Minuten vergingen, in denen nur die nächtlichen Geräusche des Waldes und das einsame Tropfen seines Blutes auf dem Boden zu hören waren. Dann krächzte er mit gebrochener Stimme: „Was willst du wissen?“

Am nächsten Morgen wusch sich Shanna das getrocknete Blut in einem nahen See vom Körper. Sie hatte dem Mann einen gnädigen Tod gegeben, nachdem er ihr alles gesagt hatte, was sie wissen wollte. Tatsächlich hatten jene Männer ihren Vater getötet auf Veranlassung von Tuirean Llastobhar. Warum er dessen Tod wollte, konnte er ihr nicht sagen, aber er hatte ihr eine Information gegeben, welche sie mehr als alle andere beunruhigte. Tuirean hatte die Männer nun ausgeschickt, um Sorcha und sie selbst zu entführen. Was für eine Teufelei steckte hinter dem Plan ihres Onkels?
Später an diesem Tag machte sie sich auf den Weg. Sie musste ein Auge auf ihre Mutter und Niall haben. Sorcha konnte sehr gut auf sich aufpassen. Als sie in den vertrauten Wäldern ihrer Heimat ankam, fasste sie einen Plan, welcher schmerzvoller für sie kaum sein konnte. Schon seit mehr als einem Jahr war sie nun von zu Hause fort und man nahm bestimmt an, dass sie den Tod gefunden hatte. Sicherlich litt ihre Mutter sehr unter diesem weiteren Verlust, aber es war zu gefährlich für Arienh, Sorcha, Niall und auch für sie selbst, wenn sie nun zu ihnen ging. Tuirean sandte mit großer Wahrscheinlichkeit weitere Männer, nachdem er von dem Tod der anderen erfahren hatte. Vielleicht würde er ihre Mutter und Niall verschonen, wenn sie nichts über ihren Aufenthaltsort wussten. Am besten war es sie unbemerkt zu bewachen.
So verweilte sie ganze drei Jahre in der Nähe ihres Heimathauses, unbemerkt und einsam. Sie wanderte durch die Wälder und erfüllte jene Pflichten, die ihr Vater einstmals inne gehabt hatte. Sie beobachtete den kleinen Niall wie er größer wurde und sah ihm zu, wenn er im Garten spielte. Manchmal schnitzte sie ihm kleine Holzfigürchen, welche sie ihm nachts in den Garten legte, dennoch wagte sie nie mit ihrer Mutter oder ihm zu sprechen. Sorcha war zur Garde gegangen, sicherer konnte sie wohl kaum sein. In dieser Zeit wurde ihre Gewissheit, dass Tuirean seinen Plan wohl verworfen hatte, immer größer. An dem Morgen, als sie beschloss zu ihrer Familie zurückzukehren, erinnerte sie sich jedoch wieder an den Schwur, den sie ihrem toten Vater geleistet hatte: „Ich werde deinen Mörder finden! Niemals soll mein Geist Ruhe finden, bevor ich die Ungerechtigkeit an dir, an Arienh, an Sorcha, an dem kleinen Niall und mir nicht gerächt ist!“. Die Worte klangen in ihrem Kopf und zwangen ihre Füße umzukehren. Sie hatte noch etwas zu tun, ehe sie in ihr altes Leben zurück konnte – Tuirean.

