Nicht mehr

[Tommen Liske]

Scheißdreck

Ein Apfel landet auf dem Boden, wenn er vom Baum fällt. Sonnenschein wird früher oder später von Regen abgelöst. Auch der friedlichste Hund beißt irgendwann, wenn man ihn nur häufig genug tritt. Und die eigene Kotze schmeckt nie gut. Diese Dinge sind wie sie sind und werden sich auch nicht ändern, bis die Welt irgendwann an sich selbst zugrunde geht. Menschen allerdings, die sind ein ganz anderes Kaliber und weit weniger berechenbar.

"Scheißdreck!" Atemlos presste sich der magere Bursche an die rauen Mauersteine und versuchte über die eigenen keuchenden Atemzüge hinweg, auf etwaige näherkommende Schritte zu lauschen – nichts - zumindest nicht im Augenblick. Aber es würde gewiss nicht lange dauern. Er zog die Hand von seiner brennenden Seite und spie beim Anblick des blutigen Zeugnisses zur Seite aus. "Wo hat sich diese stinkende Ratte verkrochen?!" Der Ruf ließ ihn zusammenschrecken.

Tommen fuhr hoch und packte sich an den pochenden Schädel. "Scheißdreck." Im schummrigen Licht des ersten Morgengrauens sah die Spelunke ganz anders aus als zu ihren geschäftigeren Zeiten am Abend, wenn warmes Licht und lebendiges Stimmengewirr den Raum füllten. Nur mühsam kam er auf die Beine und schlurfte in Richtung Tür. Draußen kroch der Nebel vom Meer her kommend durch die Gassen der Hafensiedlung und bis auf einen streunenden Hund und eine Handvoll Möwen, die sich um Fischreste prügelten, war keine Bewegung wahrzunehmen. Umso besser. Er verrichtete seine Notdurft und sah für einige lange Minuten hinab auf das Wasser, das gegen die Uferkante schwappte. Seine Zunge fühlte sich pelzig und viel zu dick an, jede Bewegung jagte Schmerzwellen durch seinen Kopf und wieder einmal war er sich sicher, dass das Wort 'Morgengrauen' nicht von dem Grauton kam, der in dieser Zeit die ganze Welt überzog, sondern von dem Grauen, dass einen überkam, wenn man zu dieser Zeit aufstand – insbesondere mit einem Kater. Er beschloss den Tag noch nicht in Angriff zu nehmen, sondern sich noch einmal auf der Decke in der Ecke der Spelunke einzurollen.



"Tommen?" Das leise Flüstern an seinem Ohr war vertraut und so musste er den Kopf gar nicht drehen um zu wissen, wer da neben ihm im Halbdunkel kauerte. Er nickte zum Zeichen, dass er zuhörte. Doch das Zupfen an seinem Ärmel schien unzufrieden mit seiner spärlichen Reaktion. "Tommen, sie hab'n Bojar erwischt." Sein Blick ruckte zur Seite auf das halb verhungerte Mädchen mit den viel zu großen Augen. "Scheißdreck." Durch den Dreck auf ihren Wangen zogen sich Tränenspuren und sie schien nur mit Mühe ein Schluchzen zurückzuhalten. Ein Kloß bildete sich in seinem Magen und er presste die Zähne zusammen, bis ein Knirschen zu hören war. Dann schlag er die Arme um das Mädchen und presst sie fest an sich. "Ich hab dich. Atme."

Ihm war wirklich kein ruhiger Morgen in der Spelunke beschieden. Er drückte das Gesicht in das Kissen und schrie.