Wenige Wochen später stand sie abermals vor jenem vornehmen Herrenhaus und blickt die Zinnen empor, welche wie riesige Eiszapfen in den Himmel ragten. Sie schluckte schwer. In der kleinen Taverne des Dorfes ließ sie sich nieder und begann einen Brief an ihre Mutter zu schreiben. Sollte sie heute Nacht den Tod finden, verdiente Arienh zumindest eine Erklärung. Einige Seiten kamen zusammen, auf welchen sie berichtete, was sie bisher herausgefunden hatte, wo sie all die Jahre gewesen war und wie sehr sie sich wünschte, dass Arienh ihr verzeihen möge. „Heute Nacht werde ich mich in das Haus Tuireans schleichen und ihn töten. Sollte ich nicht zurückkehren, hat mein Plan nicht funktioniert und ich werde tot sein, ehe du diesen Brief in Händen hältst. Ich wünschte, ich könnte alles ändern, ich wünschte, all das wäre nie passiert. Vergib mir meinen Stolz! In unendlicher Liebe, Shanna.“. Sie bat den Wirt den Brief bei nächster Gelegenheit einem vorbeiziehenden Boten mitzugeben und reichte ihm ihr restliches Gold. Dann setzte sie sich an den Waldesrand und beobachtete wie die Sonne als roter Ball hinter dem Horizont verschwand und gedachte all ihrer Lieben. Als sich einzelne Sterne wie kleine dorthin gehauchte Perlen am Himmel funkelten, erhob sich Shanna und huschte in den Schatten zum Herrenhaus Tuireans und seiner Familie. Rasch erklomm sie die Mauer und eilte durch den dunklen Garten. Sie kletterte einige Efeuranken hinauf auf den Balkon im ersten Stock. Sie wusste, dass Tuirean in dem Zimmer schlief, welches an den Balkon grenzte, lange genug hatte sie die Familie heimlich beobachtet. Sie lächelte, als sie sah, dass die Tür offen stand. Sehr vorsichtig betrat sie die Kammer, hatte bereits einen Pfeil auf den Bogen aufgelegt. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch zwang sie sich zur Ruhe. Plötzlich wurde es hell um sie herum. Für eine Sekunde setzte ihr Herzschlag aus, dann wieder Dunkelheit.

Als es wieder heller wurde und sie die Augen öffnen konnte, spürte sie zunächst nur den Schmerz in ihrem Kopf. Er dröhnte, pochte und brannte. Dann nahm sie langsam Schemen um sich herum wahr. Ein düsteres Zimmer... ein Hocker... eine Tür. Es dauerte noch einige Minuten ehe sie es schaffte ihren Oberkörper in eine aufrechte Position zu bringen ohne, dass sie vom Schwindelgefühl übermannt wurde. Dann blickte sie sich langsam in dem dämmrigen Raum um. Sie lag auf einem muffigen Strohlager am Boden. Die Wände waren aus Stein, ebenso wie der Boden. Fenster hatte der Raum keine. Auf dem kleinen dreibeinigen Hocker lag eine Scheibe Brot und ein Krug Wasser. Schnell lief Shanna zur Tür, nur um nach dem plötzlichen Aufstehen kurz davor zusammenzubrechen und nur noch bunte Punkte vor ihren Augen tanzen zu sehen. Sie griff blind nach der Türklinke. Verschlossen... Was war nur geschehen? Schließlich rollte sie sich am Boden neben der Tür zusammen und schlief vor Erschöpfung wieder ein.
Als sie das nächste Mal erwachte, spürte sie sofort, dass Jemand im Raum war. Sofort sprang sie auf. Auf dem kleinen Schemel saß der Mann gegen den sich all ihr Zorn, all ihr Hass konzentrierte, der Mann, der ihr Leben aus allen Fugen gerissen hatte – Tuirean. Er saß seelenruhig da und las etwas. Schockiert erkannte Shanna den Brief an ihre Mutter. Da hob der Mann den Kopf und lächelte sie sanft, ja fast einfühlend an. „Herzzerreißend!“, mit mitleidiger Miene schüttelte er den Kopf, „Schade, dass meine Schwester ihn niemals erhalten wird.“. Shannas Unterlippe zitterte, als sie einige Worte hervorpresste: „Du... DU hast meinen Vater töten lassen!“. Tuirean verzog etwas die Miene, als hätte man ein Kind beim Lügen erwischt, bevor er mit einem Schulterzucken meinte: „Ja.“ „WARUM?“, schrie Shanna nun. „Er war nicht würdig eine Llastobhar zu ehelichen.“ „WER BIST DU, DASS DU DENKST ÜBER DIE WÜRDIGKEIT EINES MENSCHEN ZU ENTSCHEIDEN?“, spie sie ihm entgegen. All die Bilder ihres toten Vaters, die Leere ihrer Mutter, das Leid ihrer Schwester und ihres eigenen unendlichen Schmerzes stiegen in ihr auf. Tuirean machte eine Handbewegung als würde er einige lästige Fliegen verjagen. „Deine Mutter hat den falschen Weg eingeschlagen. Sie ist eine Llastobhar, sie hatte Pflichten!“. Kurz schimmerte in seinen unergründlichen Augen so etwas wie Wut auf, ehe sich wieder ein Schleier über seinen Blick legte. „Wie es aussieht, hat sie auch dir keine Manieren beigebracht. Doch das wird sich nun ändern...“, er machte ein kurze Pause und lächelte finster, „Natürlich darf keiner wissen, was du herausgefunden hast. Das verstehst du sicherlich. Mein Ruf steht auf dem Spiel. Und hier behalten kann ich dich leider auch nicht... Ich habe ein paar neugierige Kinder im Haus. Ich werde dich leider woanders hin bringen lassen müssen.“. Er seufzte und lächelte dann wieder zu dem Mädchen, welches wortlos und zitternd vor ihm stand. Dann erhob er sich und pochte gegen die Tür. „Mögest du zerbrochen und einsam sterben, Tuirean Llastobhar.“, flüsterte sie. „Noch nicht, mein Kind, noch nicht.“, gab er zurück und verließ die Kammer.
Shanna blieb zurück in der Einsamkeit der Dunkelheit, zerbrochen war ihr Geist, ihre Gedanken kreisten sich immer und immer wieder um das zuvor Gesagte. Endlich erlaubte sie sich zu weinen – sie weinte um ihren Vater, um ihre Mutter, ihre Familie, ihre Anstrengungen, welche alle umsonst gewesen zu sein schienen, um ihr Leben, ihre Seele. Viele Stunden schluchzte sie in die Finsternis ihres Gefängnisses. Dann fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

Kurz nachdem sie wieder erwacht war, kamen einige Wächter und fesselten sie und stülpten ihr einen Sack über den Kopf. Shanna ließ es über sich ergehen, ihr Geist war an einem weit entfernten Ort. Sie wurde durch einige Gänge geschubst, irgendwann roch sie die frische Luft der See und am Schwanken des Bodens konnte sie erahnen, dass sie sich auf einem Schiff befand. Wohl mehrere Tage war das Schiff auf See, sie hörte von Zeit zu Zeit die Rufe der Matrosen, das Kreischen von Seemöwen, die dem Schiff folgten und den Wind, welcher die Segel blähte. Irgendwann erklang der Ruf: „Land in Sicht.“, und wenig später wurde sie wieder von der Planke hinunter auf Land geführt. Man brachte sie in einen Kellerkerker, wo ihr der Sack und die Fesseln abgenommen wurden und man sie allein ließ.
An die darauffolgende Zeit erinnerte sich Shanna später nur noch schemenhaft. Sie musste wohl etwa zwei Jahre an jenem Ort gewesen sein. Von Zeit zu Zeit wurde sie aus ihrer Zelle geholt und ihr wurden Arbeiten aufgegeben, aber das geschah eher selten. Ohne besonderen Grund wurde sie an die Wand gekettet und ausgepeitscht, aber manchmal vernahm Shanna amüsiertes Lachen. Sie konnte sich erinnern auf einem Tisch gefesselt gewesen zu sein, worum einige vermummte Gestalten standen und leise flüsterten und Sätze sprachen, die sie nicht verstand. Ihre Tage bestanden aus Schmerzen, Demütigungen, doch sie befand sich die meiste Zeit in einem Zustand geistiger Umnachtung. Nachts schienen die Wände ihrer Zelle näher an sie heranzukriechen und sie zu umdrängen, manchmal schrie sie, manchmal weinte sie, doch die meiste Zeit schwieg sie. Später besuchte sie nachts von Zeit zu Zeit ein Geist mit weißen Haaren und blasser Haut, der Freude an ihrem Zustand zu finden schien, sie verlachte und mit Worten quälte. Manchmal schien er auch Gefallen daran zu finden ihr mit seinem Messer die Hände und den Hals zu zerschneiden. Shanna war meist unfähig sich zu wehren, doch in ihrem Kopf formten sich Bilder davon wie sie ihm das Gesicht zerriss und seinen Körper zerschmetterte. Allein die Gedanken an Arienh, Sorcha und Niall hielten sie am Leben. Wo mochten sie sein? Hoffentlich ging es ihnen gut...

Eines Nachts im Spätsommer kam wieder einmal jener Geist zu Shanna und lächelte auf sie herab, während sie nach Luft schnappend auf ihrer Pritsche lag. „Einen wunderschönen guten Abend, Shanna, meine Liebe!“, begrüßte er sie mit sanfter Stimme. Sie wollte etwas sagen, ihm ins Gesicht schreien, ihn schlagen, verletzen, doch es kam nur ein leiser Seufzer über ihre Lippen. „Lass uns nach draußen gehen...“, flüsterte er. Er machte eine Handbewegung und Shanna spürte wie etwas Kraft in ihren Körper zurückkehrte. Der Geist half ihr aufzustehen und führte sie die Stufen hinauf.
Die sanfte Kühle des Spätsommerwindes strich Shanna über die Wangen, spielte mit den Strähnen ihrer schneeweißen Haare und brachte ihrem Geist etwas Frische und Wachsamkeit zurück. Der Geist warf einen Blick auf Shanna, ihre blasse Haut, das weiße Haar... Sie war schwach und krank, fast gebrochen, nur noch wenige Monde und sie würde willenlos werden. Der Geist erlaubte sich ein kühles Lächeln. Shanna wand ihren Kopf und erblickte die bekannten dunklen Zinnen der Stadt Rahal. Keiner der dunkel gekleideten Wachposten, deren schwere Schritte sonst immer über das Pflaster der Stadt bis in ihr unterirdisches Gefängnis hallten, war zu vernehmen. „Lass uns etwas spazieren gehen.“, erklang die Stimme des Geistes und umfasste ihren geschwächten Körper, um sie zu stützen. Ihren stolpernden Schritten angepasst, schritt er langsam neben ihr her. „Ich möchte dir gerne einen Vorschlag machen.“, begann er schließlich ruhig zu sprechen. Augenblicklich schnellte die Wachsamkeit in Shannas Geist nach oben. „Es ist nicht so, dass du eine Wahl hättest, doch ziehe ich es vor, wenn du freiwillig auf meine Seite trittst.“ Shanna erblickte das weite, offene Meer, das sich vor ihnen ausbreitete. Er setzte sie auf eine Bank und nahm dann neben ihr Platz. Von Jahren des Schweigens eingerostet, erklang Shannas Stimme krächzend: „Weshalb sollte ich das tun? Nur gequält hast du mich, gefoltert...“. Als er ihr antwortete, erkannte Shanna mit Sehnsucht und schließlich Schrecken über ihre eigenen Gefühle, dass seine Stimme so sanft, so weich, so unendlich verführerisch im Gegensatz zu ihrer eigenen erklang, einen solchen Gegensatz zu seinen Taten, zu ihren Qualen bildete, dass sie fast gewillt war, sich seiner Wärme und Stärke anzuvertrauen. „Ohne mich wärest du schon längst tot, längst kalt und begraben. Doch ich kann dich herausführen aus all den Schmerzen, der Kälte, deiner Qual! Ich fordere nur deine Treue, deine bedingungslose Ergebung!“ Fast schon war Shanna soweit sich in seine Arme zu werfen, ihm alles zu schwören, was er hören wollte, als ein anderer Gedanke ihren Geist wie ein kühler Windstoß durchfuhr.
Es war die Erinnerung, die Erinnerung an frohe Zeiten. Und mit der Erinnerung stiegen die Gesichter ihrer Familie in ihr auf, die sie schon zu vergessen begonnen hatte. Gesichter, Bilder, Namen, Augenblicke der Liebe und Geborgenheit. Es war ihr Recht, ihr uneingeschränktes Recht, jenes wieder einzufordern, zu lange hatte sie nun gelitten, genug für hundert Leben. Und mit dieser Erinnerung, mit diesem Verlangen, erwachte ihr kämpfender Geist, ihr noch ungebrochener Wille. Erschreckt und überrascht von dem Wandel in Shannas Gedanken, welchen der Geist fast augenblicklich wahrnahm, weitete er die Augen. Allein von ihren Verlangen, von ihrem unendlichen Willen aufgerichtet, erklang Shannas gebrochene Stimme laut und klar, als sie aufsprang und von ihm zurückwich: „Du bist Gift! Niemals wirst du mich besitzen, weder meinen Körper, noch meinen Geist. Ich ziehe den Tod dem Verlust meiner Seele vor!“. Nun war auch der Geist aufgesprungen und begann ein Netz aus seinen Künsten zu weben, um das Mädchen wieder unter seinen Willen zu zwingen und einzufangen. Shanna wand sich um und begann zu rennen, ihre weißen Füße flogen über das dunkle Gras, einige Rufe erschallen. Sie rannte über den Steg und sprang. Als ihr Körper in das kalte Wasser des Meeres eintauchte, fühlte sie endlich einen Hauch der Freiheit.
Der Geist warf sein Netz der Magie, es sank ins Wasser. Mehrere Wachposten waren mittlerweile herbeigeeilt und schossen unablässig Pfeile in die Wellen. Es konnte sie unmöglich verfehlt haben, niemals zuvor war ein Mensch seiner Magie entkommen. Warum also... WARUM war Shanna Llastobhar nicht wieder aufgetaucht, um zu ihm zurückzukehren? Wütend und zornig, doch auch beeindruckt von Shannas offensichtlicher Stärke, richtete Kailen Llastobhar seinen Blick auf den fernen Horizont. Shanna war stärker als er gedacht hatte...

Shanna tauchte durch das schwarze Wasser, die Luft brannte ihr in den Lungen, ihre Arme und Beine schmerzten und in ihrem Kopf pochte unaufhörlicher Schmerz und dennoch konnte sie sich nicht erinnern sich jemals freier und stärker gefühlt zu haben. Erst als sie beinahe ohnmächtig zu werden drohte, tauchte sie durch die Wasseroberfläche und die Luft strömte ihr schmerzhaft in die Lungen. Rahals Zinnen ragten in einiger Entfernung schwärzer als die Nacht selbst in den Himmel. Nur einen kurzen Blick wagte sie, ehe sie in Richtung des bewaldeten Ufers schwamm. Das Salzwasser brannte in ihren offenen Wunden als sie sich an Land zog. Aus ihrer Wade und ihrem Rücken ragte je ein Pfeil, welcher durch das Wasser ihr Ziel gefunden hatte. Keuchend lag die junge Frau auf dem Strand. „Weiter, du musst weiter! Du bist viel zu nah, hier werden sie dich finden!“, jagte ihr durch den Kopf und so zwang sie sich auf ihre Füße und stürmte in den Wald. Bäume eilten an ihr vorüber, Geräusche drangen an Shannas Ohr, doch nichts nahm sie wahr. Sie wurde nur von ihren Gedanken vorwärts getrieben... Sie rannte so lang bis sie nicht mehr konnte, dann hielt sie an, um die Pfeile abzubrechen und einige Blätter um die Wunden zu wickeln, damit keine Blutspur sie verriet. Etwas langsamer machte sie nun ihren Weg, um ihre Spuren zu verwischen. Erst am späten Abend des darauffolgenden Tages gönnte sie sich eine längere Pause, um etwas zu essen, zu trinken und zu ruhen.
Einige Tage lang wanderte Shanna durch die Wälder, ehe sie eine kleine Hafensiedlung – Bajard – erreichte. Erst in der Nacht betrat sie es und schlich sich auf ein Schiff, welches in ihre Heimat segelte. Dort angekommen, schleppte sie sich mit letzten Kräften zu dem Haus ihrer Mutter Arienh. Und so kam es, dass Shanna Llastobhar an einem Abend im Herbst des Jahres 250 auf der Türschwelle ihres Heimathauses zusammenbrach und Arienh ihre Tochter zurück erhielt, welche nach langer Krankheit erwachte und schließlich ihrer Schwester Sorcha und ihrem Bruder Niall nach Gerimor folgte. Ein Schritt in die Zukunft und Vergangenheit.
 Nach oben »
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Alathair - Online Rollenspielshard Foren-Übersicht » Chargeschichten » Gefangene Freiheit
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen Alle Zeiten sind GMT + 1 Stunde
Seite 1 von 1

 
Gehe zu:  
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht mitmachen.




phpBB theme/template by Tobias Braun
Copyright © Alathair



Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group
Deutsche Übersetzung von phpBB.de